Zeuge des Grauens: Nazi-Überlebender berichtet Studierenden der TU Dortmund über Judenverfolgung und Holocaust

Horst Selbiger erzählt und liest aus seinem Leben - eingeladen von Prof. Dr. Egbert Ballhorn von der Kath. Fakultät der TU.
Horst Selbiger erzählt aus seinem Leben – eingeladen von Prof. Dr. Egbert Ballhorn von der Kath. Fakultät.

Ergreifend, beeindruckend, eine Sternstunde – so erlebte Prof. Egbert Ballhorn vom Institut für Katholische Theologie der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie an der TU Dortmund den Vortrag von Horst Selbiger, einem der letzten Überlebenden und Augenzeugen der Nazi-Diktatur in Deutschland.

„Fragt uns, wir sind die Letzten“ – 200 Studierende folgten der Einladung des Holocaust-Überlebenden

Selbiger war extra für eine Lesung aus Berlin nach Dortmund angereist. Als er über seine Kindheit als Jude im nationalsozialistischen Deutschland sprach, war der Hörsaal 6 im Hörsaalgebäude II voll besetzt.

„Fragt uns, wir sind die Letzten“, hatte Selbiger seine Lesung übertitelt. Mehr als 200 Studierende waren diesem Aufruf gefolgt. Beispielsweise Julian, der im dritten Semester Theologie und Musik für das Lehramt an Gymnasien studiert. „Die Geschichte von Hitler habe ich in Büchern gelesen. Mit einem Zeitzeugen hatte ich aber noch nie Kontakt“, sagte er vor Beginn der Lesung.

Auch Hannah, die im fünften Semester Katholische Theologie und Mathematik für das Lehramt an Berufskollegs studiert, und ihre Freundin Kira – sie studiert Deutsch, Mathematik und Sport für das Lehramt an Grundschulen – sahen die einmalige Chance, ihr Schulwissen über Nazi-Deutschland und die Judenverfolgung um die Sicht eines Menschen zu erweitern, der den Holocaust überlebt hat.

61 Mitglieder seiner Familie wurden von den Nationalsozalisten ermordet

Das KZ Auschwitz-Birkenau ist das Sinnbild für den millionenfachen Massenmord.
Das KZ Auschwitz-Birkenau ist das Sinnbild für den millionenfachen Massenmord. Foto: Alex Völkel

Horst Selbiger, 1928 geboren, hatte einen jüdischen Vater und eine christliche Mutter. Er beschrieb, wie sich mit der sogenannten Machtergreifung im Januar 1933 das Leben der Juden in Deutschland und sein eigenes Leben veränderten. Es begann mit der Ausgrenzung aus dem normalen Leben und endete im Mord nahezu aller seiner Familienangehörigen.

„61 Selbiger, von einer 86-jährigen Oma bis hin zu einem sechs Monate alten Säugling, wurden von den Nazis umgebracht“, berichtete er. „Aus meiner Schulklasse überlebten zwei.“ Selbiger selbst wurde 1943 als sogenannter Halbjude im letzten Augenblick vom Abtransport ins Vernichtungslager verschont.

Vorausgegangen waren tagelange Proteste von Frauen in Berlin, die die Freilassung ihrer Männer und Kinder forderten. „Es war die erste Demonstration christlicher Menschen für Juden“, erinnerte sich Selbiger.

Wenn er den Terror gegen die Juden in Deutschland beschrieb, schilderte Selbiger gleichzeitig sein Leben als Schüler und Jugendlicher wie alle anderen – mitsamt seiner ersten große Liebe zu seiner jüdischen Mitschülerin Ester. Er lernte sie an der jüdischen Mittelschule kennen und lieben. Während er 1943 dem Transport nach Auschwitz entging, starb Ester dort.

„Die Verbindung von den Augen seiner Geliebten und die Sicht von Ester zu späteren Zeitpunkten war sehr ergreifend“, sagte Hannah. „Horst Selbiger erzählte authentisch, spannend und mitreißend mit vielen erschreckenden und auch traurigen Gänsehautmomenten“, berichtete Kira.

