„Ich Europa“ – ein hochpolitisch-verstörender Blick von außen auf die „glückselig abgeschottete“ Insel Europa

Friederike Tiefenbacher und Uwe Schmieder aus dem Ensemble von "Ich Euopa. Fotos Birgit Hupfeldt
Friederike Tiefenbacher, als erste Europa, und Uwe Schmieder aus dem Ensemble von „Ich Europa“. Fotos Birgit Hupfeldt

Von Gerd Wüsthoff 

Hochpolitisch, ein Blick von außen auf Europa und was ist Europa? Die EU oder mehr? Wo beginnt Europa? Wo hört es auf? Jeder, der es sich in seiner eurozentristischen Welt bequem gemacht hat, sollte sich in das Theaterstück „Ich Europa“ im Schauspiel in Dortmund begeben. Selbstbild und Fremdbild sind zwei Welten, die selten Deckungsgleich sind, teilweise voneinander so weit entfernt wie Andromeda und Milchstraße. Nicht nur für selbstkritischer Menschen ein Must-see.

„Ich Europa“ ein Bühnenstück, eine Wortkomposition, für alle, denen Europa am Herzen liegt

„Ich Europa“ ist erhellend, auch wenn es zuweilen quälend sein kann, zu realisieren was Europa auch neben einem einmaligen Friedensprojekt sein kann. Es ist nicht immer angenehm wenn das Selbstbild von außen anders wahrgenommen wird. Sich dieses Fremdbild anzuhören/-schauen ist nicht immer bequem. Es setzt das eine oder andere bewunderte, gepflegte und gehegte Bild, auch eigene Vorurteil in das richtige Licht.

Regisseur Marcus Lobbes ließ, mit seinen Dramaturgen Michael Eickhoff und Matthias Seier, den SchauspielerInnen sehr viel Freiraum und Individualität für die ambivalenten Texte wie auch deren Darstellung.

v.l. Uwe Schmieder Christian Freund Friederike Tiefenbacher Alexandra Sinelnikova
v.l. Uwe Schmieder, Christian Freund,  Friederike Tiefenbacher, Alexandra Sinelnikova

Das Ensemble erarbeitete gemeinsam als Team das Stück aus den elf Texten der elf AutorInnen. Die Texte mussten zum Teil, zuerst übersetzt, auf das wesentliche für die Bühne „eingedampft“ werden, wobei sie aber die Handschrift ihrer Autoren nicht verloren haben. Es wurde daraus keine simple Aneinanderreihung, sondern in sich schlüssig und rund. Zum Teil verstörend, aufrüttelnd, nachdenklich, erhellend.

Was ist Europa? Geographisch wird die Landmasse vom Ural im Osten bis zur Atlantikküste, begrenzt im Norden durch das Arktische Meer und im Süden durch das Mittelmeer und den Kaukasus begrenzt. Gerade das Mittelmeer war aber in geschichtlicher Zeit nicht eine Grenze sondern die Transitautobahn zwischen dem was die Phoenizier Europa nannten, Asien – Naher Osten (Libanon/Palästina), wo sie ihren Ursprung haben und Nordafrika. Ideen, Güter und Menschen nutzten diesen damals verbindenden Ozean.

Europa und Asien verbindet seit je eine lange Beziehung von fruchtbarer Koexistenz und konfliktreichem Streit. Nähe und Distanz, Liebe und Hass verbinden Morgenland – Naher Osten/Asien, Abendland – Europa und Afrika, insbesondere das Judentum, den Islam und das Christentum noch heute. Die ersten Europäer, kamen aus dem „Fruchtbaren Halbmond“ auf diesen Kontinent, den wir heute Europa nennen. Unsere europäische Kultur wurzelt im Orient und ist immer wieder auch durch ihn beeinflusst worden.

„Ich, Europa“ lädt zum Perspektivenwechsel ein – und Begegnung mit gemeinsamer Geschichte

„Ich Europa“ erzählt aus einer für Europäer unvertrauten Perspektive Bruchstücke dieser Liebes-, Leidens- und Entwicklungsgeschichte zwischen Afrika, Orient und Okzident.

