SERIE »Stadt-Bauten-Ruhr« (8): Verortung im ortlosen Semester. Stadtspäher im Lockdown

Projektion der »Dortmunder DENKwerkstatt Kunstwissenschaft« auf eine Hauswand, Foto: Birte Frenzel, 2020

In unserer Serie »Stadt-Bauten-Ruhr« beschäftigen wir uns mit prägnanter Nachkriegsarchitektur im öffentlichen Raum des Ruhrgebiets, schwerpunktmäßig in Dortmund. Es geht um Kirchen, Rathäuser, Museen, Theater, Universitäten u.a., die einer ansonsten von Schwerindustrie geprägten Region urbane, ja fast mondäne Gesichter verleihen sollten. Mit einem überraschenden Resultat: Geformt im 20. und 21. Jahrhundert, ist heute der Landstrich zwischen Rhein und Ruhr der mit den meisten Kulturbauten in der Bundesrepublik wie in Europa, wahrscheinlich sogar weltweit. So zumindest die Herausgeber*innen eines fast 400 Seiten starken Konvoluts, 2020 erschienen im Dortmunder Verlag Kettler, welches die Grundlage unserer mehrteiligen Beitragsreihe bildet.


Verortung im ortlosen Semester. Stadtspäher im Lockdown

Ein Buchbeitrag von Barbara Welzel

»Für jeden von uns ist die eigene Stadt ein unverzichtbares mnemotechnisches Theater, ein Orientierungsrahmen für die individuelle Erinnerung und das kollektive Gedächtnis.«(1) Salvatore Settis

Der Lockdown Mitte März 2020 änderte von einem Tag auf den anderen das Leben in den Städten: Kulturbauten, Bildungsbauten, Rathäuser und Kirchen (um nur diese Bauten zu nennen, mit denen sich das Projekt »Stadt Bauten Ruhr« eingehend befasst) wurden weitgehend geschlossen und der Öffentlichkeit zeitweise entzogen. Inzwischen ist dieser Lockdown aufgehoben, und es werden neue Choreografien für die Räume entworfen: Abstandsgebote, Mund-Nasen-Schutz-Regelungen, Einbahn-Wegeführungen, Kontaktdaten-Aufzeichnungen etc. Die zahlenmäßige Begrenzung für Menschen in den verschiedenen Räumen führt zu Ummöblierungen und neuartigen Bildern von Veranstaltungen; Fotos mit gut gefüllten Sälen scheinen einer vergangenen Epoche zu entstammen.

Foto: Alex Völkel

In der Folge des Lockdowns trat Mitte März 2020 ein Betretungsverbot auch für den Universitätscampus der TU Dortmund in Kraft. Der Lockdown als radikale Intervention, um die unkontrollierte Ausbreitung des Corona-Virus SARS CoV-2, der COVID-19-Pandemie, einzudämmen und Infektionsketten zu unterbrechen, veränderte ebenfalls die Planungen und Routinen der Universitäten insgesamt – und ebenso aller ihrer Mitglieder – auf unbestimmte Zeit. Es galt, Arbeitsabläufe, Kommunikationswege, Forschungstätigkeiten und vor allem auch die Lehrveranstaltungen neu zu figurieren – um hier aus der Perspektive der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, mithin der Forschenden und Lehrenden, zu berichten.

Für die Kunstwissenschaft, gerade auch für eine objektbasierte Kunstwissenschaft, die sich für Raumchoreografien interessiert,(2) bedeutete eine radikale Veränderung von Orten und räumlichen Möglichkeiten nicht nur eine Umcodierung der Rahmenbedingungen (nach dem Motto: Dann muss das Seminar eben digital abgehalten werden). Vielmehr versetzte die neue Situation – wie sich pointieren lässt – einen Schlag in den professionellen Solarplexus. ___STEADY_PAYWALL___

