DGB-Demo zum 1. Mai und anschließende Diskussion im Westfalenpark

Über: Mindestlohn, Tarifbindung, soziale Teilhabe, Bildungsgerechtigkeit, Zukunftsfonds Ausbildung

Blick von der DGB-Bühne auf die sich allmählich füllende Festwiese Nordstadtblogger

Zum ersten Mal seit drei Jahren ging es gestern wieder vom Platz der Alten Synagoge bis zum Westfalenpark. Nach der weitgehenden Aufhebung von Corona-Restriktionen – ist es wie ein Aufatmen: Etwa 1200 Teilnehmer*innen beteiligten sich in Dortmund am Demonstrationszug des DGB zum 1. Mai. Besser noch war die darauffolgende Veranstaltung auf der großen Wiese südwestlich des Fernsehturms besucht. Sicher nicht allein wegen der aufgebauten Bühne für die abschließende Kundgebung, einschließlich einer anspruchsvollen Podiumsdiskussion mit den Spitzenkandidat:innen demokratischer Parteien, die bei der kommenden Landtagswahl in NRW antreten. Statt zu verfolgen, wie die sich gegenüber zentralen gewerkschaftlichen Forderungen rund um das Thema „soziale Spaltung“ positionieren, mag bei tendenziell frühlingshaften Temperaturen für viele Besucher:innen dann doch das begleitende Drumherum anziehender gewesen sein: beim kunterbunten Kultur- und Familienfest, wo sich wirklich alle wohlfühlen konnten.

Angesichts bevorstehender Landtagswahlen: Nicht egal, wer in NRW regiert

Nachvollziehbar mithin, dass bei einem solch reichhaltigen Angebot der Zulauf Richtung DGB-Bühne relativ überschaubar blieb. Individuelle Erlebniswelten, entstanden durch zwischenmenschliche Begegnungen im analogen Raum, und zumal nach der langen Karenzzeit in den pandemischen Hochphasen – sie versprechen in der Regel nachhaltigere Eindrücke, verglichen mit komplexen Gedankenkonstruktionen. Auch wenn diese etwaig parteipolitisch motivierte Versprechen mit geringer Halbwertszeit beinhalten, über die es sich später noch trefflich zu ärgern lohnt.

Michael Kötzing, ver.di-Geschäftsführer NRW

Wie dem auch sei, über Strukturvoraussetzungen und Rahmenbedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens muss nun einmal gesprochen werden. Zwar erscheinen viele Problemstellungen auf den ersten Blick abstrakt, doch zeitigen sie ihre Wirkungen zumeist runter bis ins altägliche Leben.

Und sie werden – zumindest teilweise – über politische Entscheidungen geschaffen. Deren Legitimation wiederum in demokratisch-partizipativen Prozessen entsteht, zu denen auch wiederkehrende Wahlen gehören. So wie am 15. Mai dieses Jahres in Nordrhein-Westfalen.

Wofür Parteien ihre Programme aufstellen. Und hier zeigten sich eben gewaltige Unterschiede, betont Michael Kötzing, Geschäftsführer des ver.di-Bezirks NRW. Insofern sei es keineswegs egal, wer zukünftig in Nordrhein-Westfalen regiere. Die Gewerkschafter haben hier durchaus dezidierte Vorstellungen, orientiert an den jeweiligen Realisierungsmöglichkeiten ihrer (arbeitsmarkt-)politischen Forderungen, soviel ist klar.

Binsenweisheit, politisch gewendet: Ohne die Zähne zu putzen, wird’s irgendwann braun

Zu parteipolitischen Empfehlungen lassen sich die Gewerkschaften freilich nur selten hinreißen. Haben jedoch ein offenes Ohr, wenn sie – wie nun am 1. Mai geschehen – zu sich auf die Bühne Vertreter:innen jenes politischen Spektrums bitten, das sich ohne Einschränkung innerhalb der Spielregeln bundesrepublikanischer Demokratie verorten kann.

Stichwort: Demokratie. In gewisser Weise ist es für den DGB noch entscheidender, dass sich mündige Menschen überhaupt an den Wahlen beteiligen, um ihre Stimme – innerhalb des demokratischen Spektrums – abzugeben. Denn: „Wählen ist wie Zähneputzen: Wenn man es nicht tut, wird es irgendwann braun“, warnt Michael Kötzing in seiner kurzen Ansprache.

Nazi-Demo am 1. Mai: Ein Teilnehmer des Aufzugs reißt ein Transparent herunter. Leopold Achilles | Nordstadtblogger

Demokratische Verhältnisse, die beinhalteten eben keine Selbstläufer, sondern sie müssten verteidigt werden. Nach innen wie nach außen. Durch Teilhabe und Haltungen, die etwa für Weltoffenheit, Toleranz, Solidarität stehen, dagegen gesellschaftliche Spaltungen, Rassismus, Ausgrenzung etc. ablehnen. – Hier bedarf es zuweilen deutlicher Worte.

