Verfassungsschutz stuft Dortmunder Szene als „kaum mehr existent“ ein

Gleichzeitig soll Dorstfeld mit „JN-Stützpunkt“ Anlaufstelle für Neonazis im Ruhrgebiet werden

Die Dortmunder Szene freut sich zur Zeit über jungen Zuwachs. Archivfoto: Leopold Achilles

Im kürzlich veröffentlichten Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2023 stufen die Sicherheitsbehörden die rechtsextreme Szene in Dortmund als „kaum mehr existent“ ein. Die „Heimat Dortmund“ reagiert nun mit der Gründung eines Standortes der „Jungen Nationalisten“ in Dorstfeld, um einen westdeutschen „Stützpunkt“ der „Heimatjugend“ und somit eine Anlaufstelle für junge Neonazis zu schaffen. Iris Bernert-Leushacke vom zivilgesellschaftlichen Bündnis „Blocka-Do“ erklärt, wieso die Darstellung des Verfassungsschutzes Gefahren birgt und wie sich die Szene derzeit um Zuwachs bemüht.

Wegzüge und Sackgassen: Wie geschwächt ist die rechtsextreme Szene in Dortmund?

Dortmund-Dorstfeld – Jahrzehntelang galt der Stadtteil als Neonazi-Hotspot in Westdeutschland. Aufmärsche, ein hohes Mobilisierungspotential, Gewaltausbrüche und Bedrohungsszenarien zeichneten die Szene aus. Doch nun teilten die Sicherheitsbehörden im Verfassungsschutzbericht aus dem Jahr 2023 mit, inzwischen sei eben diese Szene „zerschlagen“. Entspricht dies der Realität und wie steht es eigentlich um die Dortmunder Neonazis?

Die Neonazis marschierten von der Nordstadt zum Sonnenplatz. Archivfoto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Iris Bernert-Leushacke, Pressesprecherin des Dortmunder Bündnisses „BlockaDo“ erinnert sich an die Entstehungszeit: „Seit den 1990er Jahren haben sich in Dortmund sehr viele Neonazis angesiedelt. Bedingt durch billigen Wohnraum und willige Vermieter ist in Dortmund Dorstfeld eine Szene entstanden.“ Diese rechtsextreme Szene sei stetig im Wandel, so habe man im nach dem Kameradschaftsverbot im Jahr 2012 mit der Gründung der Partei „Die Rechte“ versucht, auf parlamentarische Ebene Einfluss zu nehmen.

Mit der Pandemie habe sich die Szene noch einmal mehr gewandelt, wichtige Protagonist:innen – „Ideengeber“ – seien weggezogen. Zuletzt fusionierte „Die Rechte“ mit der Konkurrenz, der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD), zur Partei „Die Heimat“. „Es ist ihnen nie so richtig gelungen, in Dortmund Fuß zu fassen“, resümiert Bernert-Leushacke. Sie ergänzt: „Gleichzeitig darf man aber nicht vergessen, dass diejenigen, die der Szene weiterhin angehören, ausgesprochen brutal und militant sind, das hat sich im vergangenen Jahr deutlich gezeigt.“

Deutlicher Zuwachs von Jugendlichen im vergangenen Jahr besorgniserregend

In der Nacht vom 19. auf den 20. Mai 2023 griffen vier vermummte Neonazis im Bereich der Brückstraße in der Dortmunder Innenstadt mehrere wohnungslose Menschen an, prügelten eines der Opfer in ein Schaufenster, skandierten „white power“. Am Wochenende darauf soll ein Neonazi einer queeren Person in einem Geschäft gegen den Hinterkopf geschlagen haben. Im September wird auf einem Instagram-Account, der mutmaßlich einem jungen Neonazi zuzuordnen ist, ein Foto gepostet, auf dem eine Schusswaffe auf das Dortmunder Büro der „Grünen“ gerichtet wird.

Der Lauf der Waffe ist auf die Kreisgeschäftsstelle und das Wahlkreisbüro der Grünen gerichtet.
Der Lauf der Waffe ist auf die Kreisgeschäftsstelle und das Wahlkreisbüro der Grünen gerichtet. Foto: Screenshot Instagram

Aber wer sind die Täter? „Rund um den seit November untergetauchten und mit Haftbefehl gesuchten Neonazi Steven Feldmann hat sich eine Gruppe Jugendliche gebildet, für die er eine Art brüderliche Vorbildsfunktion erfüllt“, erklärt die Pressesprecherin von „BlockaDo“. ___STEADY_PAYWALL___

Problematisch sei, dass eben diese Jugendlichen nach Anerkennung und einem Platz in der Szene strebten, die Konsequenzen ihrer Taten noch nicht einschätzen könnten und dadurch unberechenbar seien.