Alle Ortstermine, bei denen in gemeinsamer Autopsie die Objekte, denen das Studium gilt, erkundet werden sollten, mussten abgesagt werden; alle Archivtermine, in denen eine Gruppe gemeinsam Objekte hantieren und diskutieren wollte (#Essay Lehre), waren nicht wie geplant durchführbar. Mehr noch: Die Veränderungen betreffen, vergleichbar der Soziologie und der Raumsoziologie,(3) unmittelbar die fachlichen Diskurse – oder setzen grundsätzliche und in Teilen durchaus im Hintergrund schon länger aufscheinende Fragen in hartem Licht auf die Agenda. Wie über die Materialität der Objekte, wie über Architektur, Raum und Performanz sprechen, wie über Ortsgebundenheit und räumliche Kontextualisierung etc., wenn digitale Kommunikation und digitale Räume zum neuen Normalfall werden? Wie diese Parameter zum wissenschaftlichen Argument machen? Wie ihre Analyse im digitalen Semester lehren?

Und damit sind die Fragen um »Ästhetische Erfahrungen in der digitalen Revolution«, so der Untertitel einer im Frühjahr 2020 erschienenen Untersuchung von Holger Noltze, noch nicht einmal berührt.(4) Kurz: Hier tritt so etwas wie ein epistemischer Ernstfall ein. Dieser besitzt noch eine weitere Dimension: Was kann die Kunstwissenschaft – jedenfalls eine Kunstwissenschaft, wie wir sie in Dortmund verstehen – gewissermaßen in Echtzeit zum »Weltwissen« beitragen?

Zusammenbasteln von Rollen zu einem Kaleidoskop multipler Identitäten

Als 2010 das zum Kulturbau transformierte Dortmunder U eröffnete (#Dortmunder U), zeigte der Campus Stadt der TU Dortmund die Fotoausstellung »mittendrin. Wie es sich anfühlt, Student zu sein«.(5) Studierende der Fotografie waren in dem von Felix Dobbert konzipierten und geleiteten Projekt ausgeschwärmt und hatten ein Panorama sehr unterschiedlicher Bilder geschaffen. Keine – wirklich keine – dieser Fotografien zeigt eine klassische Lehrveranstaltung in Präsenz auf dem Campus der Universität. Verhandelt werden vielmehr andere Aspekte studentischen Lebens: das Finden von Rollen in dieser biografischen Phase, das Experimentieren mit einem fachlichen Habitus, die Diskussionen in Kneipen, Musizieren auf dem Campus, überhaupt studentisches Leben in vielen Facetten. Flankiert werden die Fotoserien von einem knappen Einblick in ein soziologisches Forschungsprojekt von Arne Niederbacher, Oliver Herbertz und Ronald Hitzler.(6)

(Abb. 1:) Elvira Neuendank und Stefan Neuendank (früher Krypczyk), Fotografie aus der Serie »Student’s Corner«, 2010

Die Forscher bestätigen das fotografische Kaleidoskop, wenn sie herausstellen, dass »die Zusammenhänge zwischen (den) sozialen Rollen ebenso wie die tatsächlichen individuellen Ausgestaltungen der jeweiligen Rollen heute vom Einzelnen selber gemanagt oder doch wenigstens irgendwie zusammengebastelt werden müssen. Das Wechselverhältnis bzw. den Zusammenhang von Wissen, Bildung und Freizeit auszuklammern und ernsthaft in Erwägung zu ziehen, dass die Hochschule in der Zeit des Studiums die zentrale Agentur des Alltags von Studentinnen und Studenten sein muss, geht mithin an der ge- und erlebten Realität vorbei.«(7) Das hat sich mit dem Lockdown im Frühjahr 2020 eher noch deutlich potenziert, zumal wenn »Wissen, Bildung und Freizeit« ergänzt werden um: Lebens- und Alltagsorganisation.

Hinzu kommen bei »mittendrin« Bilder vom Campus, die die Studierenden gewissermaßen als Flaneure, als »Campusschlenderer«,(8) eingefangen hatten: etwa Blicke durch Kellerflure mit schweren Brandschutztüren und Feuerlöschern, die auf verschlossene, mit Verbotsaufklebern abweisende Stahltüren zulaufen, oder Einblicke in Waschräume mit überquellenden Papierkörben.

