Foto: Sandra Danneil für nordstadtblogger.de

Liebe Leser und Leserinnen und alle daneben und dazwischen,

Zu Beginn ein Gedankenexperiment: Stellen Sie sich einmal vor, Sie wachen morgens auf und die Welt ist stumm – kein Radio, keine Zeitung, kein Internet. Sie gehen auf die Straße und die Schilder zeigen nur leere Flächen, der Name auf ihrem Klingelschild ist verschwunden und über den Ladenfenstern prangen leere Leuchtkästen. Sie gehen zur U-Bahn und die Station bleibt namenlos und auch, wohin es gehen soll. Niemand spricht und Sie werden übermannt von einer wortlosen Stille, die im Geräusch des Stadtlärms erstickt. Sie sind allein. Aber sind Sie überhaupt?

SPRACHE IM WANDEL DER ZEIT

„Sprache ist der Schlüssel zur Welt“, wusste schon Wilhelm von Humboldt. Der umtriebige Humanist beschrieb damit die menschliche Fähigkeit, sich die Welt zu erschließen, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und sich Wissen anzueignen. Ohne Sprache, wusste er deshalb auch, gibt es keine Kultur, weil es keine Geschichte gäbe. Ohne Sprache verlieren Menschen die Orientierung und damit auch Sicherheit und Geborgenheit. Mit dem Verlust der Sprache hätten Menschen keine Identität, denn erst Sprache verleiht uns und der Welt Bedeutung. Ohne Sprache können Gesellschaften nicht existieren – nicht sein.

Sprache befindet sich stets im Wandel. Sie ist lebendige Materie, wird von den Menschen einer Gesellschaft permanent weiterentwickelt und reagiert damit auf kulturelle Einflüsse. Schillers „Ode an die Freude“ von 1782 ist dabei nur eine etwas verkrustete Ausdrucksweise des zeitgemäßeren YOLO für ‚You only live once‘. Das umgangssprachliche Akronym aus dem Englischen schaffte es schon 2012 zum deutschen Jugendwort des Jahres. Zu einer anderen Zeit wurde aber viel ernsterer Unsinn mit Sprache getrieben.

SPRACHE ALS POLITIKUM: VON DEN NAZIS ZU DEN FEMINISTINNEN

Die Nazis, zum Beispiel, installierten Sprache als politisches Instrument zur Festigung ihrer totalitären Machtausübung. Dabei etablierte man eine verbindliche und unmissverständliche Parteisprache. Nach dem Machtantritt der Nazis in Berlin machte diese Sprache NS-Ideologie zum Schulfach. Von dort aus floss eine in Stein gemeißelte, verzerrende Weltanschauung in die Allgemeinsprache. Hier war „das deutsche Volk“ eine singuläre Einheit und „der Jude“ undifferenziert formuliertes „Ungeziefer“.

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Wie fühlt es sich also an, wenn Sprache gezielt dazu eingesetzt wird, Menschen auszugrenzen und sie zu stigmatisieren? Aktivistische Intellektuelle des Second Wave Feminism der 1960er und 1970er Jahre machten es sich zur Aufgabe, Sprache auf ihre geschlechtsspezifische Diskriminierung zu untersuchen.

Sie erkannten, dass z.B. eine patriarchal gefärbte Regulierung grammatischer Leitsätze eine männlich zentrierte Sprache versteifte. In anderen Worten: Das männliche Pronomen „er“ feierte eine lange Alleinherrschaft in den Gesellschaften der Welt. Die männliche Form galt lange Zeit als üblich.

DER MASKULINE IMPERATIV WAR DIE NORM, ABER NIE NORMAL

Der maskuline Imperativ verursachte selbstverständlich eine ganze Menge anderer Üblichkeiten: Während die veraltete Anrede „Fräulein“ in Deutschland bis 1972 auf den kinderlosen, unverheirateten Status einer durch die Endung ‚lein‘ verniedlichten Frau verwies, gab es für Männer kein solches Äquivalent. Selbst gängige formelle Anredeformen kennen im Deutschen – wie auch in anderen Sprachen – nur zwei Geschlechter: männlich und weiblich. „Herr“ verweist semantisch auf den gesellschaftlichen Status, während die weibliche Anredeform „Frau“ diese auf ihr Geschlecht reduziert.

