Nach Urteilsverkündung im NSU-Prozess: Bundesweit demonstrieren Tausende für Aufklärung und Gerechtigkeit

In Dortmund haben rund 400 Menschen eine Fortsetzung der NSU-Aufarbeitung gefordert. Fotos: Leopold Achilles
In Dortmund haben rund 400 Menschen eine Fortsetzung der NSU-Aufarbeitung gefordert. Fotos: Leopold Achilles

Nach mehr als fünf Jahren ging am 11. Juli 2018 der sogenannte NSU-Prozess zu Ende. Unter dem Schlagwort „Kein Schlussstrich“ gingen anlässlich der Urteilsverkündung in mehr als einem Dutzend Städten Menschen auf die Straßen. Auch in Dortmund gab es eine Demonstration, die am frühen Abend mit mehr als 400 TeilnehmerInnen an der Rheinoldikirche begann und bis in die Nordstadt führte.

Viele Fragen sind noch offen – DemonstrantInnen fordern Aufklärung – Solidarität mit Betroffenen

Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße ermordet. Archivfoto: Alex Völkel
Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße ermordet. Archivfoto: Alex Völkel

Der Dortmunder Mehmet Kubaşık wurde am 4. April 2006 vom sogenannten NSU ermordet – nach bisherigem Kenntnisstand als achter von insgesamt zehn Menschen (neun Geschäftsleute und eine Polizistin).

Seit 2013 läuft der Prozess gegen die Hauptangeklagte und vier mutmaßliche Helfer. Es sind Beate Zschäpe, André Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben und Carsten Schultze, die aus rassistischen Motiven mordeten und Sprengstoffanschläge verübten.

„Den Angehörigen wurde Aufklärung versprochen. Aufklärung darüber, wie und warum die Opfer ausgewählt wurden, aber auch über die Rolle von Polizei und Geheimdienst, die trotz zahlreicher Zuträger aus dem NSU-Umfeld nichts verhindert haben”, sagt Marie Kemper vom Dortmunder Bündnis „Kein Schlussstrich“ im Vorfeld des Demonstration.

„Der Prozess hat viele Fragen offen gelassen, auch weil die Bundesanwaltschaft sich nicht dafür interessierte”, so Kemper weiter. Das Bündnis steht solidarisch an der Seite der Betroffenen und rief im Vorfeld alle DortmunderInnen dazu auf, sich an der Demonstration zu beteiligen. Der Forderung nach Aufklärung sollte Nachdruck verliehen werden.

„Kein Schlussstrich“: Mehr als 500 Menschen gingen in Dortmund auf die Straße

In Dortmund versammelten sich am Mittwochabend mehrere hundert Menschen vor der Reinoldikirche. Der Eindruck der Demonstrierenden auf Nachfrage: Es überwiegt das Gefühl, dass mit der Urteilsverkündung die eigentliche Aufarbeitung erst am Anfang stehe.

Unwohl ist vielen bei dem Gedanken, dass heute noch Teile des Komplexes rund um den NSU bestehen und dass vermeintliche Täter von damals noch heute unerkannt in ihrer Stadt auf freiem Fuß sind.

Nach Redebeiträgen, der Vorführung eines Teils der „NSU-Monologe“ und einer Schweigeminute bewegte sich der Demozug über den Westenhellweg und die Hansastraße in die Nordstadt. Trotz starken Regens wuchs die Demonstration scheinbar beim Gang über die Münsterstraße an.

Über 500 Menschen liefen bei strömendem Regen auf die Mallinckrodtstraße, um am Ort des Mordes an Mehmet Kubaşık zu gedenken. Die Abschlusskundgebung fand gegen 21.40 Uhr vor der Auslandsgesellschaft statt, wo das Mahnmal für die Opfer des NSU-Terrors seinen Platz hat.

Ängste vor lokalen UnterstützerInnen des Terrornetzwerks wurden durch den Prozess geschürt

In der Nordstadt gingen die „Kein Schlussstrich“-Demo zu Ende. Foto: Leopold Achilles
In der Nordstadt gingen die „Kein Schlussstrich“-Demo zu Ende. Foto: Leopold Achilles

Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss in NRW habe gezeigt, dass das Wissen um militante rechtsterroristische Strukturen zum Zeitpunkt des Mordes an Mehmet Kubaşık beim Verfassungsschutz vorhanden war.