Auf das Cover des Katalogs brachte es ein Foto von Elvira Neuendank und Stephan Neuendank (früher: Krypczyk). Es zeigt eine im Jahr 2010 eher Alltagsabsurditäten ins Bild bringende Situation (Abb. 1): das Spiel mit einer verschlossenen Tür zur Studierendenvertretung, nachdem – so ist dem ausgehängten Zettel zu entnehmen – wohl kurzfristig, mithin für den abgewiesenen Studenten unvorhersehbar, die Öffnungszeiten verändert worden waren. Dieser ist nun auf die Querstange der Tür geklettert und sitzt entspannt an der Gebäudewand. Er tanzt gewissermaßen der Situation auf der Nase herum und nimmt sich seinen Campus mit einem künstlerischen Augenzwinkern.

»Ortloses Semester« mit Botschaften aus städtischen Räumen

Universität ist vor allem auch ein Ort. Doch im Sommersemester 2020 musste die Lehre ohne den Campus auskommen. Es war ein »ortloses Semester«. Was aber würde – denkt man die Fotoserien aus dem Projekt »mittendrin« weiter – am meisten vermisst werden? Wie ein Filter verstärken diese Bilder die Erinnerung an das Hineinkommen in das Foyer des Gebäudes Emil-Figge-Str. 50, das Vorbeigehen an Getränkeautomaten, das Hinüberschauen in die Cafeteria: Sitzt da jemand, den ich kenne? Die Geräusche, die Fahrt mit dem Aufzug, das Foyer vor dem Seminarraum. Ist es nicht gerade dieses Hintergrundrauschen des Ortes, das die Semesterabfolge, die verschiedenen Lehrveranstaltungen, die Begegnungen zusammenhält?

(Abb. 2:) Projektion der »Dortmunder DENKwerkstatt Kunstwissenschaft« auf eine Hauswand, Foto: Birte Frenzel, 2020

Das »ortlose Semester« brauchte also – so die Schlussfolgerung, die wir im Team der Dortmunder Kunstwissenschaft zogen – einen gemeinsamen »Ort«, den alle wie einen durchlaufenden basso continuo miteinander teilen konnten. Entwickelt wurde die »Dortmunder Denkwerkstatt Kunstwissenschaft«, eine wöchentlich erscheinende Folge von kurzen Videobeiträgen, die – so die Idealvorstellung – von allen Lehrenden und Studierenden regelmäßig angesehen sowie in allen Lehrveranstaltungen in der einen oder anderen Weise thematisiert würden.(9)

Das Team zeigte sich selbst mit seinen Themen sowie durch die Beiträge von Kolleginnen vom Niguliste Museum in Tallin, vom Metropolitan Museum in New York und von der Universität Bern in seiner internationalen Vernetzung. Doch wir wollten mehr als einen »Gemeinplatz« schaffen. Vielmehr musste es nach unserem fachlichen Selbstverständnis – auch durchaus im pathetischen Sinne vor der Folie fachlicher Verantwortung und Ethik – immer wieder darum gehen, die Orte aus dem digitalen Raum zurückzubringen in den konkreten, zumeist städtischen Raum, um sie dort zu aktivieren. So wurde die Begrüßung nicht nur vom – menschenleeren – Campus gesendet, sondern weitere Videosequenzen in der städtischen Hauptkirche St. Reinoldi und in der Stadtkirche St. Petri in Dortmund gedreht und verortet; verbunden mit der Einladung, dass diese Orte wenn auch nicht für Gruppen, so doch für einzelne Besucherinnen und Besucher weiterhin offenstanden. Hier blieben Stadtbauten öffentlich zugänglich.