So zeigt sich Ulrike Hölzer, Erste Bevollmächtige der IG Ruhr-Mitte, angesichts des gestrigen Nazi-Aufmarsches, der für den geschichtsträchtigen Tag ebenfalls in der Stadt angekündigt worden war, wenig beeindruckt: „Lasst Euch gesagt sein, wir wollen Euch nicht in Dortmund, wir wollen Euch nicht in NRW, wir wollen Euch überhaupt nirgendwo. Wir wollen für Frieden, Freiheit und Demokratie stehen. Und das tun wir heute hier.“

1. Mai 2022 steht unter besonderen Vorzeichen – und das nicht nur in Dortmund

Es war am 1. Mai in Dortmund die landeszentrale Abschlusskundgebung des DGB. Nichts ungewöhnliches für den ehemaligen Industriestandort mit langer Tradition und dem einigermaßen erfolgreich vollzogenen Strukturwandel. Doch der diesjährige Aufmarsch verlief unter besonderen Vorzeichen, in doppelter Hinsicht. Nach drei Jahren – infolge erzwungener Corona-Abstinenz – konnte wieder eine Massenversammlung unter freiem Himmel stattfinden.

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Mit der ihr eigenen Strahlkraft, wie in guten alten Zeiten – und dazu in der vielbeschworenen Herzkammer jener Sozialdemokratie, die zwischenzeitlich zwar unter Infarkt-Neurose litt, sich mittlerweile jedoch wieder einigermaßen berappelt hat – vorläufig jedenfalls. Denn in vierzehn Tagen steht die NRW-Landtagswahl an und damit das Urteil der teilnehmenden Bürger*innen darüber, ob es denn weiter Schwarz-Gelb in Düsseldorf sein soll.

Was indes bedrückender herausstach an diesem Internationalen Maifeiertag – in NRW nach dem Feiertagsgesetz des Landes offiziell als „Tag des Friedens und der Völkerversöhnung“ begangen – das war: er fällt zeitlich in einen Krieg, der gerade in Europa ausgefochten wird, für viele in gefühlter Nähe.

Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine kann nicht ignoriert werden

Die brutalen Auseinandersetzungen in der Ukraine der Gegenwart sind zwar geographisch noch weiter weg als es vor mehr als zwei Jahrzehnten – von März bis Juni 1999 – der völkerrechtswidrige NATO-Angriffs- und Luftkrieg gegen Jugoslawien war. Die Konsequenzen des russischen Überfalls auf die ehemalige Sowjetrepublik sind jedoch in ihren zerstörerischen Ausmaßen auf die Infrastruktur offenbar nicht nur ungleich schlimmer.

Sondern auch politisch weitreichender für die globale Friedensarchitektur: der kalte Krieg feiert Wiederauferstehung. Und weil in diesem Fall die Falschen zuerst ihre Präzisionsbomben werfen, kann schließlich medial präziser festgehalten werden, was die Opfer eines jeden Krieges eigentlich betrifft – gleich wo auf der Welt: reales, unermessliches Leid

An der menschenverachtenden Dimension dieses (wie eines jeden) Krieges, daran kann am 1. Mai – also dem Tag, wo eigentlich Öffentlichkeit zur Unterstützung sozialer Kämpfe für Gerechtigkeit geschaffen werden soll – auch in Dortmund niemand vorbeischauen. Keine ernstzunehmende politische Kraft kommt hier ohne positionierende Stellungnahme davon.

Solidarität mit Menschen in der Ukraine, Geflüchteten und (bela)russischer Opposition

Die Haltung des DGB zur Kriegsverantwortung ist so eindeutig wie unwidersprochen in der breiten Mitte der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Auch auf der Festwiese im Westfalenpark spiegelt sich: sie liegt allein bei Russland. Die spezielle Vorgeschichte der gegenwärtigen Katastrophe, mit einer NATO, die beispielsweise den Hals in Sachen Osterweiterung nicht voll bekam, sie rechtfertigt nichts dergleichen, was aus Moskau am 24. Februar befohlen wurde.

Anja Weber, Landesvorsitzende des DGB NRW Thomas Engel | Nordstadtblogger

Anja Weber, NRW-Landesvorsitzende des DGB, spricht unmissverständlich von einem „schrecklichen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine“. Seit über zwei Monaten hielte „nun das Zerstören und Morden an“. Unendliches Leid, das Russland „durch seinen völkerrechtswidrigen Angriff über die Ukraine gebracht“ habe.

