BERICHT: Werkstattgespräch „Fassade“ – Selbstermächtigung durch Repräsentation von Roma-Architektur in der Nordstadt

Ausgelassene Stimmung beim Werkstattgespräch zum Fassaden-Projekt. Fotos: Interkultur Ruhr

Ein Kommen und Gehen in der „Werkstatt“ war es in der vergangenen Woche, als dort, in der Mallinckrodtstraße 57, das Projekt „Faţadă / Fassade“ vorgestellt wurde. Auf dem benachbarten Nordmarkt wird gerade das jährliche Dortmunder Roma Kulturfestival Djelem Djelem mit einem Familienfest eröffnet. In der Werkstatt sind Architektur-Modelle von Häusern im Stil von Roma-Architekturen in Rumänien zu sehen. AnwohnerInnen aus der rumänischen Roma-Gemeinschaft des Dortmunder Nordmarkts haben die Modelle selbst entworfen und gebaut. Einer der Entwürfe wurde vor kurzem an einem Wohnhaus in der benachbarten Schleswiger Straße 31 umgesetzt.

Selbstorganisation Romano Than (Haus der Roma) kultiviert das Leben von Roma in der Nordstadt

(v.l.:) Gabor Junior (Metallbau), Hassan Adzaj (Romano Than), Christoph Wachter (Künstler), Karola Geiß-Netthöfel (Regionaldirektorin RVR), Jörg Stüdemann (Stadtdirektor), Roger mit Sohn (Werkstatt), Andreas Koch (GrünBau), Johanna-Yasirra Kluhs (Interkultur Ruhr), Mathias Jud (Künstler), Jonuz, Vasile (beide Werkstatt), Gabor Senior (Metallbau)

Kurz vor 15 Uhr füllt sich der Raum. Interkultur Ruhr hat gemeinsam mit der Stadt Dortmund, Künstlern und lokalen AkteurInnen zum Werkstattgespräch eingeladen. Begrüßt werden die Gäste von Karola Geiß-Netthöfel, Regionaldirektorin des Regionalverbands Ruhr, Jörg Stüdemann, Kulturdezernent der Stadt Dortmund, und Johanna-Yasirra Kluhs, Co-Kuratorin bei Interkultur Ruhr.

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Dass die Idee gerade in der Dortmunder Nordstadt umgesetzt wurde, liegt unter anderem an der regen Aktivität von Roma-Selbstorganisationen wie Romano Than, die ein geeignetes Umfeld für solch ein Vorhaben bereiten. Hassan Adzaj und Marin Claudio berichten von ihrer Initiative, die soziale Arbeit ebenso wie vielfältige kulturelle Aspekte umfasst. Die Ideen der Künstler Christoph Wachter und Mathias Jud, die das Projekt „Faţadă / Fassade“ ins Leben gerufen haben, sind hier auf fruchtbaren Boden gefallen.

Ihren Anfang nahm die Geschichte 2016 mit einer Recherche-Reise nach Rumänien, die Wachter und Jud mit einer Gruppe befreundeter Roma-AkteurInnen auf Einladung von Interkultur Ruhr unternahmen. Auch dort werden Roma heute systematisch diskriminiert, leben abgedrängt, meist in provisorischen Behausungen hinter Industriezonen jenseits der Städte und Dörfer. Ein außerhalb Rumäniens nahezu unbekanntes Phänomen ist die spezifische Bauweise rumänischer Roma, die sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat, mit ihren originellen architektonischen Farb- und Formensprachen.

Faţadă: Roma-Architektur als Stimme der Selbstermächtigung inmitten von Ausgrenzung

Besonders beeindruckt hat die Reise-Gruppe der emanzipative Aspekt dieser manchmal generationenübergreifenden Bautätigkeit, die von den Familien häufig in Eigenarbeit geleistet wird.

Der kulturelle und oft sehr individuelle Ausdruck, den sich hierbei eine seit Jahrhunderten zum Schweigen verurteilte Bevölkerungsgruppe verschafft, ist ein Akt der Selbstermächtigung.

Christoph Wachter und Mathias Jud befassen sich in ihrer künstlerischen Arbeit seit vielen Jahren mit Machtstrukturen und mit der Frage, was es bedeutet, in einer Gesellschaft kein Gehör und keine Sichtbarkeit zu erfahren. In Europa zählen Roma zu den Menschen, die am stärksten durch soziale Ausgrenzung und strukturelle Gewalt von einer öffentlichen Wahrnehmung und Selbstrechtfertigung ausgeschlossen sind.

Überall sind sie von den Mehrheitsgesellschaften abgeschnitten. Wachter und Jud thematisieren diese Missstände und durchbrechen Vorurteile, indem sie den Betroffenen eine Stimme verleihen. Im Projekt „Hotel Gelem“ zum Beispiel haben sie mit Roma-Gemeinschaften in Mazedonien, im Kosovo, in Frankreich, Italien und Deutschland zusammengearbeitet.

Politische Dimension: Kampf um Repräsentation und Gestaltungsmacht in urbanen Räumen

Djelem Djelem 2019: Familienfest auf dem Nordmarkt

Das Projekt „Fassade“ betrifft eine politische Dimension urbaner Räume und trägt die Frage von „Repressionen und Repräsentationen im Stadtraum“ ins Ruhrgebiet: Wer kann entscheiden, wie unsere Städte aussehen? Wer gestaltet unsere Gesellschaft? Wessen Stimmen werden gehört?

