Gläserne StaatsbürgerInnen in „Schöner neuer Welt“ totaler Erinnerung durch die Super-SCHUFA: fleißig Punkte sammeln!

Die vier Akteure: Friederike Tiefenbacher, Uwe Schmieder, Caroline Hanke, Christian Freund. Foto: Schauspielhaus Dortmund.
Die Akteure: Friederike Tiefenbacher, Uwe Schmieder, Caroline Hanke, Christian Freund. Fotos: Hupfeld/ TheaterDO

Irren ist menschlich. Keine Erinnerung ist davor gefeit, ohne dass dies gleich nachteilig sein muss. Demgegenüber kann sich ein totales Gedächtnis staatlicher Überwachung zur Disziplinierung von Individuen aufbauen, das alle erfassbaren Verhaltensweisen minutiös bewertet und in einem Punktesystem zu sozialen Privilegien übersetzt. Das Schauspiel Dortmund versucht, resultierende Spannungen auf die Bühne zu bringen.

Individualität menschlicher Erinnerung und kollektive Erinnerungen von Individualität mit Bonus-System

Ein Lieblingsthema von Philosophen in der Antike war: Sinnlichkeit täuscht! Stattdessen wurde das Denken gepflegt. Weil das nicht so gefühlsduselig daherkommt, sondern morgen auch noch weiß, was es gestern behauptet hat. Unterstellt haben die weisen Herren dabei ein Erinnern-Können, auch Gedächtnis genannt.

Aber leider funktioniert das Gedächtnis nicht ganz reibungslos, im Gegenteil: Eigentlich erinnern wir häufig nur das, woran wir uns erinnern wollen. Was nicht per se schlecht ist, denn es gibt Dinge im Leben – die sind schlicht zum Vergessen. Während andere besser präsent bleiben, sonst könnte was schieflaufen. Schon die Selektivität vorgeschalteter Wahrnehmungsprozesse funktioniert in diesem Sinne, indem dadurch kognitive Verarbeitungstiefen mit entsprechenden Erinnerungspotentialen reguliert werden.

Wem das zu kompliziert ist: Es gibt neue Hoffnungen aus dem Reich der Mitte – ein kollektiv-digitales Gedächtnis, flächendeckend, radikal, gegebenenfalls bis unter die Bettdecke, solange die Hardware hält. Ein Überwachungssystem, das schlicht alles erinnert. Und nach einem Punktesystem bewertet, mit dem Privilegien verteilt werden.

Die Veranstaltung könnte allerdings auf aufgeklärt-europäisch heißen: Gläserne StaatsbürgerInnen in der „Schönen neuen Welt“ (Roman von A. Huxley) – und sie ist eine Art Super-SCHUFA zur digitalisierten Überwachung eines konfuzianischen Verhaltenskodex im dritten Jahrtausend. Gespeichert und zusammengeführt werden alle verfügbaren Daten über ein Individuum: Einkaufsverhalten, Gesundheitsdaten, Sozialverhalten, Arbeitsengagement, Bewertungen von NachbarInnen untereinander usf.

Digital gesammeltes Wissen über Individualität: Mittel zur Nivellierung im Kollektiv

Die Individualität und Fragilität menschlicher Erinnerung steht gegenüber sozialtechnisch motivierten Bewertungen gelebter Individualität nach definierten Normen in einem gewissen Spannungsverhältnis, das künstlerisch bearbeitet werden kann: „Memory Alpha oder Die Zeit der Augenzeugen“, heißt der Versuch am Schauspiel Dortmund.

Idee und geschrieben von Anne-Kathrin Schulz, seit 2010 Dramaturgin in Dortmund. Nach kollektivem Aushandlungsprozess („Kunst ist kein Wunschkonzert“) auf die Bühne gebracht von Ed. Hauswirth. Natürlich nicht als Wiki-Vortrag über ein psychologisches Sachthema; Relativität und Manipulation von Erinnerungen und so. Sondern als Fall präsentiert von und unter Menschen, leibhaftig und bebildert mit Gedächtnis-Motiven: Was Erinnerung eben erinnert, um überhaupt sein zu können.

Wenn es beim Fragilen des Ach-zu-Menschlichen um Eigenarten unseres Gedächtnisses und seine Plastizität geht, mit der wir aus dem Gegenwartshorizont neue Vergangenheit schaffen, daher Zukunft antizipieren. Oder um die Fleißkärtchen des Social Credit Systems Marke Big-Brother-Peking, das rein gar nichts vergisst. – Dann ist das auf der Bühne zunächst die Spurensuche nach einem zweifelhaften Unfall in Brüssel. Und da ist ein Mann mit Aufklärungsbedarf, weil er dabei zufällig zerquetscht wurde.

ProtagonistInnen in unterschiedlichen Rollen zwischen Wahrheiten, Erinnerungen und Inhalten

In der etwa anderthalbstündigen Aufführung, zu sehen im Schauspielhaus bis zum Sommer, schwanken vier ProtagonistInnen in unterschiedlichen Rollen zwischen Wahrheiten, die entweder als Inhalte menschlicher Erinnerung fragil oder als Teil des ewigen Gedächtnis eines allgegenwärtigen Systems totalitärer Kontrolle (außer für die Betroffenen) trivial sind.

Und vollends absurd erscheint der Gedanke, Erinnerung habe etwas mit Befreiung zu tun. Denn, wo sie Wissen ist, dient sie als Alpha-Instrument allein der Reproduktion von Macht zur Nivellierung von Individualität. Für die Fragen überflüssig sind, weil es alle Antworten schon gibt.

Weitere Informationen:

  • Premiere: 6. April 2018, 20 Uhr (ausverkauft).
  • Weitere Termine (Studio, Schauspielhaus): 13. April, 20 Uhr (fast ausverkauft); 4. Mai, 20 Uhr; 20. Mai, 18.30 Uhr; 2. Juni, 20 Uhr; 22. Juni, 20 Uhr; 4. Juli, 20 Uhr; 12. Juli, 20 Uhr.
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Reaktionen

  1. Theater Dortmund

    „Memory Alpha oder Die Zeit der Augenzeugen“ ist ab dem 4. November 2018 wieder im Spielplan des Schauspielhauses Dortmund zu sehen. Weitere Termine folgen.

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