„Unsere Solidarität gilt den Menschen in der Ukraine“, macht sie klar. Ebenso wie den Menschen in Russland und Belarus, „die im Moment dramatische Repressionen erfahren, weil sie ihre demokratischen Rechte wahrnehmen“. Und all denen, die flüchteten, „weil sie hier auf unsere Unterstützung angewiesen sind“. Die Kämpfe müssten sofort beendet, jede weitere Eskalation verhindert und die territoriale Integrität der Ukraine wieder hergestellt werden, so die Gewerkschaftsführerin.

„Unsere Devise ist: Ausrüsten ja, Aufrüsten nein!“

Soweit, so gut. Die Debatte auf Bundesebene konfligiert jedoch auf anderer Ebene, wenn es nämlich um die Lieferung von „schweren Waffen“ an das angegriffene Land geht. Froh sei sie, „dass Deutschland verantwortungsvoll vorgeht“, sagt Anja Weber. Doch um Zukunft zu gestalten, sei es notwendig, „dass die Logik von Aufrüstung und Abschreckung die Welt nicht dauerhaft prägt“.

Ostermarsch 2022 in Dortmund Klaus Hartmann | Nordstadtblogger

Die Ukraine, sie habe natürlich das „Recht auf Selbstverteidigung“, doch einfache Lösungen für den Frieden gebe es nicht. „Was Politik jetzt tun muss, darüber kann und darf jetzt diskutiert werden.“ Sie spricht sich zwar für eine angemessene Ausstattung der Bundeswehr aus, sieht aber das sog. „Zwei-Prozent-Ziel“ (an Rüstungsausgaben relativ zum Bruttoinlandsprodukt) mit Skepsis.

„Unsere Devise ist: Ausrüsten ja, Aufrüsten nein“, erklärt sie unter dem Beifall der Anwesenden. Zumal es die Befürchtung der Gewerkschafter ist: „Die Sanktionen und Rüstungsausgaben dürfen nicht dazu führen, dass an anderer Stelle gespart wird.“ Gemeint sind damit: „Ausgaben für Demokratie und Soziales“, die dürften nicht gekürzt werden, zumal wegen der Pandemie die soziale Spaltung in NRW noch einmal gewachsen sei.

Schere von Ungleichheiten im Bildungssektor durch Pandemie weiter auseinander gegangen

Das vermag auch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) nicht zu bestreiten, der sich vor dem Gesamt der anderen Parteikandidat:innen in einen Dialog mit der Gewerkschafterin begibt: „Ich glaube, an manchen Themen kann man ja nicht vorbeischauen.“

Ministerpräsident Hendrik Wüst, hier mit Anja Weber vom DGB im Dialog Nordstadtblogger

Kinder mit weniger Unterstützung von zuhause, die seien auch in der Pandemie „viel zu viel auf sich alleine gestellt gewesen“, weiß er. „Das ist der Schmerzpunkt, den wir seit vielen Jahren haben.“

Nachholpakete, das sei die größte Aufgabe der nächsten Zeit, um Versäumtes, soweit es geht, aufzuholen. Konkret wurden in der ablaufenden Wahlperiode die (nicht überall unstrittigen) „Talentschulen“ eingeführt, bis heute 60 an der Zahl landesweit. Die seien besonders gut ausgestattet und in benachteiligten Stadtteilen gelegen. Und sollen in NRW nun flächendeckend eingeführt werden, um besagte Schere zu schließen.

Die Erfolgswahrscheinlichkeit einer solchen Maßnahme sei dahingestellt; die meisten Expert:innen hätten vermutlich arge Bedenken, wäre sie nicht massiv flankiert von einem ganzen Bündel weiterer Interventionen mit ähnlicher Stoßrichtung.

Der Weg aus den Niedriglöhnen führt nur über höhere Tarifbindungen

Der Fokus richtet sich nun auf die eigentlichen gewerkschaftlichen Kernthemen. Es geht einmal um den berüchtigten Niedriglohnsektor, in dem 23 Prozent der Beschäftigten in NRW, vor allem Frauen arbeiten – „ein Skandal“, stellt Gewerkschaftschefin Weber fest. Ihre Konsequenz lautet: Politik müsse sich wieder an den Schwächsten in der Gesellschaft ausrichten. Schließlich heißt es nicht umsonst: Eine Gesellschaft misst sich daran, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht.