(Abb. 3:) Projektion der »Dortmunder DENKwerkstatt Kunstwissenschaft« auf eine Hauswand, Foto: Judith Klein, 2020

Ein Beitrag zum Rathaus in Iserlohn (Christin Ruppio) leistete einen Übertrag des Stadtbauten-Projekts an weitere Orte, ein anderer Beitrag zeigte auf, dass der Lockdown zwar zeitweise die Museen schließen lässt, aber im städtischen Außenraum Kunst aufgesucht werden kann. Mit nahsichtiger Kameraführung wird das Werk »Inverted House of Cards« von Richard Serra auf den Außenflächen des Museum Folkwang in seiner Materialität geradezu gefeiert (Laura Di Betta). Das Dortmunder U und die Sammlungen des Museum Ostwall werden ebenso thematisiert (Sarah Hübscher) wie der von Jochen Gerz gestaltete »Platz des europäischen Versprechens« in Bochum (Judith Klein) oder die Gartenanlage von Schloss Nordkirchen (Christopher Kreutchen).

In allen diesen Videos – wie auch in anderen Beiträgen der »Denkwerkstatt« – wurde fachliche Zuständigkeit und Interesse an öffentlichen Räumen reklamiert. Insistiert wurde und wird auf das »Recht auf Stadt«, auf den Teilhabeanspruch am öffentlichen Raum, an den Orten und am kulturellen Erbe(10) – und das sehr absichtsvoll auf eine Weise, die diesen Anspruch unter Wahrung aller Vorsichtsmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie gleichwohl präsent hält und als ein gemeinsames Anliegen sichtbar, erfahrbar und besprechbar macht. Die Videos wurden – jenseits aller formalisierten Referenzen in Lehrveranstaltungen – von den Studierenden nicht allein in den sozialen Medien geteilt und kommentiert. Sie wurden auch ihrerseits in den konkreten Raum zurücktransportiert, wenn Studierende sie auf Hausmauern projizierten, um sie unter Einhaltung aller Abstandsgebote und Versammlungsverbote in kleinen Gruppen und von den umliegenden Balkonen aus miteinander zu teilen (Abb. 2, 3).

Konzept der StadtSPÄHER: Blick auf die Stadt und aus der Stadt auf die Stadtbauten

StadtSPÄHER sind seit einem Jahrzehnt integraler Bestandteil des Lehrportfolios in der Dortmunder Kunstwissenschaft.(11) In den letzten Jahren wurde eine Choreografie der Vermittlung von Stadt und Baukultur, von Semantik und Grammatik der Städte sowie des »Spazierenguckens« und Flanierens entwickelt; sie wurde in unterschiedlichen Kontexten erprobt, diskutiert und weiterentwickelt.

Immer gehören nahsichtige Beobachtungen und Entdeckungen an den Bauten selbst dazu, etwa Nahtstellen zwischen Alt und Neu (#Miniatur Dortmunder U), Spuren der Überschreibung (#Essay Weiterbauen), der Eröffnung von Sichtachsen und Wegeführungen oder deren Blockaden (#Miniatur Musiktheater; #Miniatur Naturmuseum). Regelmäßig begeben sich wissenschaftliche und künstlerische Perspektiven miteinander in Dialog.

(Abb. 4:) Julius Reinders, Kalkar, Zeichnung aus dem StadtSPÄHER-Logbuch, Sommersemester 2020

StadtSPÄHER begreifen sich nicht zuletzt vor dem diskursiven Horizont und zugleich praktischen Imperativ des »sharing heritage« – des gemeinsamen Teilens von kulturellem Erbe, wie sie im Europäischen Kulturerbejahr 2018 und in der Konvention von Faro des Europarats (2005) formuliert wurden. Im Kontext des Projekts »Stadtbauten Ruhr« vollziehen die StadtSPÄHER gewissermaßen den »Gegenschuss«: Sie ergänzen die Erschließung der konkreten Stadtbauten in der Spiegelung der Bestände des Baukunstarchivs NRW um den Blick auf die Stadt und aus der Stadt auf die Stadtbauten.

