Erster Verhandlungstag im Fall Mouhamed Dramé endete nach 30 Minuten

Staatsanwaltschaft bewertet Einsatz von Reizgas, Tasern und Maschinenpistole als ungerechtfertigt

Die Angeklagten im Gerichtssaal des Landgerichts Dortmund. Foto: Karsten Wickern

Ein kurzer Verhandlungstag eröffnete am Dienstag (19. Dezember 2023) den Prozess gegen fünf der am Einsatz beteiligten Polizeikräfte im Fall des getöteten Senegalesen Mouhamed Lamine Dramé. Die Staatsanwaltschaft erklärte, dass sie den Einsatz der Taser, des Reizgases und der Maschinenpistole als ungerechtfertigt ansehe. Der Rechtsanwalt Christoph Krekeler verlas zum Schluss der Verhandlung ein Statement seines Mandaten. Die Erklärung des mutmaßlichen Schützen sorgte sowohl bei der Rechtsanwältin der Familie Dramé, als auch bei anwesenden Prozessbeobachter:innen für Unverständnis.

Oberstaatsanwalt Carsten Dombert schilderte die Ereignisse vom 8. August 2022

Der erste Prozesstag im Fall des bei einem Polizeieinsatz getöteten senegalesischen Geflüchteten Mouhamed Lamine Dramé endete schnell, nach weniger als einer halben Stunde. Zu Beginn verlas Oberstaatsanwalt Carsten Dombert die Anklageschrift vom 9. Februar 2023 und schilderte umfangreich den Tathergang:

Der Tatort auf dem Kirchengelände der Jugendeinrichtung in der Holsteiner Straße. Foto: Paulina Bermúdez

Am 8. August 2022 um 16.27 Uhr erreichte die Polizeikräfte per Funkdurchsage die Information, dass sich ein Bewohner der Jugendeinrichtung in der Holsteiner Straße mit einem Messer im Innenhof aufhielte und voraussichtlich suizidale Absichten verfolge.

Als die Polizei eintraf, zuerst unter anderem der angeklagte Einsatzleiter, befand sich Mouhamed Lamine Dramé in einem von drei Seiten eingegrenzten Standort im Innenhof. Zum einen grenzte der Aufenthaltsort des Jugendlichen an zwei Seiten an die Kirchen- und Gebäudemauer, zur anderen Seite in Richtung der Missundestraße befand sich ein Zaun mit Metallspitzen. ___STEADY_PAYWALL___

Der Einsatzleiter ordnete die Mischbewaffnung für den Einsatz an

Zeug:innen teilten den Polizist:innen mit, dass der Jugendliche nur Französisch und etwas Arabisch verstehe und ein Messer gegen sich selbst richtete. Daraufhin legte der Einsatzleiter den Einsatzplan fest. Er ordnete an, dass die zivilen Kräfte Kontakt aufnehmen sollten, falls dies nicht funktioniere, solle Reizgas eingesetzt werden. Scheitere dies ebenfalls, sollten die Beamt:innen von Distanzelektroimpulsgeräten (Tasern) Gebrauch machen. Zur Sicherung nahmen die Polizist:innen eine Maschinenpistole mit, der mutmaßliche Schütze erklärte sich für den Posten des Sicherungsbeamten bereit.

Der Einsatzleiter (l.) ordnete die Mischbewaffnung der Beamt:innen an. Foto: Karsten Wickern

Einer der insgesamt vier in zivil gekleideten Beamt:innen näherte sich dem Jugendlichen, der sich die Klingenspitze an den Bauch hielt. Der Beamte sprach ihn auf Deutsch an und pfiff, Mouhamed L. Dramé reagierte, indem er kurz den Blick hob. Daraufhin näherte sich ein weiterer Beamter in ziviler Kleidung und sprach den Jugendlichen auf Spanisch mit den Worten „Hallo, sprichst du Spanisch?“ an. Mouhamed L. Dramé reagierte nicht. Diese Feststellung gaben die zivilen Beamten an die Polizeibeamt:innen weiter.

Etwa drei bis vier Meter von Mouhamed L. Dramé entfernt befanden sich hinter dem Zaun auf der Missundestraße Polizeibeamt:innen. Auf dem Innenhof der Jugendeinrichtung hielten sich ebenfalls Einsatzkräfte auf. Etwa sechs bis sieben Meter entfernt von dem Jugendlichen stand der Sicherungsbeamte. Oberstaatsanwalt Carsten Dombert beschreibt die Lage zu diesem Zeitpunkt als „statisch“.