„Auch heute existieren militante Neonazistrukturen in Dortmund, die rechtsterroristische Anschläge verüben könnten“, meint Kemper. „Bis heute gibt es jedoch keine Ermittlungen hinsichtlich lokaler Unterstützer, stattdessen wurden die Opfer rassistisch verleumdet und zu Tätern gemacht.“

Neben Dortmund wurde an diesem Abend auch in vielen weiteren Städten wie Hamburg, Berlin, Göttingen, Münster und Osnabrück demonstriert. „Wir wollen alle gemeinsam auf die Straße gehen und deutlich machen, dass das Ende des Prozesses nicht bedeutet, dass der NSU-Komplex aufgeklärt ist.”

DGB Dortmund: Der NSU erfordert weitere Aufklärung – Merkel muss „restlose Aufklärung“ liefern

Die „Kein Schlussstrich“-Demo führte von der Dortmunder City in die Nordstadt. Foto: Leopold Achilles
Die „Kein Schlussstrich“-Demo führte von der Dortmunder City in die Nordstadt. Foto: Leopold Achilles

Das im NSU-Prozess die Mittäterschaft und damit die Schuld von Beate Zschäpe festgestellt und mit lebenslanger Haft beschieden wurde, ist das eine. Das andere ist die weiterhin notwendige politische Aufklärung. Denn hier bleibt nicht nur Bitternis bei den Familien der Opfer, sondern auch bei vielen kritischen Geistern der Zivilgesellschaft.

„Frau Merkel hat restlose Aufklärung angekündigt und wir erwarten auch die Aufklärung aller offenen Fragen – die Rolle der Verfassungsschutzbehörden, die Frage der Kommunikation und die zur Zusammenarbeit der Behörden insgesamt etc.. Dass ausgerechnet Herr Seehofer derjenige sein will, der restlos zur Aufklärung beiträgt, macht angesichts der von ihm und anderen erzeugten populistischen Ressentiments gegen Migrantinnen und Migranten wenig Hoffnung“, betont Jutta Reiter vom DGB Dortmund.

Eine gute Integrationspolitik und eine klare Haltung gegen Kriminalisierung und Ausgrenzung von Migranten wären dringend geboten. Doch davon sei die Bundesregierung weit entfernt. „Für die gesamte Gesellschaft stellt sich am Ende die Frage: Was haben wir aus den terroristischen Aktivitäten des NSU gelernt und wie verhindern wir derartige Angriffe auf Menschen, auf unsere Vielfalt und damit auf unsere Demokratie. Das heißt aber ein Umsteuern in der Politik“, heißt es in der Erklärung des DGB Dortmund.

Grüne: Aufklärung des NSU-Terrors und der Kampf gegen Rechtsextremismus müssen weitergehen

Die DemonstrantInnen glauben nicht, dass das Netzwerk nur aus dem Trio bestand. Foto: Leopold Achilles
Die DemonstrantInnen glauben nicht, dass das Netzwerk nur aus dem Trio bestand. Foto: Leopold Achilles

„Die lebenslange Haftstrafe für Beate Zschäpe unter Feststellung einer besonderen Schwere der Schuld ist ein deutliches Signal an die rechtsextreme Szene in Deutschland und auch in Dortmund, dass der Rechtsstaat konsequent handelt“, erklären die SprecherInnen des Grünen-Kreisverbandes, Katja Bender und Johannes Rehborn.

Dennoch müssen die Grünen festhalten, dass es auch sieben Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU, mehreren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen im Bundestag und in den Landtagen und fünf Jahren Gerichtsprozess bis heute keine vollständige Aufklärung gibt.

„Das ist gerade für uns als DortmunderInnen besonders bitter. Denn der Mord an unserem Mitbürger Mehmet Kubaşık hinterlässt nach wie vor mehr Fragen als Antworten. Ungeklärt ist, warum es ausgerechnet Mehmet Kubaşık war, der ermordet wurde. Und ungeklärt ist auch noch immer, welche Unterstützung der NSU in Dortmund dabei hatte“, betonen die Grünen.