Genau dieses Wechselspiel der Perspektiven und Blickfelder aus dem Kulturbau auf die Stadt und aus der Stadt auf das Bauwerk war denn auch das Thema für den Foto-Essay von Lukas Höhler (#Foto-Essay; #Miniatur U-Fotos). Einer der Referenztexte für die StadtSPÄHER ist das Manifest »Wenn Venedig stirbt« von Salvatore Settis – und hier insbesondere das Kapitel, in dem Settis »Die unsichtbare Stadt« als unverzichtbare Grundierung heutiger Stadtwahrnehmung, mehr noch: des Lebens in Stadt überhaupt, charakterisiert.(12)

Stadtwissen gilt hier – so das eingangs diesem Text vorangestellte Motto – als notwendiger Orientierungsrahmen für das Verknüpfen von individueller Erinnerung und kollektivem Gedächtnis. Das »ortlose Semester« 2020 erforderte eine Justierung der StadtSPÄHER-Choreografie für eine Situation, in der keine gemeinsamen Stadtspaziergänge, keine Reflexionen im Seminarraum oder unterwegs auf den Exkursionen möglich waren. Wie würden Stadt, öffentlicher Raum und Stadtbauten unter den Bedingungen des Lockdowns doch Teil der unmittelbar erlebten Lebenswelt sein können? Wie könnten Orte geteilt werden? Wie könnte gleichwohl unter den veränderten Bedingungen gemeinsames Teilen erfahrbar werden? Wie trotz der erforderlichen Distanz gemeinsame Anliegen erlebbar sein?

StadtSPÄHER-Konzept unter veränderten Bedingungen der Pandemie erweist sich als belastbar

Das Konzept der StadtSPÄHER erwies sich als belastbar. Mehr noch: Die Herausforderung führte zu einer Weiterentwicklung der Choreografien, die auch in Zukunft die StadtSPÄHER bereichern wird. In diesen Wochen des Jahres 2020 konnten sich die StadtSPÄHER nicht gemeinsam auf den Weg machen. Vielmehr war Ausgangspunkt jeder/ jedes Einzelnen das Quartier, das im Lockdown als Wohnung bezogen worden war:

»Bitte flanieren Sie von Ihrer Wohnung ausgehend in Ihrem Viertel umher. Kartieren Sie Ihre Umgebung. Beginnen Sie Ihr Logbuch. Wo bleibt Ihr Auge beim Spazierengucken haften? Was sind Orientierungspunkte? Was ist besonders auffallend? Warum?« In mehreren Themenblöcken wurden Stadtbauten angesteuert, etwa: »Einer der Zielpunkte sollte die (oder eine der) Kirche(n) in Ihrem Viertel sein. Wie ist dieses Bauwerk in seine Umgebung eingebunden? Als Zentrum? Mit umgebendem Platz? Höher als die umgebenden Bauten? Eine Landmarke? Stammt es aus einer einzigen Zeitschicht, oder gab es Umbauten? Entstand es in der gleichen Zeit wie das umgebende Viertel? Ist die Kirche älter? Welche Materialien? Welche Materialien im Verhältnis zu den Bauten der Umgebung?«

(Abb. 5:) Julius Reinders, Unterer Niederrhein, Zeichnung aus dem StadtSPÄHER-Logbuch, Sommersemester 2020

Und weiter: »Machen Sie sich in Ihrem Quartier/Ihrer Stadt auf den Weg und wählen Sie ein öffentliches Bauwerk, gern auch das Rathaus, aus. Aus welcher Zeit stammt es? Wie ist es in der Stadt positioniert? Wie verhält es sich zu der Kirche, die Sie letzte Woche erkundet haben? Fertigen Sie eine Skizze und eine kurze Beschreibung an! Schauen Sie, ob Sie Informationen zu diesem Bauwerk im Internet finden.«

Den Stadtbauten vor Ort wurden – im digitalen Selbststudium – jeweils Monumente gegenübergestellt, die in die Welterbeliste der UNESCO eingetragen waren: die Altstadt von Tallinn, die in einem der Beiträge der »Dortmunder Denkwerkstatt Kunstwissenschaft« ebenfalls thematisiert wurde (Kerttu Palginõmm zum Revaler Totentanz) oder das Bremer Rathaus, wiederum ergänzt um den Beitrag zum Iserlohner Rathaus in der »Denkwerkstatt« (Christin Ruppio).