Die elf AutorInnen (aus der Türkei, Kurdistan, Iran, Libanon, Syrien, Afghanistan, Algerien und Bosnien) lassen in ihren Texten die fiktive Figur Europa sprechen. Dadurch das Lobbes dem Ensemble viel Freiraum zur eigenen Auseinandersetzung mit den Texten ließ, entstand der schlüssige Eindruck, dass die jeweiligen Schauspieler mit dem Text Eins waren oder sin

Christian Freund Uwe Schmieder Alexandra Sinelnikova
Christian Freund, Uwe Schmieder, Alexandra Sinelnikova

Frederike Tiefenbacher, stimmig in ihrem bronze-gold-farbenen Kostüm mit Gloria-Punkfrisur, eröffnete als Europa, die von Zeus, als Stier getarnt, geraubte Tochter des phoenizischen Königs Agenor, den Reigen der Monolge.

Man nimmt ihr den Text („Europa Hypohondrija“ von Nermina Kukic, Montenegro), ruhig, nachdenklich, kritisch, der von sich sich selbst gestressten Europa als den Eigenen ab – Tiefenbacher war in dem Moment Prinzessin Europa, eine alte, müde Frau. Am Ende von sich selbst ermattet bleibt sie auf dem Stier liegen. Dem Mythos nach gründete ihr Bruder Kadmos , Europa suchend, das sagenumwobene Theben. Europa wuchs aus Vorasien hervor.

Der Genderwechsel, der Europa zu einem Mann (Christian Freund) werden lässt, kam zuerst buddhistisch inspiriert, inklusive Meditations-Klangschale, hier kann man den asiatischen Einfluß erkennen. Die Kelten und Minoer kamen aus Asien nach Europa, später die Hunnen – die Völkerwanderung auslösend, und im zwölften und 16. Jahrhundert dann die Tatren. Anis Hamdoun aus Homs, jetzt Berlin, lässt Europa seinen Geburtstag feiern, wobei neben den Glückwünschen Europa auch kritische Fragen erreichen. Eine Europa verstörende Selbstreflexion.

Der Genderwechsel ist besonders in Zeiten von #MeToo wichtig und nötig

Alexandra Sinelnikova Uwe Schmieder
Alexandra Sinelnikova, Uwe Schmieder

Der Genderwechsel vollzieht sich später noch mal, poetisch und ruhig erscheint Europa als „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Alexandra Sinelnikova fordert ruhig, aber um so eindringlicher, mehr Empathie und Fraternität in Okzident und Orient.

Der Text stammt von Yasmina Khadra (aus Kenadsa, lebt jetzt in Aix-en-Provence). Im neunten „Aufzug“ ist es dann, furios von Konflikten und Problemen zerzaust, sinnbildlich, mit zerschlissenem „Tiefenbacher-Kostüm“ und „wilden“ Haaren, Ekkehard Freye mit dem Text von Iman Humaydan (aus Ain Aanoub, jetzt in Paris im Exil).

Europa schaut auf ihr Bild von sich mit Angst auf die Zukunft. Sie muss trotz allem ihren selbst gesetzten Idealen folgen – es gibt keinen anderen Ausweg. Es geht auch um die Glaubwürdigkeit – Europa erhielt mal den Friedensnobelpreis! Die Glaubwürdigkeit ist um so wichtiger, da Europa-kritische Populisten und populistische Nationalisten zunehmend Anhänger finden. Polen, Ungarn, Italien, Katalonien und nicht zuletzt im glänzend isolierten „Königreich der Brexiten“.

Ekkehard Freye

Genau diese Passagen im Genderwechsel, besonders die von Ekkehard Freye wären nicht glaubhaft gewesen, weil sie ansonsten als frauenfeindlich hätten angesehen werden könnten.

Gerade der Auftritt von Freye hat nur so funktioniert. „Ich bin Europa“ von Iman Humaydan, das zerschlissene Kostüm, die wild, zerzausten Haare, sie stimmten wie die Faust auf dem Auge zu dem Text. Die Ideale und Träume sind mindestens so zerzaust wie das Kostüm. Aber, es muss mit genau diesen Idealen und Träumen weitr gehen. Egal welches Bild man von Europa auch haben mag.

Und überhaupt, im Film und auf der Bühne können Frauen Männer und umgekehrt darstellen. Genauso wie LGBTQ Menschen eine/n Straight Character darstellen können.