Abschuss der Taser fast zeitgleich mit den sechs Schüssen aus einer MP5

Mehrfach ordnete der Einsatzleiter an, das Pfefferspray einzusetzen. Ohne vorherige Vorwarnung sprühte eine angeklagte Polizistin das Reizgas durch die Gitterstäbe des Zauns, sie drückte den Abzug sechs Sekunden lang. Das Pfefferspray verteilte sich auf dem Kopf des Opfers, das sich mit der Hand über den Kopf wischte und sich in Richtung des Innenhofs drehte.

Der Sicherungsbeamte und mutmaßliche Schütze muss sich vor dem Landgericht verantworten. Foto: Karsten Wickern

Mouhamed L. Dramé begab sich wenige Schritte in Richtung der einzigen Ausgangsmöglichkeit, weiterhin mit dem Messer in der Hand. Ohne vorherige Ankündigung setzten dann zwei Beamt:innen die Distanzelektroimpulsgeräte (Taser) ein. Nur ein Pfeil des ersten Tasers traf den Jugendlichen, weshalb kein geschlossener Stromkreis und somit keine Wirkung entstand.

Die Pfeile des zweiten Tasers trafen Mouhamed L. Dramé am Unterbauch und am Glied. In einem zeitlichen Abstand von unter einer Sekunde feuerte der mutmaßliche Schütze dann sechs Schüsse aus der Maschinenpistole vom Typ Heckler & Koch MP5 ab, die laut Anklage auf Einzelfeuer stand.

Das Opfer trafen fünf Schüsse an der Hose in Höhe des Oberschenkels, in den Bauch unterhalb des Nabels, an der Rückseite der rechten Schulter, in das Gesicht auf der rechten Seite unterhalb des Jochbeins und in der Beugseite des rechten Unterarms. „Bei der Schussabgabe nahm der Angeschuldigte einen tödlichen Verlauf durch die Schüsse billigend in Kauf“, erklärte Dombert. Der mutmaßliche Schütze verzog während den Schilderungen keine Miene.

Anklage: Einsatz von Reizgas, Taser und Schussabgabe ungerechtfertigt

Durch die zeitgleich mit der Polizei alarmierten Rettungskräfte wurde der Jugendliche in das Klinikum Nord gebracht. Medizinische Notfallmaßnahmen wurden dort umgehend eingeleitet. Mouhamed Lamine Dramé starb am 8. August 2022 um 18.02 Uhr an den Folgen des Schusswaffeneinsatzes.

Oberstaatsanwalt Carsten Dombert und Staatsanwältin Gülkiz Yazir. Foto: Karsten Wickern

„Der Einsatz des RSG8 (Anm. der Redaktion: Reizgas), der DEIG (Anm. der Redaktion: Distanzelektroimpulsgerät, Taser) und der MP5 erfolgten jeweils ohne einen rechtfertigenden Anlass“, teilte Oberstaatsanwalt Carsten Dombert abschließend mit. Daher seien die Verbrechen und Vergehen strafbar.

Rechtsanwältin Lisa Grüter, die die Familie Dramé in der Nebenklage vertritt, stimmt der Einschätzung der Staatsanwaltschaft in Gänze zu. Sie ist sich sicher, das der Einsatz von Anfang an rechtswidrig war und es sich um einen Fall von Polizeigewalt handelt. Kritisch sieht sie insbesondere die ersten eingesetzten Mittel, die die Kette von Handlungen auslösten.

Erste Aussagen der Beschuldigten könnten unter Umständen nicht verwertbar sein

In dem Verfahren ist daher nun der Polizist, der den 16-jährigen Mohamed L. Dramé bei dem Polizeieinsatz am 8. August 2022 in der Dortmunder Nordstadt erschossen haben soll, wegen Totschlags angeklagt. Drei Beamt:innen sind wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt angeklagt. Ihnen wird in einem Fall der ungerechtfertigte Einsatz von Pfefferspray und in zwei weiteren Fällen der ungerechtfertigte Einsatz von Distanzelektroimpulsgeräten zur Last gelegt. Ihrem Dienstgruppenleiter wird vorgeworfen, sie zu diesen gefährlichen Körperverletzungen im Amt angestiftet zu haben.