Daher begrüßt sie die beabsichtigte Anhebung des Mindestlohns seitens der Berliner „Ampel“ auf 12 Euro ausdrücklich. Weiß aber auch: Dabei handele es sich lediglich um eine Lohnuntergrenze; aus den Niedriglöhnen führten letztendlich nur Tarifverträge. Die aber sind zunehmend fragil: „Viele Arbeitgeber versuchen der Tarifbindung zu entgehen“, kritisiert sie. Da könnten sich etwa Unternehmer der Baubranche nur schlecht über einen Mangel an Fachkräften beklagen, wenn sie gleichzeitig tarifliche Mindestlöhne aufkündigten. Denn das macht eine Anstellung nicht attraktiver.

Das weiß im Prinzip auch der CDU-Ministerpräsident. Auf die Frage, was das Land tun könne, antwortet Wüst zwar: Bei schlecht bezahlten Jobs oder Arbeitslosigkeit sei es wichtig, zu qualifizieren, „zu unterstützen, dass besser bezahlte Jobs angenommen werden müssen“. Doch im Übrigen sei er dafür, dass „auch unsere Unions-Bundestagsfraktion zustimmt zu den 12 Euro Mindestlohn“. Was eine höhere Tarifbindung nun betrifft, da sei er, Wüst, auf jeden Fall mit dabei. Unterschiedliche Bindungen seien bekanntlich auch einem fairen Wettbewerb der Branchen untereinander abträglich.

Entlastung des Personals – Attraktivierung des Berufs

Da könne die Landesregierung doch mit gutem Beispiel vorangehen, schlägt Anja Weber vor. Indes, die Praxis wirkt holpriger. Just am 1. Mai verstrich beispielsweise ein von den Beschäftigten der Uni-Kliniken gesetztes Ultimatum – für einen Tarifvertrag „Entlastung“, wie von ver.di gefordert. Obwohl es hier offenbar bereits positive Signale seitens des Landes gegeben hat. Wüst bestätigt: „Den Tarifvertrag ‚Entlastung‘, wir wollen ihn.“ Dafür stünde er auch ganz persönlich. Doch zunächst wird es seitens der Beschäftigen zeitnah erste Konsequenzen geben …

Thomas Kutchaty, Spitzenkandidat der SPD Nordstadtblogger

Die Argumentationsfigur, der sich im Grunde niemand erwehrt, ist die: Entlohnung habe viel mit Qualität zu tun, sagt Weber. Daher führen tarifvertragliche Festlegungen nicht zu weniger, sondern zu mehr Arbeit.

Die aber muss auch in dem Sinne attraktiv sein, dass ihr Belastungsniveau nicht zu hoch ist, wie etwa bei der Intensivpflege in den Kliniken. Hier muss demnach für Entlastung gesorgt werden, sonst läuft qualifiziertes Personal davon.

Für Thomas Kutschaty (SPD) – danach gefragt, was anders werden müsse für die Beschäftigen in NRW bzw. was eine sozialdemokratisch geführte Landesregierung hier tun könne – steht sofort das Thema „Tariftreue“ im Mittelpunkt. Zumal er sich, nach den vorangegangenen Ausführungen des Ministerpräsidenten, öffentlich fragen kann, weshalb das entsprechende Gesetz denn dann seitens der schwarz-gelben NRW-Landesregierung kassiert worden sei?

Da müsse dringend etwas getan werden. Ebenso wie beim Arbeitsschutz und dem Schutz von Betriebsräten bzw. von deren Gründung.

Forderung nach einem Tariftreuegesetz gegen Lohndumping

Jules El-Khatib betont für Die Linke, dass für seine Partei erst einmal entscheidend sei, „dass es nicht nur leere Worte gibt“. Als Negativbeispiel nennt er die für das Gesundheitswesen viel diskutierte wie nachvollziehbare Dringlichkeit einer „Entlastung“ des Personals. Doch passiere da seitens der anderen Parteien einfach nichts.

Jules El-Khatib (Die Linke) Thomas Engel | Nordstadtblogger

In Sachen Tarifbeständigkeit richtet sich die Gewerkschaft konkret an das Land NRW mit der Forderung, öffentliche Aufträge – immerhin von Steuergeldern bezahlt – nur an solche Unternehmen zu vergeben, „die nach Tarif bezahlen“, und nicht an solche, „deren Geschäftsmodell Lohndumping ist“. Hier müsste daher ein „Tariftreuegesetz“ her. „Auch das steht am 15. Mai zur Wahl“, bedeutet Anja Weber.

Für Jules El-Khatib geht das nicht weit genug. Neben einem effektiven Gesetz bräuchte es einerseits „wirkungsvolle Kontrollen“, sagt er; andererseits müsse genügend Personal dafür eingestellt werden. Am Ende des Tages müssten die Beschäftigen dann mehr Geld rauskriegen, prognostiziert er unter Beifall aus dem Publikum.