Nur weil dies ein – eben formell – selbstverständlicher Teil unserer Alltags- und Behördensprache ist, bedeutet dies nicht, dass dieser Teil die Sache nicht unnötig verkompliziert. Dinge, die uns als allzu gewohnt vorkommen, verweisen häufig auf das „ Allgemeingültige“, „Naturgegebene“ und „Normale“. Gerade die Mainstream-Medien verwenden Sprache, um auf die Sichtbarkeit von gesellschaftlichen Anliegen hinzuweisen, über Inhalte zu informieren und ihren Leser:innen, Zuhörer:innen und Zuschauer:innen die Welt zu erschließen.

DER NEUE FEMINISMUS: ZWISCHEN GENDER GAGA UND IDEOLOGIE BLABLA

Das Weiterentwickeln von Sprache bedeutet mit ihr sichtbar zu machen, was unzeitgemäß, gesellschaftliches Konstrukt und das Gegenteil von „normal“ ist. Sprache weckt unser Bewusstsein für die Zwischentöne im kakophonen Sprachdschungel, der seit einiger Zeit gerne als „Gender Gaga“ bezeichnet wird.

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Der Begriff wurde von der Buchautorin Birgit Kelle geprägt. Mit ihrem als „Ratgeberliteratur“ gelabelten Buch Gender Gaga: Wie eine absurde Ideologie unseren Alltag erobern will schleift sie 2015 die Klinge, die in den kommenden Jahren die Gesellschaft spalten wird.

Bereits im Vorwort postuliert Kelle ihre Position: „Gender Mainstreaming ist überall“. Den vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) als „strategischen Ansatz zur Förderung und Durchsetzung der Gleichstellung“ (heute aller, damals) beider Geschlechter definierten Leitsatz, degradiert Kelle zu einer „aberwitzigen Ideologie“, für die, und darum geht es ihr, „wir alle fleißig mit zahlen“.

Die digitalen Medien nennen sie die „Wutmutter eines neuen Feminismus“ (Cicero.de 2023) und es ist keine Überraschung, dass ihr Name in Verbindung mit der AfD steht, denn gemeinsam mit Beatrix von Storch will sie die Anti-Gender-Bewegung in Deutschland vorantreiben. Kelle verfolgt eine antiliberale Sexualmoral und ein reaktionäres Frauenbild, mit dem sie in innenpolitisch, bei Gottesdiensten und Talk-Shows provoziert. Die rhetorische Wortklauberei der Publizistin mag den ein oder anderen an propagandistische Sprachlenkung erinnern, mit der sie polarisiert, Kampfbegriffe etabliert und dem Feind einen Namen gibt: Gender Gaga ist die „schleichende Umerziehung aller Deutschen“, meint sie.

‚GENDERN‘: SCHLEICHENDE UMERZIEHUNG DER GESELLSCHAFT ODER NEUES SPRACHBEWUSSTSEIN?!

Damit liegt sie gar nicht mal so falsch. „Sprache formt unsere Gedanken. Dazu gehören auch das Binnen-I und Gendersternchen“, schreibt Schriftstellerin Sibylle Berg 2021 in ihrer SPIEGEL-Kolumne. Schließlich macht es der Duden vor. So wie der Wortschatz ständig wächst, gibt es auch immer sogenannte Vintage-Wörter, die aus dem Duden aussortiert werden. So geschehen zuletzt 2020, als die Redaktion 300 Wörter strich, weil sie inzwischen entweder ungebräuchlich (z.B. Hackenporsche oder Wolfsrachen) oder schlicht ungebraucht sind (z.B. Vorführdame oder Bäckerjunge).

Sucht man im Duden dafür nach der Bedeutung von „Gendern“, gibt es eine ganze Fülle an Artikeln zum gesuchten Sprachwissen, die auf folgender Einsicht basieren: „Das Deutsche bietet eine Fülle an Möglichkeiten, geschlechtergerecht zu formulieren. Es gibt dafür allerdings keine Norm,“ heißt es im ersten Eintrag.