Geflüchtete Menschen sind die Opfer europäischer Überheblichkeit und Arroganz

Uwe Rohbeck Uwe Schmieder
Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder

Uwe Rohbeck spricht den Text von Yavuz Ekinciaus Batman, Istanbul, als Wiedergänger. Ein altes germanisches und keltisches Motiv der „Untoten“ – Zombies. Hier stellvertretend zuerst für Toten des Balkankrieges der 1990er, aber auch des kolonialen Expansionsdranges.

Björn Gabriel als Journalist spricht mit ihm aus dem Off. Es ist wortreich und quälend zugleich. Die Interpretation des Textes von Ismail Küpeli „Kein Achill, kein Hector, keine Helden“ von Uwe Schmieder dagegen gerät dagegen zu einer Frustrationsekstase.

Mit jedem Satz wird Schmieder in seinem Vortrag frustrierter, eindringlicher, erregter, wütender und anklagender. Es entsteht Unbehagen. Zuschauer rutschen nervös in den Sitzen. Ein Gefühl von körperlicher Bedrängtheit, verursacht durch eigenes (Europa, hier im Besonderen Deutschland) im Grunde verwerfliches Handeln.

Die alten Waffenbestände der „übernommenen“/abgewickelten „DDR“ gingen aus geostrategischen Gründen, es drängten damals die USA, an die Armee der Türkei, die damit ihren Bürgerkrieg gegen die Kurden „aufpeppte“.

Gabriel spielt und spricht eindringlich „Die Flut und die Türme“ von Burhan Qurbani. Es ist die Lebensgeschichte im Europa des Kalten Krieges hin zum Europa der Gegenwart, gefangen zwischen Traum, der Utopie der Einheit Europas, und der harten Wirklichkeit des aktuellen, zerrissenen Europa.

Barocke Überheblichkit und naive Friedensbraut als Spiegel Europas

Bettina Lieder
Bettina Lieder

Dann erscheint plötzlich Pippa Bacca, fröhlich und in all ihrer an Naivität grenzenden Aktionskünstlerin, als die „Friedensbraut“ von Mustaffa Öztürk, eindrucksvoll gespielt von Bettina Lieder. Lieder taucht ihre Hand in Blut und begrüßt mit dieser Hand per Handschlag einige aus dem Publikum.

Bacca reiste, erzählt von Lieder, als Braut gekleidet durch den Südosten Europas in die Türkei, wo sie ihren Tod durch Mord erfuhr. Bacca als Exempel, Spiegel vielleicht, für die Naivität der „Pax Europae“? Sind wir, die wir an ein gemeinsames, in Frieden und Wohlstand lebendes Europa glauben auch so naiv? Haben wir eine Chance dazu? In einer scheinbar immer verrückter werdenden Welt?

Mit elf SchauspielerInnen steht fast das gesamte Ensemble des Schauspiel Dortmund auf der Bühne. Die Texte sind radikal subjektiv und zeigen zwischen Zorn und Leidenschaft eine Trans-kontinentale Nahaufnahme: Wo steht Europa? Oder fällt es bereits? Ist das Projekt Europa an den nationalen Egoismen gescheitert?

Marlena Keil
Marlena Keil

Marlena Keil, als „Europa – Kaiserin Maria Theresia“ interpretiert in barocker Pracht „Der Tod eines Handlungsreisenden“ von Tanja Slijivar (ursprünglich aus Banja Luka, jetzt Belgrad), in der Europa eigenen Überheblichkeit und kolonialen Arroganz über die Beziehung zum Islam. Zwei Mal standen die Türken vor den Toren von Wien, um dann mit den Siegen Prinz Eugens, vor Maria Theresia, den Niedergang des Osmanischen Reiches in Europa einzuleiten.

Die Kreuzzüge des Mittelalters sind die Grundlagen unseres heutigen Unverständnisses des Islam. Die Siege Eugens allerdings sind die Grundlagen für das spätere koloniale Überlegenheitsgefühl, das gepaart mit der Angst vor Terror, in fast allen in Europa als Vorurteil wabert.

Unsere Köpfe sind rund, damit sich die Richtung unserer Gedanken auch ändern kann

Merle Wasmuth
Merle Wasmuth

Merle Wasmuth erscheint als Videoprojektion auf dem niedergegangen Vorhang mit „Ein deutscher Name“ von Sudabeh Mohafez, ursprünglich aus Teheran, jetzt in Schwäbisch Hall lebend.