Hendrik Wüst, gleichwohl von der Bedeutung tariflicher Bindungen überzeugt, sieht das durchaus kritisch: Es sei ja nicht so, dass sie bei öffentlichen Ausschreibungen die große Auswahl hätten, beklagt er. Bei einer Baustelle etwa könne man mittlerweile froh sein, „wenn sich überhaupt noch jemand drauf bewirbt“. Insofern habe das Problem durchaus zwei Seiten. Für ihn könnten Allgemeinverbindlichkeitserklärungen hier eine Lösung darstellen.

Bildungsgerechtigkeit – ein Dauerbrenner im Diskurs um soziale Spaltung

Von einer neuen Landesregierung erwartet die Gewerkschaft wohl grundsätzlich, dass sie für (mehr) Verteilungsgerechtigkeit sorge. Ebenso, dass sie einen energisch vorangetriebenen ökologischen Wandel auch sozial gestalte. Zu ihren weiteren Kernforderunen gehört, und dies gleichsam an zentraler Stelle: „Gute Bildung für alle“.

Wie auch von vielen Bildungsforscher:innen seit Langem kritisiert wird: Nicht die Talente entscheiden über die Perspektive junger Leute, sondern ihre Herkunft. In kaum einem anderen europäischen Land sind (auch) deshalb soziale Hierarchien dermaßen undurchlässig wie in der Bundesrepublik. „Wer hat, dem wird gegeben“, das charakterisiere das NRW-Wirtschaften in Sachen Bildung, bemängelt Anja Weber.

In einem Zusammenhang damit steht in den Augen von Kritiker:innen die Reformbedürftigkeit des bundesdeutschen Schulsystems, näherhin seine Dreigliedrigkeit in der jetzigen Form. Über die Zukunftsperspektiven junger Menschen würde viel zu früh entschieden, sofern Schüler:innen bereits nach der vierten Klasse in die verschiedenen Zweige getrennt werden. Wodurch Kindern aus deprivilegierten Familien geringere Chancen eingeräumt werden, früh Versäumtes aufzuholen, weil sie mit anderen nicht länger gemeinsam lernen dürfen.

Zur schwierigen Situation an Schulen im Bundesland NRW

Nina Murawski, Dortmunder Personalrat für Grundschulkräfte und in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft aktiv, erzählt von den schwierigen Arbeitsbedingungen vor Ort, insbesondere wegen der Corona-Maßnahmen, von Flüchtlingskindern, und dass die Klassen zu groß seien. Das bildet sich in einer dünner werdenden Personaldecke ab: „Der Krankenstand ist so hoch wie nie zuvor“, sagt sie.

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Zudem gäbe es viele leerlaufende Lehrerstellen, „weil kein ordentlich ausgebildetes Personal da ist“. Gerichtet an die Politik fragt sie: „Was für Maßnahmen haben Sie ganz konkret geplant?“ Zwecks Motivation, „um diesen tollen Beruf zu machen“. Stichwort zum Beispiel: „A13“ (gemeint ist die Vergütungsgruppe).

Es herrscht weitgehend Einigkeit unter den Parteien: A13/E13, gleichermaßen für alle Lehrkräfte an allen Schulformen, das ist ein Muss. Ungleiche Bezahlung, dass könne heute keiner mehr begründen, erläutert Thomas Kutchaty. Und bei größeren Klassen, da müsse eben mehr Geld in die universitäre Ausbildung gesteckt werden, um das Lehrpersonal entsprechend aufstocken zu können, fordert Jules El-Khatib.

Entlastung des Lehrpersonals ist dringend geboten, aber sie kostet eben Geld

Darüber hinaus ginge es insgesamt um eine bessere Ausstattung der Schulen, um mehr Bildungsmittel, aber auch darum, Lehrer:innen durch weitere Sozialarbeiter:innen zu entlasten.

Mona Neubaur (Grüne), Jules El-Khatib (Die Linke) Thomas Engel | Nordstadtblogger

Aus demselben Motiv heraus möchte Grünen-Politikerin Mona Neubaur mehr Verwaltungsprofis an den Schulen. Doch letztendlich seien multiprofessionelle Teams vonnöten, um etwa Inklusion zu gewährleisten.

Und um „Ungleiches ungleich zu behandeln“, erläutert Thomas Kutchaty. Dafür bedürfe es eben entsprechender Ressourcen. Der Sozialdemokrat erinnert sich, während der Corona-Zeit: „Manch einer ist da zum Software-Spezialisten geworden“. In solchen Bereichen ginge es um Entlastung. Die freilich nicht kostenlos zu haben ist, das ist allen klar.