William Dountio vom Solidaritätskreis „Justice4Mouhamed“ am Rande der Kundgebung. Foto: Karsten Wickern

Richter Thomas Kelm verkündete im Anschluss an das Verlesen der Anklageschrift, dass sämtliche Zeugenaussagen der angeklagten Polizeibeamt:innen potentiell nicht verwertbar seien. Grund sei, dass die Beschuldigten eingangs nicht als solche vernommen worden seien, sondern lediglich als Zeug:innen. Konkret würde dies bedeuten, dass die Angeklagten erneut aussagen müssten.

William Dountio von der zivilgesellschaftlichen Initiative Solidaritätskreis „Justice4Mouhamed“ organisierte die Kundgebung vor dem Landgericht mit. Ab 12 Uhr fanden sich dort – trotz des Dauerregens – etwa dreißig Personen ein, die Gerechtigkeit für den getöteten Jugendlichen forderten und auf den Wunsch der Familie aufmerksam machten, am Prozess teilnehmen zu können. Dountio nahm die Nachricht des Richters mit Besorgnis zur Kenntnis: „Ich wünsche mir, dass, wenn die Angeklagten neu aussagen müssen, die Vernehmungen gründlich durchgeführt werden“, äußerte er.

Erklärung des mutmaßlichen Schützen zur Anklage sorgte für Empörung

Rechtsanwalt Christoph Krekeler vertritt den mutmaßlichen Schützen. Er verkündete kurz vor Schluss der Verhandlung, eine Erklärung zur Anklage seines Mandanten verlesen zu wollen. „Mein Mandant und seine Familie sind durch dieses Strafverfahren sehr belastet. Mouhamed Dramé hat durch ihn sein Leben verloren. Als sich Mouhamed Dramé erhob und sich mit einem Messer in der Hand in Richtung der Polizeibeamten begab, empfand das nicht nur mein Mandant als bedrohlich.

Rechtsanwalt Christoph Krekeler vertritt den mutmaßlichen Schützen. Foto: Karsten Wickern

Die Ermittlungen haben ergeben, dass auf Mouhamed Dramé daraufhin ohne Absprache und nahezu zeitgleich geschossen wurde, und zwar zuletzt sowohl aus einem DEIG, als auch aus der Maschinenpistole meines Mandanten. In dieser Situation kam es meinem Mandanten auf die Hautfarbe von Mouhamed Dramé überhaupt nicht an“, teilte er mit. Ein Raunen ging durch die Reihen der Prozessbeobachter:innen, vereinzelt war ungläubiges Schnauben zu hören.

Rechtsanwältin Lisa Grüter äußerte sich zu dem Statement des mutmaßlichen Schützen. Foto: Karsten Wickern

Rechtsanwältin der Nebenklage Lisa Grüter antwortete auf die Frage, wie sie das Statement des mutmaßlichen Schützen bewerte: „Das ist dramatisch. Wir sprechen hier von der Tötung eines jungen Menschens und das Einzige, was der Angeklagte dazu zu sagen hat, ist, wie seine Familie davon belastet ist. Ich weiß nicht, was er damit bezwecken möchte. Der Familie Dramé geht es auch schlecht, denn sie hat ein Kind verloren, einen Bruder verloren.“

Die Rechtsanwältin erklärte, dass der Schütze auch das Leid der Familie des getöteten Senegalesen anerkennen könne, selbst wenn er sich auf sein Notwehrrecht berufe. Grüter ergänzte: „Da ist ein Mensch tot. Und selbst wenn er juristisch dafür nicht zu belangen ist, trägt er trotzdem Verantwortung.“

Auch William Dountio zeigte sich fassungslos und überrascht: „Wenn man eine Person erschossen hat und dann ein Statement macht, sollte man um Verzeihung und Versöhnung bitten, um Frieden für die Familie der Person.“ Dountio bemängelte, dass der Schütze nur sein eigenes Leid hervorgehoben habe und fragt „Wo ist der Platz für die Familie Dramé in diesem Statement?“

Er ergänzte: „Die Familie, die auf solch eine brutale Art und Weise 8.000 Kilometer von hier entfernt ihren Sohn, Bruder und Cousin verloren hat. Wo ist der Schmerz und die Empathie für sie? Das habe ich da nicht gehört, deswegen war es einfach eine Frechheit.“

Weitere Informationen:

  • Der Solidaritätskreis „Justice4Mouhamed“ plant, an jedem weiteren Prozesstag eine Kundgebung vor dem Landgericht auf der Kaiserstraße zu veranstalten.
  • Der nächste Verhandlungstag ist für den 10. Januar 2024 um 9.30 Uhr angesetzt.

 

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