Als weitere Ebene kamen Texte für die diskursive Reflexion hinzu: über »Die unsichtbare Stadt«, über »Kunst und Wissenschaft vor Ort«(13) und über das »endlose Spiegelkabinett«, mit dem Kirchenbauten jedes einzelne Dorf und jede einzelne Stadt in die europäische Geschichte einschreiben.(14) In Videokonferenzen wurden regelmäßig Austauschforen angeboten. Es zeigte sich, dass die vielen einzelnen Stadtexkursionen und der Austausch darüber »Stadt« in ihrer Grammatik und die Fundierung in der »unsichtbaren Stadt« auf einprägsame Weise erfahrbar machten.

Eigentlich erst jetzt wurde die »europäische Stadt« erlebbar: gleiche Strukturen und Bauten in Dortmund, in Castrop-Rauxel oder in Dinslaken, in einer Kleinstadt im Sauerland oder am Niederrhein. Der eigene Wohnort, oft bis dahin ein im Hintergrundrauschen der Alltagswege verschwimmender Raum, wurde in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Zugleich wurde er Teil der »großen Welt«. Persönliche Erzählungen (individuelle Erinnerungen), der Austausch zwischen den Generationen (Gespräche mit Eltern und Verwandten) sowie auf den Raum des Kulturellen Gedächtnisses hin ausgerichtetes Professionswissen wurden aufeinander bezogen und verwoben. Hier entstand »Weltwissen«, das in Professionswissen begründet werden konnte. Jetzt konnte das gemeinsam geteilte Erbe nicht als Einzelobjekt, sondern in seiner flächendeckenden Vielfalt wahrgenommen, verstanden und geteilt werden.

Erinnerung braucht konkrete Orte in Raum und Zeit

Im »ortlosen Semester« spielte zudem eine entscheidende Rolle, dass dieses Seminar asynchron das Managen von verschiedenen Rollen der Studierenden im Lockdown und die exponentiell gestiegene Komplexität der Alltagsorganisation in Rechnung stellte. Es erlaubte sogar die Verknüpfung von Wissen, Bildung und Freizeit, wenn manche der Studierenden ihr Viertel gemeinsam mit ihren Kindern erkundeten, andere Fahrradtouren am Wochenende nutzten, um vergleichbare Bauten an anderen Orten aufzusuchen, wieder andere endlich einmal die Stadt ihrer Universität erkundeten.

Es wurde auch noch einmal deutlich, wie sehr Erinnerung überhaupt der Orte bedarf: So verschwammen die Tage und Themen im Home-Office, vor dem immer gleichen Bildschirm, im Ineinanderrutschen von privatem Alltag und Studium. Die Stadtspaziergänge der StadtSPÄHER gewannen Bedeutung im Strukturieren von Zeit und Raum; sie erlaubten »Welt«, sie forderten öffentlichen Raum auch im Lockdown, der im Bundesland Nordrhein-Westfalen glücklicherweise nicht mit einer Ausgangssperre einherging.

Das Kontaktverbot konnte – so ein häufiges Feedback – erträglicher werden durch das geforderte und ermöglichte Hinausgehen der StadtSPÄHER und das gemeinsame Teilen von »Stadt« an unterschiedlichen Orten außerhalb der eigenen vier Wände. Das studentische Leben am gemeinsamen Ort Universität konnte auch dieses Seminar selbstredend nicht ersetzen, allerdings verschaffte ein digitales »Denkcafé« in Initiative der studentischen Mitarbeiterinnen (Birte Frenzel, Allegra Höltge, Daria Vogel) wenigstens Linderung.