Naheliegendster Ansprechpartner in der Runde ist FDP-Frontmann Joachim Stamp, zugleich stellv. Ministerpräsident in NRW. Der allerdings verweist auf die Abwesenheit des Landesfinanzministers und CDU-Mitglieds, Lutz Lienenkämper. Zudem habe es auch in den Vorgängerregierungen Versäumnisse gegeben, was die Lehrerausbildung anginge, relativiert er zielsicher eine etwaige Verantwortung der jetzigen Düsseldorfer Landesregierung. Schließlich gäbe es noch eine enorme demographische Lücke, so dass hier die Förderung von Quereinstiegen in den Blick geraten müsse.

Ausbildungsplätze: Zehntausende junge Menschen gehen jährlich leer aus

Ebenfalls ganz oben auf der gewerkschaftlichen Agenda und gestützt von der Gewerkschaftsjugend ist die Einrichtung eines umlagefinanzierten „Zukunftsfonds Ausbildung“, verbunden mit einer Ausbildungsgarantie. Denn in jedem Jahr fänden zehntausende junge Menschen keinen geeigneten Ausbildungsplatz, hingen im Übergangssystem, berichtet Anja Weber.

Im Jugendberufshaus arbeiten Arbeitsagentur, Jobcenter und Stadt Dortmund Hand in Hand.
Im Jugendberufshaus soll jungen Leuten in Dortmund geholfen werden, eine passende Ausbildungsstelle zu finden. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Nach einem jahrzehntelangen Defizit an Ausbildungsplätzen müsse jetzt endlich umgesteuert und dabei alle Hebel genutzt werden, die es gäbe. Die Idee, einen „Zukunftsfonds“ einzurichten, basiert auf dem Gedanken, Ausbildungsbetriebe dadurch zu entlasten, dass dort jene Betriebe einzahlen müssen, die nicht ausbilden.

Für den Christdemokraten Hendrik Wüst zielt die vorgeschlagene Maßnahme dagegen einseitig und verkürzend auf nur einen Problemaspekt, wo doch eine der größten Schwierigkeiten von Ausbildungsbetrieben gerade darin bestünde, dass sich niemand mehr auf angebotene Stellen bewirbt. Mit anderen Worten: hier wird der Ball zurückgeschoben zu den jungen Menschen selbst und deren vermutete Haltung wird zum Gegenstand der Kritik, konkret: Jeder wolle heute Akademiker werden, meint Wüst.

Sein Punkt ist daher: „Das Matching passt nicht, es gibt junge Leute, die haben keine Lehre, und es gibt Ausbildungsbetriebe, die kriegen die jungen Leute nicht.“ Daher kassiere die Umlage nur den einen Teil, der andere sei aber, mehr junge Leute dazu zu motivieren, eine Ausbildung zu machen. Da bräuchte es, unabhängig von der Herkunft, im Rahmen der schulischen Pflichtpraktika, dass auch mal in eine Werkstatt, eine Fabrik gegangen werde. „Da sind wir eher bei einer Problemlösung als beim Aufbau eines Umlagesystems.“ Mehr junge Leute mit Bereitschaft zu einer Lehre, die hätte er gern. „Nicht alle müssen Abi machen“, heißt es mit einem guten Schuss von selbstherrlichem Paternalismus.

Abgesicherte Transformationen zum Schutze der eigenen Wirtschaft

Kommunale „Transformationsbeiräte“ – diese neue Initiative entstammt aus dem Umfeld des Dortmunder DGB und zielt darauf ab, den Strukturwandel – aufbauend auf den Standards von „Guter Arbeit“ und in Kooperation mit Wirtschaftsförderung wie anderen lokalen Akteuren – aktiv zu gestalten, um den Standort für die Zukunft zu sichern.

„Transformationsbeiräte“ für eine aktive Industriepolitik, um den Standort NRW nicht aufs Spiel zu setzen – das müsse Chefsache sein, meint die Gewerkschaft. Thomas Kutschaty fordert zusätzlich einen Transformationsfonds, um die heimische Produktion im Land zu sichern. Während Hendrik Wüst selbstgewiss beruhigt: „Die wichtigen Dinge, Frau Weber, sind bei mir natürlich Chefsache. Und das bleiben sie auch ab dem 15. Mai.“ Wenn er dann noch regiert, versteht sich.

Auch die grüne Spitzenkandidatin Mona Neubaur sieht angesichts der Klimakrise und ihrer ineinandergreifenden Folgen die Politik in der Pflicht. Nämlich zusammen mit den Gewerkschaften und Unternehmen von Transformation nicht nur zu reden, sondern sie auch umzusetzen. Konkret etwa bei der Förderung erneuerbarer Energien.