Als die Künstler und ihre GefährtInnen verschiedenen Verbindungen in der Region nachgingen, stießen sie auf die rumänische Roma-Community am Dortmunder Nordmarkt. 2017 konnte mit Hilfe der GrünBau gGmbH in der Mallinckrodtstraße eine Werkstatt für das Projekt eingerichtet werden, um gemeinsam mit lokalen AkteurInnen der Frage nachzugehen, wie ein selbstbewusstes Zeichen ihrer Kultur sichtbare Gestalt im Stadtraum annehmen könnte.

An das Thema der rumänischen Roma-Architektur musste man sich erst herantasten. Wie kann man einem Phänomen, das sonst verdrängt wird, zur Sprachfähigkeit und zu anerkannter Bedeutung verhelfen?

Maßstabsgetreue Modelle nach Vorbild rumänischer Roma-Architektur mit utopischem Element

Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene aus der Community haben über ein Jahr lang viel Zeit damit verbracht, maßstabsgetreue Modelle nach dem Vorbild der rumänischen Häuser aus Holz anzufertigen.

Sechs davon sind in der Werkstatt-Ausstellung zu sehen, kleinere und größere, teilweise übermannsgroß, in bunten Farben oder in Marmor-Optik, detailreich und mit fantasievollen Ornamenten geschmückt.

Ein utopisches Moment ist spürbar an diesen Objekten, die 2020 auch im Hartware MedienKunstVerein im Dortmunder U ausgestellt werden sollen. Sie bilden die Grundlage, auf der die Gruppe schließlich eine Hausfassade in der Schleswiger Straße 31, etwa 300 Meter entfernt, in gemeinschaftlicher Arbeit neu gestalten konnte.

2018 hat die Stadt Dortmund das Haus gekauft. Für das Modell der Fassade wurde ein Bauantrag gestellt und bewilligt, und in den letzten Monaten haben die Beteiligten in Eigenarbeit die Umgestaltung realisiert. Nach technischen Vorarbeiten mit Hilfe von GrünBau und der Anbringung der plastischen Elemente haben sie die Fassade eigenhändig bemalt. Das Familienunternehmen Gabor hat die feinteiligen Metallarbeiten übernommen.

„Ein beeindruckender Beitrag zur Gestaltung des interkulturellen Lebens in der Region“

Es sind keine lauten Farben – ein gedeckter Kontrast aus Olivgrün, einem blassen Gelb und einem fliederfarbenen Violett in einem kunstvoll variierenden geometrischen Muster von Dreiecken und Rauten. Gerahmt wird die Fassade von einem silbern blitzenden Vordach im Erdgeschoss und der Regenrinne ganz oben mit verzierten Applikationen, die an Wasserspeier erinnern.

Vier kreisförmige goldene Embleme mit Medusenhäuptern verleihen der Fassade etwas Stolzes, Prunkvolles, das mit dem repräsentativen Dekor benachbarter Altbauten konkurrieren kann. Sie fügt sich ein ins Straßenbild und sticht doch hervor, als ein Zeichen, als architektonisches Symbol für einen Anspruch auf Zugehörigkeit zu einer vielfältigen Stadtgesellschaft.

„Das Projekt „Fassade“ ist ein beeindruckender Beitrag zur Gestaltung des interkulturellen Lebens in der Region, auf das wir stolz sein können“, sagt Karola Geiß-Netthöfel. „Dieses Haus wird viele, viele Jahre bleiben“, bestätigt Jörg Stüdemann: „Es ist vorbildlich darin, dass es Aspekte von Wohnen, Arbeit und Kreativität zusammenbringt.“

Der unerfüllte Traum von einer gerechten Gesellschaft für alle wird weitergeträumt!

Und vielleicht war es nicht die letzte Aktion dieser Art. Die Werkstatt in der Mallinckrodtstraße 57 soll mindestens noch bis zum Frühjahr 2020 weiterbestehen, und die Beteiligten arbeiten bereits an neuen Modellen.

„Wer die Fassade aufmerksam mit dem Modell in der Werkstatt vergleicht, wird erkennen, dass auf dem Dach in der Schleswiger Straße zwei Türme fehlen, die aus baulichen Gründen hier nicht realisiert werden konnten“, bemerkt Johanna-Yasirra Kluhs.

„Dieser unerfüllte Traum steht für mich symbolisch für das noch längst nicht vollendete Werk einer gerechten Gesellschaft. Ich wünsche mir, dass die Fassade ein aktiver Motor für die weitere Arbeit an einer solchen ist – und die zwei Türme vielleicht irgendwann das Dortmunder Rathaus schmücken.“

Weitere Informationen:

  • „Faţadă /Fassade“ ist ein Projekt von Interkultur Ruhr und der Stadt Dortmund in Kooperation mit Roger, Brazai, Vasile, Georghiza, Cristina, Hagi, Cernat, Stefan, Alex, Memo, Constantin, Christoph, Mathias, u.v.a. Partner: Roma Kulturfestival Djelem Djelem, GrünBau gGmbH.
  • Interkultur Ruhr: www.interkultur.ruhr
  • Hompage der Künstler Christoph Wachter und Mathias Jud: www.wachter-jud.net

 

Werkstattgespräch / Djelem Djelem 2019: Eindrücke

 

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