Sie verweigert sich schlicht und provokant der Aufgabe sich an dem Projekt zu beteiligen – sie verbrennt am Ende das Schreiben mit dem Ansinnen. „Europa, ohne mich!“ Ihr Gang, am Ende, vorbei an allem Protagonisten des Stückes endet mit dem Öffnen der Tür zum Zuschauerraum.

Sind wir die Zuschauer gemeint? Wir sind Teil dieses Europa. Wir tragen die Verantwortung für das grandiose Projekt, das uns einst von den USA inspiriert „auferlegt“ wurde. Genau die USA, die heute Angst vor einem wirtschaftlich starken Europa hat und nicht erst seit der Finanzkrise (Eurokrise) mit allen Mitteln klein halten will.

Uwe Schmieder Björn Gabriel
Uwe Schmieder, Björn Gabriel

Europäische Autonomie verhinderten die USA seit Installation, des für uns wichtigen Verteidigungsbündnisses NATO. Bis hin zur Ausspionierung seiner Verbündeten. Und jetzt hat die Welt „America First“ Trump, der das Bündnis in Frage stellt, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite gibt es den angeschossenen Bären Russland mit Putin und den längst erwachten chinesischen Drachen.

Europa muss seine Widersprüche, Dummheiten, Ignoranzen überwinden und verarbeiten, sonst geht Europa wahlweise an sich selbst zu Grunde oder wird zwischen den rivalisierenden Kräften zerrieben.

Es war wieder ein starker und mutiger Abend im Schauspielhaus Dortmund. Selbstkritisch und aufrüttelnd und musikalisch glänzend von T.D. Finck von Finkenstein begleitet. Ein Stück dessen elf AutorInnen es verdient hätten, würde aus ihren Texten ein Buch entstehen, dass man einem breiteren Publikum als nur den Theaterbesuchern zugänglich machen könnte, nein müsste. Kritische Meisterstücke, die unter die Haut gehen, unbequem, erhellend und eindringlich. Nach der Maxime: Menschliche Köpfe sind rund, damit sich die Richtung der Gedanken auch ändern kann.

Mehr Informationen:

  • Das Stück „Ich Europa“ ist im Schauspielhaus Dortmund (am Hiltropwall) zu sehen.
  • Tickets kosten zwischen 9 bis 23 Euro. Für Geflüchtete bietet das Schauspiel Dortmund für alle Vorstellungen Sonderfreikartenkontingente aus Sponsoring-Mitteln durch die Auslandsgesellschaft e.V. und von Dr. Schlensker & Team GmbH.
  • Das Theaterstück ist mit arabischen Übertiteln. (Bei Interesse melden Sie sich bitte bei Lisa Bunse – lbunse@theaterdo.de)

Weitere Termine:

  • Samstag, 27. Oktober 2018, 19.30 Uhr
  • Samstag, 17. November 2018, 18 Uhr
  • Sonntag, 18. November 2018, 15 Uhr
  • Sonntag, 25. November 2018, 18 Uhr
  • Mittwoch, 12. Dezember 2018, 19.30 Uhr
  • Donnerstag, 20. Dezember 2018, 19.30 Uhr
Ich Europa Das Ensemble verneigt sich vor seinem begeisterten Publikum siben Mal
Das Ensemble „Ich Europa“ verneigte sich vor seinem begeisterten Publikum. Foto: Gerd Wüsthoff

Die SchauspielerInnen:

Christian Freund, Ekkehard Freye, Björn Gabriel, Frank Genser, Marlena Keil, Bettina Lieder, Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder, Alexandra Sinelnikova, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth

Regie und Backstage:

  • Regie: Marcus Lobbes
  • Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert
  • Video Arts: Mario Simon
  • Sound Design: T.D. Finck von Finckenstein
  • Dramaturgie: Michael Eickhoff,Matthias Seier
  • Licht: Sibylle Stuck
  • Ton: T.D. Finck von Finckenstein
  • Regieassistenz: Péter Sanyó
  • Übersetzung der arabischen Übertitel: Samir Grees
  • Bühnenbildassistenz: Christiane Thomas
  • Kostümassistenz: Friederike Wörner
  • Inspizienz: Ralf Kubik
  • Soufflage: Violetta Ziegler
  • Regiehospitanz: Mirko Soldano
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