In dem jetzt abgeschlossenen Prozess wurde lediglich über die Schuld von fünf Personen entschieden. Es gebe allerdings stichhaltige Hinweise auf ein weitaus größeres Netzwerk von Unterstützerinnen und Unterstützern, die dem NSU bei der Vorbereitung und Durchführung ihrer Verbrechen auch hier in Dortmund geholfen haben.

Das Versagen der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden wurde bisher nur unzureichend aufgeklärt

4. Tag der Solidarität gedenkt dem NSU-Mordopfer Mehmet Kubasik. Gedenkstein für die Opfer der NSU-Morde
Jedes Jahr wird der NSU-Opfer am Mahnmal in der Nordstadt gedacht. Archivbild: Klaus Hartmann

Auch das Versagen der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden wurde bisher nur unzureichend aufgeklärt. „Die mit Vorurteilen und Scheuklappen geführten Ermittlungen haben ein rechtsextremes Motiv lange ausgeblendet und stattdessen nur nach Hinweisen im Lebensumfeld der Ermordeten gesucht. So wurden die Opfer und ihre Angehörigen  – auch die Familie Kubaşık – selbst zu Verdächtigen und damit ein zweites Mal zu Opfern gemacht“, kritisieren die Grünen.

Die Aufklärung des NSU-Terrors müsse auch nach Abschluss des Gerichtsverfahrens unbedingt fortgesetzt werden. „Ein Schlussstrich ist das Urteil deshalb nicht. Dabei geht es nicht nur um Vergangenheitsbewältigung, sondern auch darum, ob das Netzwerk des NSU mit seinen losen kameradschaftlichen Strukturen über die Jahre und bis zum heutigen Tag fortbestehen konnte und weiterhin aktiv ist“, so Katja Bender und Johannes Rehborn.

„Denn die Sicherheitsbehörden, vor allem auch der Verfassungsschutz, nehmen selbst über sechs Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU die Strukturen der Nazis nicht intensiver in den Blick.“ Der heutige Tag ist deshalb für die Grünen auch eine Mahnung, die nach wie vor offenen Fragen zu klären und gleichzeitig eine Aufforderung, jederzeit und offensiv gegen Rechtsextremismus und Rassismus auch in Dortmund einzutreten.

Multikulturelles Forum fordert, auch den bisher nicht angeklagten Verdächtigen den Prozess zu machen 

Die Botschaft war klar - der Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus muss weitergehen. Foto: Leopold Achilles
Die Botschaft: Der Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus geht weiter. Foto: Leopold Achilles

Das Multikulturelle Forum begrüßt den Schuldspruch für Beate Zschäpe, stellt jedoch zugleich fest: „Dieses Urteil kann und darf nicht das Ende der Aufklärung der terroristischen Verbrechen des NSU sein. Wir fordern, dass den weiteren, bisher nicht angeklagten Verdächtigen, die mit dem NSU-Trio in Kontakt standen und als erweitertes Netzwerk ihre Taten ermöglichten, ebenfalls der Prozess gemacht wird“, heißt es in einer Erklärung.

18 Jahre nach dem ersten Mord hätten die Opferangehörigen noch immer keine Antworten auf drängende Fragen erhalten. Nicht nur ihr Vertrauen in den Rechtsstaat habe großen Schaden genommen. „Die Rolle der staatlichen Behörden sowie der strukturelle Rassismus, der die Taten begünstigt und die vollständige Aufklärung verhindert hat, müssen aufgearbeitet werden“ fordert Kenan Küçük, Geschäftsführer des Multikulturellen Forums. 

„Wir rufen die Zivilgesellschaft dazu auf, sich gemeinsam mit vielen bereits Engagierten für die weitere Aufklärung stark zu machen. Die Forderungen nach #keinSchlussstrich dürfen nicht verhallen, genauso wie die Opfer unvergessen bleiben werden“, so Küçük. „Gemeinsam können wir erreichen, dass die Vereinnahmung der politischen Agenda durch rechte und rechtspopulistische Positionen beendet und der Fokus auf das Engagement gegen Rassismus und für gesellschaftlichen Zusammenhalt gelegt wird. Aus unserer Vielfalt ziehen wir Kraft.“

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