Beiträge zu »Stadt-Bauten-Ruhr« entstehen unter den Voraussetzungen des Lockdowns

(Abb. 6:) Julius Reinders, Schneller Brüter, Graphit und Farbstift auf Papier, 29,7 x 42 cm, 2020

In diesen Monaten realisierte Judith Klein den Audioguide »ZukunftsSPUREN«, der Stadtbauten ebenfalls aus der Perspektive der Stadt und des öffentlichen Raumes erzählt. Die Stadtspaziergänge umkreisen einzelne Bauwerke, erschließen ihre Rolle als »Stadtbauten Ruhr« und charakterisieren die gemeinsame Teilhabe, die den Horizont der individuellen Stadtspaziergänge bildet (#Essay ZukunftsSPUREN).

Auch die Texte, Fotos und die Gestaltung für vorliegendes Buch »Kultur@Stadt_Bauten_Ruhr« wurden – ebenso wie die Ausstellungen »UmBAUkultur« im Dortmunder U (#Miniatur Das Dortmunder U) und »So etwas steht in Gelsenkirchen…« im Museum Folkwang (#Essay Ausstellung) – in dieser Zeit erstellt (#Essay Buch). Ebenso gingen auch die Stadtbauten-Lehrveranstaltungen weiter.

Lukas Höhler streifte allein mit seiner Kamera durch Dortmund für seinen FotoEssay zum Dortmunder U (#Foto-Essay). Julius Reinders, einer der jungen Künstler an der TU Dortmund, kartierte als StadtSPÄHER Xanten und Kalkar (Abb. 4, 5), während er zugleich seine eigenen künstlerischen Projekte vorantrieb und ein Graphik-Projekt in der Nikolaikirche in Kalkar realisierte und nach dem Ende des Lockdown im Sommer 2020 in Kalkar in einer Ausstellung öffentlich präsentierte (Abb. 6, 7).(15)

Krisen sind zumeist dann vorüber, wenn es ein Narrativ gibt, das sie zusammenfasst

(Abb. 7:) Julius Reinders, Daunenstoff, Graphit und Farbstift auf Papier, 29,7 x 42 cm, 2020

Schon im April des Jahres hatte der Literaturwissenschaftler Fritz Breithaupt in der Wochenzeitung »DIE ZEIT« formuliert: »Wir wissen von Krisen der Vergangenheit, dass sie zumeist genau dann vorbei sind, wenn sich ein Narrativ durchsetzt, das die Ereignisse zusammenfasst. Diese erzählerische Sinngebung entfaltet eine Langzeitwirkung, die stärker als die Krise sein kann.«(16) Dann listet er fünf Narrative auf:

»Corona eine Delle, dann Wiederkehr der Normalität«, »Aufstieg der totalen Kontrolle«, »Die Stärke der kollektiven Aktion gewinnt«, das »Narrativ der Depression« und das »Versagen der egomanischen Mächtigen«.

Und Breithaupt schließt seinen »Erzählt die Zukunft!« betitelten Beitrag mit einem Appell: »Entscheidend ist, welches Narrativ Menschen leben und erzählen. Hier kommt den Hochschulen eine Schlüsselposition zu; sie sind es, die den Studierenden mit ihren Aufgaben auch Rollen, also Handlungspotenzial geben. Je mehr die Studierenden sich jetzt als Handelnde begreifen, desto wahrscheinlicher werden auch ihre Narrationen Erzählungen mit Zukunft sein.«(17)


Anmerkungen:

(Die jeweiligen Texte des mit zahlreichen Bildern aus Archivbeständen des Baukunstarchivs NRW illustrierten Bands übernehmen wir – leicht gekürzt […] und zum Zwecke besserer Lesbarkeit teils mit eingefügten Zwischenüberschriften versehen – ansonsten wörtlich.)

(1) Salvatore Settis, Wenn Venedig stirbt. Eine Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte, Berlin 2015, S. 19.

(2) Vgl. Wolfgang Sonne/Barbara Welzel (Hg.), St. Reinoldi in Dortmund: Forschen – Lehren – Partizipieren. Mit einem Findbuch zu den Wiederaufbauplänen von Herwarth Schulte im Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW (A:AI) der Technischen Universität Dortmund, Oberhausen 2016; Christopher Kreutchen/Barbara Welzel, GartenSPÄHER – Neue Choreografien für »sharing heritage« und Garten-Bildung, in: Historische Gärten und Gesellschaft: Kultur – Natur – Verantwortung, hg. von Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (SPSG), Regensburg 2020.