„Ich erinnere an Sven Khalin“, sagt sie. Im Jahr 2005 treffen in der Dortmunder U-Bahn-Station Kampstraße der Punker Thomas Schulz und der damals 17-Järhige Neonazi Sven Khalin aufeinander. Zunächst kommt es zu einer verbalen Auseinandersetzung.

Ein tödlicher Kurzschluss folgt: Der Jugendliche ersticht den 31-Jährigen Thomas „Schmuddel“ Schulz. „Im März letzten Jahres fanden sich zahlreiche Graffiti mit der Aufschrift ,Hoch lebe Sven Khalin‘ und ,Thomas Schulz 2.0′ an einem von Jugendlichen beliebten Ort in Dortmund“, berichtet die Bernert-Leushacke.

„Stützpunkt“ der Jugendorganisation „JN“ soll Anlaufstelle für Neonazis im Ruhrgebiet werden

Zuletzt machten die teils minderjährigen Jugendlichen im Januar diesen Jahres auf sich aufmerksam. Am Rande einer antifaschistischen Demonstration, die sich gegen den Neujahrsempfang der AfD richtete, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen drei Neonazis und den Protestierenden, bei der die Rechten Reizgas einsetzten.

Auf Telegram verkündete „Die Heimat“ die Gründung eines „JN“-Standorts in Dorstfeld. Mit dabei: KdN Organisator Alexander Deptolla. Foto: Screenshot Telegram

Kurz später zeigten etwa zehn junge Neonazis ein Banner mit der Aufschrift „Steven erreicht mit jedem Live mehr als ihr mit eurer Demo“.Die Polizei wertete dies als nicht angemeldete Versammlung und erstattete Strafanzeige.

Gleichzeitig kommentierte der flüchtige Neonazi Feldmann in Echtzeit die Geschehnisse: „Jungs bleibt stark, ich freu mich, wenn ihr nachher wieder draußen seid, lasst euch nicht ärgern. Alles keine Gegner.“ Denn was schon Reichsjugendführer Baldur von Schirach begriff, weiß auch die Szene: Die Jugend ist die Zukunft einer jeden Organisation.

Iris Bernert-Leushacke stellt fest: „Das Anwerben und Radikalisieren von Jugendlichen für die Dorstfelder Szene ist in vollem Gange.“ So verwundert es die Dortmunderin auch nicht, dass die „Heimat Dortmund“  am 20. April 2024 – also an Adolf Hitlers Geburtstag – bekannt gab, einen „Stützpunkt der Jungen Nationalisten“ in Dortmund-Dorstfeld zu gründen.

Mit dem neuen Standort der „JN“, der Jugendorganisation der „Heimat“, will die Szene jungen Rechtsextremist:innen „eine Anlaufstelle und ein Dach“ im Ruhrgebiet ermöglichen.

Verbindungen zu „Combat18“, „Knockout 51“ und dem internationalen „Hammerskin“-Netzwerk

„Wir können personelle Verbindungen zu den ,Hammerskins‘ und ,Combat 18′ feststellen, zudem solidarisiert sich die Szene mit den angeklagten Mitgliedern der rechtsterroristischen Gruppierung ,Knockout51′ aus Eisenach. Steven Feldmann reiste mit einem jugendlichen Gewalttäter zum Prozessauftakt nach Jena“, erklärt Iris Bernert-Leushacke.

Das Thema Kampfsport und dazugehörige Events wie der „Kampf der Nibelungen“ spielen in der Szene eine große Rolle. Foto: Screenshot Facebook
Das Thema Kampfsport und dazugehörige Events wie der „Kampf der Nibelungen“ spielen in der Szene eine große Rolle. Foto: Screenshot Facebook

Der Verfassungsschutz informiert auf seiner Website: „Die größte europäische organisationsübergreifende Kampfsportveranstaltung in der rechtsextremistischen Szene ist der ,Kampf der Nibelungen‘ (KdN), der erstmalig 2013 (…) von Mitgliedern der ,Hammerskins‘ ins Leben gerufen wurde.“

Organisator dieses Kampfsportevents ist Alexander Deptolla. Der Neonazi ist Teil der Dortmunder Szene – obgleich er nicht mehr in Dortmund wohnt – und soll als Gastredner bei der Gründung des Dorstfelder „JN“-Standortes aufgetreten sein.