Denn mit dem „Gendern“ in der Sprache verhält es sich heute keineswegs mehr so wie es einst bei der Rechtschreibreform war. Es fällt den meisten inzwischen vermutlich eher ins Auge, wenn Medien bewusst auf eine inklusive Sprache verzichten, als dass sie ‚dass’ mit oder ohne ‚ß‘ schreiben, wie es einige große deutsche Medienhäuser noch lange nach Durchsetzung der Rechtschreibreform praktizierten.

EINE PERSON IST NIE GESCHLECHTSLOS: GENDER-FLUIDE SPRACHE UND DIE MEDIEN

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Mit der gesetzlichen Änderung des Personenstandsgesetz 2018 wurde es, nach §§22 und 45b „Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ ermöglicht, sich nicht mehr als geschlechtslos (wie seit 2013), sondern nun als divers eintragen zu lassen.

Infolge der Demontage des binären Geschlechtssystems, sah man in den Mainstream-Medien ab etwa 2020 zunehmend häufiger den Genderstern oder den Gender-Doppelpunkt und hört hier auch immer öfter den glottalen Gender-Gap.

Egal welche Variante die Hausorthographie für ihre Nachrichten vorsieht – sie alle „sollen die geschlechtliche Vielfalt auf der sprachlichen Ebene verdeutlichen“, informiert die Website „Genderleicht“. Der Journalistinnenbund rief das ehrenamtliche Projekt 2018 ins Leben, um Medienschaffenden „Impulse und Hilfestellungen zu einer gendersensiblen Arbeitsweise im Alltag zu geben“. Bei dieser Arbeit werden sie vom Bundesministerium für Familie, Senioren und Jugend gefördert.

MAN GENDERT ODER LÄSST ES! – THE NEW NORMAL

Die von Genderleicht erarbeiteten Anregungen stoßen aber nicht selten auf gereizte Reaktionen der Bevölkerung. Menschen äußern sich genervt über alles, was mit dem Thema „Gender“ zu tun hat. „Es ist sicher so, dass es für viele Menschen wichtigere Themen gibt, als weibliche Personen oder Menschen, die sich zu keinem Geschlecht zugehörig fühlen, anzusprechen, zu stärken, oder Jugendlichen eine neue Normalität zu zeigen“, meint Autorin Sibylle Berg. Aber dank des demokratischen Systems, in dem wir uns bewegen, haben wir die Wahl: Man gendert oder lässt es.

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Wir lassen es nicht! Für eine sprachliche Gleichbehandlung verwendeten Die Nordstadtblogger schon das Binnen-I, den Genderstern und auch den Unterstrich bis man sich zuletzt auf den Gender-Doppelpunkt einigte. Das Bewusstsein für einen sprachsensiblen Umgang ist von Anfang an wesentlicher Bestandteil der journalistischen Compliance der Nordstadtblogger. Selbst wenn der Rat für deutsche Rechtschreibung Genderzeichen grammatikalisch als „rechtschreibwidrig“ bezeichnet.

Daher achten wir in unseren Texten ebenfalls auf einen inklusive Schreibstil, der „Menschen“, „Personen“ oder „Leute“ anspricht, ohne jemanden auszuschließen oder hervorzuheben. Auch das Partizip bietet einen Kompromiss, mit dem Studentinnen und Studenten längst zu „Studierenden“ geworden sind und „Fachkraft“ statt „Fachmann” selbstverständlich macht.

NOMEN EST KEIN OMEN: WARUM DIE ENGLISCHE SPRACHE HILFT

Häufig ernten wir für diesen Umgang reaktionären Protest, weil der Name „Nordstadtblogger“ ungegendert sei. „Blog“ ist ein Kofferwort aus dem Englischen, das die Wörter Web und Log für „Logbuch“ miteinander kreuzt.

Das Weblog-Phänomen nahm Erfolgskurs erstmals um die Jahrtausendwende und wurde als innovative journalistische Praxis maßgeblich von dem Amerikaner Peter Merholz geprägt. Auf seiner Seite Peterme.com erinnert der Webdesigner der ersten Stunde: „For What It’s Worth: I’ve decided to pronounce the word ‚weblog‘ as wee’-blog. Or ‚blog‘ for short.“ Das war 1999 und betonte schon damals die damit verbundene, kollektive Praxis und nicht das Geschlecht einer Person.