Entschuldung der Kommunen als Schlüsselfrage …

So zumindest sieht es Gewerkschafterin Anja Weber, weil davon finanzielle Handlungsspielräume abhängen. Und da habe das Land viel mehr Möglichkeiten. „Die Entschuldung der Kommunen muss bei einer neuen Landesregierung oben auf der Tagesordnung stehen“, fordert sie. Andere Bundesländer hätten es gemacht, NRW nicht.

(v.l.:) Anja Weber (DGB), Thomas Kutschaty (SPD) und Mona Neubaur (Grüne) Thomas Engel | Nordstadtblogger

Konkret, nimmt SPD-Mann Kutschaty den Faden auf, habe Schwarz-Gelb den von der Vorgängerregierung (unter Hannelore Kraft) aufgelegten Stärkungspakt Stadtfinanzen, wo fünf Milliarden an die Kommunen geflossen seien, auslaufen lassen, ohne ihn zu verlängern.

Olaf Scholz habe zudem als damaliger Finanzminister den Ländern angeboten, der Bund übernehme 50 Prozent der Altlasten, die andere Hälfte sollten sie tragen. Das wären im Falle NRWs jeweils elf Milliarden Euro gewesen, wurde aber seitens des Landes abgelehnt. „Das ist ein Skandal eigentlich.“ Jetzt wolle man das über den Koalitionsvertrag der „Ampel“ regeln, erklärt Kutschaty einen Strategiewechsel. „Denn wenn die Schwimmbäder geschlossen werden müssen, wenn die Schulen verfallen, dann ist das schlimm. Dann wenden sich die Leute ab.“

Dafür bräuchte es allerdings die Geschlossenheit der demokratischen Parteien gegenüber der Bundesregierung, mahnt Mona Neubaur, wie die Entschlossenheit einer Landesregierung. Die Bekämpfung von Kinderarmut, die Verkehrswende, Gebäudesanierungen, all das bedinge handlungsfähige Kommunen, damit die Menschen merkten, dass sich etwas bewegt.

Jules El-Khatib sekundiert: „Für uns ist klar, dass wir einen kommunalen Schuldenschnitt brauchen.“ Gleichzeitig müsste aber auch die Einnahmeseite steigen, am ehesten durch Steuererhöhungen, die auch den Kommunen zugute kämen. Das solle vor allem jene betreffen, die durch die Krise profitiert hätten, Stichpunkt: sie müssten „ihren gerechten Anteil an den Steuern zahlen“.

Landesregierung NRW: „Wir unterstützen die Kommunen … auf ganzer Linie“

Joachim Stamp, FDP, wegen eines Staus übrigens mit einiger Verspätung eingetroffen, daher an diesem Debattenpunkt quasi zum „Quereinsteigen“ gezwungen, ist sich demgegenüber ganz anderer Sachverhalte sicher, was das Thema Kommunalfinanzen betrifft:

Joachim Stamp (FDP), stellv. Ministerpräsident des Landes NRW Thomas Engel | Nordstadtblogger

„Da ist es mir wichtig, mal zu betonen, dass wir eine extrem kommunalfreundliche Landesregierung jetzt gewesen sind in den vergangenen fünf Jahren“. Das könnten Bürgermeister, Oberbürgermeister, Landräte auf Nachfrage bestätigen, behauptet er vor einem sich sichtlich amüsierenden Publikum.

Sein Beispiel: Volle Weitergabe der jüngsten Bundesgelder für ukrainische Flüchtlinge, wo doch ein Teil eigentlich den Ländern vorbehalten gewesen sei. „Wir unterstützen die Kommunen hier auf ganzer Linie, und so haben wir es in vielen anderen Bereichen auch getan.“

Schulden, ja, das sei ein Thema. Hier müsse man zu einem Ausgleich kommen, „der dann aber vorsieht, dass wir dann eine Schuldenbremse bei den Kommunen einführen“. So dass es zu keiner Neuverschuldung käme. – Als wären die Kommunen damals aus Jux und Tollerei in die eigene Schuldenfalle getappt, so dass dies heute bei angemessener Achtsamkeit und mit freundlicher Hilfe der Landesregierung locker umgegangen werden könnte.

Soziale Spaltung im Lande ist ein Fakt! – Was wäre dagegen zu unternehmen?

Abschließende Frage von Moderator Tom Hegermann, der damit erneut die allseits diagnostizierte soziale Spaltung in der Gesellschaft aufgreifen möchte: Was würden Sie in den kommenden Jahren dagegen tun?