Die Hammerskins sind ein 1986 in den USA gegründetes Neonazi-Netzwerk, das in mindestens zehn europäischen Ländern aktiv ist, teilt die „Bundeszentrale für politische Bildung“ mit. Die militante Elite der internationalen „Naziskinhead-Bewegung“ ist für ihre Gewalttätigkeit gegen gesellschaftliche Minderheiten gefürchtet: 2012 erschoss ein Hammerskin-Mitglied sechs Menschen in einem Sikh-Tempel in Wisconsin. In Deutschland lassen sich auch Verbindungen der Hammerskins zur Terrorgruppe NSU finden, so die „BpB“.

„Einzelne, nicht organisierte Rechtsextremisten“: VS stuft Szene als „zerschlagen“ ein

Seit Anfang des Monats muss sich der Dortmunder Neonazi Robin S. gemeinsam mit drei weiteren Angeklagten vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf verantworten. Den Rechtsextremisten wird vorgeworfen, hinreichend verdächtig zu sein, „gegen ein Vereinigungsverbot verstoßen zu haben, indem sie als Rädelsführer den organisatorischen Zusammenhalt einer unanfechtbar verbotenen Vereinigung (,Combat 18 Deutschland‘) aufrechterhielten“.

Robin S. mit „Combat18″ T-Shirt. Archivfoto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Bei ,Combat 18 Deutschland‘ handelt es sich um eine rechtsextremistische Vereinigung und einen Ableger der in Großbritannien aktiven Gruppierung ,Combat 18′. Das Bundesinnenministerium führte zur Begründung des Verbots an, dass „Combat 18“ rassistisch, antisemitisch und fremdenfeindlich ausgerichtet und „mit dem Nationalsozialismus wesensverwandt“ sei.

Wie kann es also sein, dass der Verfassungsschutz die Dortmunder Szene als „zerschlagen“ einstuft und mitteilt, es handele sich nur noch um „einzelne, nicht organisierte Rechtsextremisten“? Iris Bernert-Leushacke stellt abschließend fest: „Die Szene ist und bleibt gefährlich. Ja, es hat Wegzüge gegeben, gleichwohl ist die Szene bestensfalls vernetzt, bemüht sich um Nachwuchs und bleibt militant. Ich hoffe, dass die Sicherheitsbehörden trotz der fragwürdigen Einschätzung ein aufmerksames Auge auf Dortmund Dorstfeld haben werden.“

Weitere Informationen: 

  • Mehr Informationen der „Bundeszentrale für politische Bildung“ zum Thema „Hammerskins“ gibt es hier: www.bpb.de
  • Mehr Informationen des Verfassungschutzes zum „Kampf der Nibelungen“: www.verfassungsschutz.de

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Reaktionen

  1. Ulrich Sander (VVN-BdA)

    Dieser VS-Bericht stellt eine Verharmlosung der Neonaziszene dar. Verharmlosungen der Nazis in Dortmund gibt es immer wieder. Der Neofaschismus in Dortmund sei gescheitert, sagt man, und verurteilte rechte Akteure laufen frei herum. Bei dem einer verstorbenen bundesdeutschen Nazigröße, Siegfried Borchardt, gewidmeten Trauermarsch habe sich das »letzte Aufgebot« der Rechten gezeigt. Wie das? Borchardt lebt zwar nicht mehr, aber Matthias Helferich ist sehr lebendig. Er nennt sich das »freundliche Gesicht des NS« und einen »demokratischen Freisler«. Er wurde in den Bundestag gewählt, und er verbindet die offen faschistische Szene mit seinen AfD-Kreisen. Die AfD-Basis ist vielerorts beim Neofaschismus angekommen. Und in Dortmund gibt es weitere Aktivitäten eines Ausbaus der sehr rechten Infrastruktur: Es gibt rechte Vorfälle bei der Polizei mit ihren neonazistischen Chatgruppen, ein nie aufgeklärtes Waffenlager in Lütgendortmund, Verbindungen zu einem Neonazischießstand in Mecklenburg-Vorpommern. Derweil werden die Printmedien immer lautloser, was die Rechtsentwicklung anbetrifft. Die Stadtleitung verzögert seit langer Zeit die Umbenennung einer Emil Kirdorf Siedlung – Kirdorf war einer der ersten Finanziers der Nazis – im Stadtteil Dortmund-Eving.

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