Im Englischen gibt ohnehin nur in wenigen Fällen Endungen, die das Geschlecht benennen. Dadurch sind die meisten Bezeichnung gender neutral. Der „teacher“ steht gleichermaßen für Lehrerin und Lehrer. Möchte man das Geschlecht betonen, ist ein adjektivisches „male“ oder „female“ nötig. Allerdings gibt es, wie im Deutschen, geschlechtsspezifische Berufsbezeichnungen wie „Stewardess“ oder „postman“, die immer häufiger ersetzt werden, z.B. mit „flight attendant“ oder „mail carrier“.

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„ALL MEN ARE CREATED EQUAL?“ – WARUM BEWUSSTES NICHT-GENDERN MANCHMAL KLARHEIT SCHAFFT

Selbstverständlich gibt es auch Sexismus in der englischen Sprache. Wenn es in der amerikanischen Konstitution heißt „all men are created equal“, sei es aufgrund der Zweideutigkeit dahingestellt, ob im 18. Jahrhundert damit neutral alle Menschen oder eigentlich nur das männliche Geschlecht die gleichgestellte Schöpfung darstellte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Nordstadtblogger verstehen ihre Tätigkeit des ‚bloggen‘ als inklusiv, weil der Name eine Gruppe von Menschen benennt, die – ungeachtet ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft – ein gemeinsames ehrenamtliches Interesse verfolgen. Dass wir in diesem Fall auf ein Gender-Morphem und den -Doppelpunkt verzichten, hat mit folgender Einsicht zu tun. Weiblichkeit mit einem ‚in‘ am Ende der Berufsausübung anzuzeigen, bedeutet gleichzeitig, dass wir Menschen anderer Herkunft, sexueller Identität oder Glauben auch sichtbar machen müssen. Allerdings gibt es im Deutschen kein Morphem für Hautfarbe, Orientierung oder Religion.

Mit der Beibehaltung unseres Namens halten wir es daher mit dem verbreiteten Leitsatz: Der Weg zur Gleichheit ist Gleichheit. Die Nordstadtblogger sind der Plural, der seine journalistische Praxis als wertneutral und objektiv definiert. Während die Stilrichtlinien in unseren Texten dem Zeitgeist deutscher Sprachentwicklung folgen, verhindert die englische Sprache, dass Die Nordstadtblogger Unterschiede und damit Ungleichheit zementieren. Die Zeiten sind längst vorbei, dass gegenderte Berufsbezeichnungen wie actress (statt nur actor) oder male nurse (statt nur nurse für Krankenschwester) auf die Tatsache verweisen, dass sie auch dem anderen Geschlecht offen stehen. Im Sinne der englischen Sprachökonomie treten wir als Die Nordstadtblogger deshalb für mehr Gleichheit und Neutralität im Online-Journalismus ein.

Von Dr. Sandra Danneil


Nordstadtbloggerin Dr. Sandra Danneil Foto: Alex Völkel für Nordstadtblogger.de

Zur Person: Sandra Danneil arbeitet als PostDoc am Institut Anglistik/Amerikanistik an der TU Dortmund. 2019 promovierte sie zu den Halloween-Episoden der Simpsons, die sie einer ausführlichen kulturwissenschaftlichen Analyse unterzog.

Als studierte Film- und Fernsehwissenschaftlerin unterrichtet sie neben Seminaren in amerikanischer Geschichte vor allem alles, was mit dem Horrorfilm zu tun hat. Gemeinsam mit Studierenden unterhält sie einen Instagram-Account und Spotify-Podcast namens „Fear Academy“. In ihrem Habilitationsprojekt beschäftigt sie sich mit alten und neuen medialen Formen populärer Dystopien.

Seit März 2023 ist sie ehrenamtlich für die Nordstadtblogger unterwegs. Sandra Danneil lebt seit 1999 in ihrer Wahlheimat Dortmund und ist seit 2008 ein Fels in der Nordstadtbrandung. Ihre Interessen liegen in kultur-medienspezifischen sowie sozial- und genderpolitischen Themen.

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