Ausgaben für militärische Rüstung können mit fehlenden Sozialausgaben in ein nachdenklich stimmendes Verhältnis gesetzt werden. Thomas Engel | Nordstadtblogger

Jules El-Khatib von den Linken plädiert für eine Stärkung der Betriebsräte, eine Erhöhung der Tarifbindung, um der notorischen Lohndrückerei zu entgehen, siehe Baubranche, die dann über fehlendes Personal klagt. Und es müsse auf Berlin Druck gemacht werden, denn „das entscheidende Mittel, um diesen unglaublichen Ungerechtigkeiten der Vermögensverteilung zu begegnen, ist eine Vermögenssteuer“. Das Ziel, neben höheren Löhnen: dafür zu sorgen, „dass die Reichen mehr in die Kasse zahlen“. Dergleichen findet im Publikum natürlich wieder Anklang.

Schließlich macht der Sprecher für Die Linke noch eine in sozial engagierten Kreisen beliebte Gegenüberstellung auf. 100 Milliarden Sondervermögen für Kriegsgerät, spontan herbeigezaubert, aber man habe kein Geld für diese eine Milliarde, „die wir im Sozial- und Erziehungsdienst brauchen“, kein Geld, „allen Pflegekräften in diesem Land den Corona-Bonus zu geben“. Da liefe bei der Prioritätensetzung in Berlin deutlich etwas falsch, stellt er fest. Sowohl unter einer SPD-Regierung wie unter einer der CDU.

Forderung nach einer umfassenden Teilhabe für alle

Mona Neubaur betont für die Grünen die Unverzichtbarkeit von Gewerkschaften für eine offene, liberale Demokratie. Nennt den 1. Mai in Düsseldorf als Beispiel: die Putin-Versteher, Corona- und Klimakrisen-Leugner, „diese rechte Suppe“ hätte sich da zusammengetan, um die Veranstaltung des DGB zu stören. Dagegen gälte es, die Demokratie zu verteidigen.

Zweitens fordert sie eine „teilhabende Infrastruktur“: die Ausgaben zur Vorbereitung eines Rechtsanspruchs auf den Offenen Ganztag könnten erhöht, Investitionsmittel bereitgestellt werden bei der Krankenhausneuplanung (neben den Uni-Kliniken) sowie für eine bezahlbare Mobilität als Alternative zum eigenen Auto gesorgt werden.

Soziale Spaltung, die könne am besten durch Teilhabe aller Menschen bekämpft werden, sagt Thomas Kutchaty. Beginnend im Bildungsbereich und durch gerechte gute Löhne. „Dazu brauchen wir starke Gewerkschaften, starke Betriebsräte.“

Joachim Stamp wirft seinen Hut für „eine Wirtschaftspolitik“ in den Ring, „die gute Arbeitsplätze schafft und erhält“. Mit der Wachstumsorientierung seit 2017 sei es in NRW gelungen, die Rahmenbedingungen zu schaffen, „dass 400.000 versicherungspflichtige Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen entstanden sind“. Bei Regierungsübernahme habe man bundesweit auf den hinteren Plätzen rangiert, sich jetzt aber bis ins Mittelfeld vorgearbeitet, verkündet er stolz. – Ob es am 15. Mai die Wähler:innen überzeugen wird, bleibt abzuwarten.

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Reaktionen

  1. Erfolgreicher 1. Mai in Dortmund (PM Die Falken)

    Am Sonntag, dem Tag der Arbeit, beteiligten sich die Dortmunder Falken wieder an der 1.-Mai-Veranstaltung des DGB im Westfalenpark. Nach zwei Jahren Corona-Zwangspause konnte diese wieder in Präsenz stattfinden. Bei zunächst doch sehr frischem Wetter, später dann bei strahlendem Sonnenschein gestalteten die Falken einen Großteil der Jugendwiese: Kreativ- und Bastelangebote, Großspiele oder Jonglage – für jeden war etwas dabei. Stärkung gab es am Falken-Grill oder in der fairen Falken-Cafete.

    Auf der Bühne begeisterte Clown Koepi wie jedes Jahr die Kinder und Eltern. Und auch beim Bühnenspiel, einer Abwandlung des Formats 1, 2 oder 3, mit den Landtagskandidat*innen verschiedener demokratischer Parteien hatten alle viel Spaß. Dazu hatten die Jugendlichen Fragen aus dem Bereich Gerechtigkeit vorbereitet, wie z.B. Klimagerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit oder auch Bildungsgerechtigkeit. Die Demo des Jugendblocks, an dem natürlich auch die Falken wieder beteiligt waren, stand in diesem Jahr unter dem Motto: „Spickzettel für den Wandel“.
    Ein großer Dank geht an die vielen ehrenamtlichen Helfer*innen ohne die eine solche Veranstaltung nicht möglich wäre. Ein rundum gelungener Tag.

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