(3) Vgl. Michael Volkmer/Karin Werner (Hg.), Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft, Bielefeld 2020; hier für unseren Zusammenhang insbesondere Sascha Dickel, Gesellschaft funktioniert auch ohne anwesende Körper. Die Krise der Interaktion und die Routinen mediatisierter Sozialität, ebd., S. 79–86; Hubert Knobloch/Martina Löw, Dichotopie. Die Refiguration von Räumen in Zeiten der Pandemie, ebd., S. 89–99.

(4) Holger Noltze, World Wide Wunderkammer. Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution, Hamburg 2020; zum diskursiven Horizont vgl. auch ders.: Die Leichtigkeitslüge. Über Musik, Medien und Komplexität, Hamburg 2010.

(5) mittendrin. Wie es sich anfühlt, Student zu sein, hg. von der Technischen Universität Dortmund, Bönen 2010; https://mittendrin. tu-dortmund.de/mittendrin-katalog (9.9.2020).

(6) Arne Niederbacher/Oliver Herbertz/Ronald Hitzler, Studierende: Die unbekannten Wesen, in: ebd., S. 21–23.

(7) Ebd., S. 22.

(8) Zu diesem Konzept: Barbara Welzel, CampusSchlenderer – oder: Nah dem Zauber der Universität, von dem sie selber kaum weiß, in: Felix Dobbert/Barbara Welzel (Hg.), MBF. Kunst und Maschinenbau. Eine fotografische Fusion, Dortmund 2016, S. 94–101.

(9) www.dortmunder-denkwerkstatt-kunstwissenschaft.de (9.9.2020).

(10) Henri Lefebvre, Das Recht auf Stadt (1968). Aus dem Französischen von Birgit Althaler. Mit einem Vorwort von Christoph Schäfer, Hamburg 2016; Barbara Welzel, Zugehörigkeit vor Ort: Stadt als Bildungsraum, in: Jahrbuch Historische Bildungsforschung 22 (2017), S. 81–104.

(11) Vgl. Klaus-Peter Busse/Barbara Welzel mit weiteren Autoren, Stadtspäher im Dortmunder U. Baukultur in Schule und Universität, hg. von der Wüstenrot Stiftung, Ludwigsburg 2014; Barbara Welzel, Stadtwandern und Spazierengucken, in: Sidonie Engels/Rudolf Preuss/Ansgar Schnurr (Hg.), Feldvermessung Kunstdidaktik. Positionsbestimmungen zum Fachverständnis, München 2013, S. 159–170; zunehmend kommen GartenSPÄHER hinzu und entwickeln die Choreografien ihrerseits weiter: Christopher Kreutchen/Barbara Welzel (Hg.), GartenSPÄHER in Schwetzingen, Oberhausen 2020.

(12) Settis 2015 (wie Anm. 1), S. 17–20.

(13) Barbara Welzel, Ars ecclesia: Kunst und Wissenschaft vor Ort, in: Peter Knüvener/Esther Meier (Hg.), Lüneburg: Sakraltopographie einer spätmittelalterlichen Stadt, Weimar 2019, S. 9–14.

(14) Etienne François, Kirchen, in: Christoph Markschies/Hubert Wolf (Hg.), Erinnerungsorte
des Christentums, München 2010, S. 708–724.

(15) Julius Reinders, Das unsichtbare Séparée. Ausstellung im Städtischen Museum und Katalog, Kalkar 2020.

(16) Fritz Breithaupt, Erzählt die Zukunft! Was kommt nach der Corona-Krise? Das hängt auch davon ab, wie Studierende und Professoren davon sprechen, in: DIE ZEIT vom 23. April 2020, S. 35.

(17 Ebd.

Weitere Informationen:

Link zur Veröffentlichung beim Verlag Kettler in Dortmund; hier:

 

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