„Ein Satz ist uns beiden noch im Kopf geblieben: ,Die Seele ist gebrandmarkt.‘“ Und Julian rang mehrfach bei der Lesung mit der Fassung. „Ich fand es schwer zuzuhören“, sagte er. „Ich habe viel vom Tod, aber auch von der Liebe gehört.“

„Die Demokratie muss lautstärker werden, um die Rechten zu zwingen, ihre Ideologie zu überdenken“

Zog seine Zuhörerinnen und Zuhörer in seinen Bann: Holocaust-Überlebender Horst Selbiger. Fotos: Martin Hengesbach/TU Dortmund
Zog seine ZuhörerInnen in seinen Bann: Horst Selbiger. Fotos (2): Martin Hengesbach/ TU Dortmund

„Wir erleben bei dem Themen Holocaust und Nationalsozialismus aktuell einen sensiblen Übergangspunkt in unserer Gesellschaft“, ordnete Prof. Ballhorn die Lesung ein. „Welche Aspekte der Geschichte gehen vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis über?“

Die Frage, ob sich Geschichte wiederholen kann, stand auch im Mittelpunkt der anschließenden Diskussion. Horst Selbiger gab sich optimistisch. „Ich bin überzeugt, dass es keinen weiteren 30. Januar 1933 geben wird“, sagte er, dass also Deutschland nie mehr nationalsozialistisch wird.

Allerdings müsse die Demokratie lautstärker werden, um die Rechten zu zwingen, ihre Ideologie zu überdenken. Ein Großteil der Neonazis sei „rückholbar“. Es gebe bei ihnen viele, die wenig wüssten und nur Mitläufer seien. „Das Gespräch mit den Rechten darf nicht abbrechen“, meinte er. „Eine Diskussion ist immer besser als eine Schlägerei.“

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  1. Holocaust-Zeitzeuge Horst Selbiger erzählt aus seinem Leben – TU Dortmund organisiert öffentlichen Vortrag (PM TU Dortmund)

    Holocaust-Zeitzeuge Horst Selbiger erzählt aus seinem Leben – TU Dortmund organisiert öffentlichen Vortrag

    2021 ist das Gedenkjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. 93 Jahre davon hat der Berliner Horst Selbiger erlebt – darunter auch den Holocaust. Von seinen Erfahrungen und seinen Lehren erzählt er in einem Online-Vortrag am Dienstag, 1. Juni, um 19 Uhr, zu dem die interessierte Öffentlichkeit herzlich eingeladen ist.

    Als Horst Selbiger 1928 geboren wurde, war noch nicht klar, dass sein Leben schwer werden würde. Doch schon in den ersten Schuljahren gab ihm sein Umfeld zu verstehen, dass er „anders“ sei. Während seine Mitschüler den Hitlergruß übten, war er als Sohn eines jüdischen Zahnarztes ausgeschlossen. Als Junge musste er Zwangsarbeit leisten und entging nur knapp der Deportation. Doch 61 seiner Angehörigen wurden deportiert und ermordet – von der Oma bis zum Säugling. Auch seine Geliebte Ester kam im Vernichtungslager Auschwitz ums Leben.

    „Fragt uns, wir sind die Letzten“ – das ist das Motto der digitalen Veranstaltung am 1. Juni, in der Selbiger über seine Erlebnisse im nationalsozialistischen Deutschland erzählt. Veranstaltet wird der Vortrag von Prof. Egbert Ballhorn vom Institut für Katholische Theologie der TU Dortmund. Bereits im Oktober 2019 hatte Selbiger auf dem TU-Campus von seinen Erfahrungen erzählt und war dafür extra aus Berlin nach Dortmund angereist.

    Der Hörsaal 6 im Hörsaalgebäude II war damals mit 200 Studierenden bis auf den letzten Platz besetzt. Dies ist aufgrund der aktuellen Lage derzeit nicht mehr möglich – daher findet der Vortrag nun digital über Zoom statt. Der Vorteil: Über Zoom können nun bis zu 3000 Zuhörerinnen und Zuhörer Horst Selbigers Geschichte hören – das IT & Medien Centrum der TU Dortmund hat die größte Veranstaltungslizenz zur Verfügung gestellt.

    Prof. Ballhorn und ein Team aus Mitarbeitenden und Studierenden organisieren und moderieren den Vortrag. „Noch können die letzten Zeitzeugen erzählen. Wir haben die Chance, etwas aus ihrem Leben und ihren Erfahrungen in unser Leben mitzunehmen“, sagt Prof. Ballhorn. „Im Zentrum steht die Frage, wie wir unsere Gesellschaft gestalten wollen.“ Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Zoom-Webinars haben die Möglichkeit, während des Vortrags per Chat-Funktion Fragen einzusenden, die das Moderationsteam aufnehmen kann. Gleichzeitig wird der Vortrag auch als Livestream auf dem YouTube-Channel der TU Dortmund übertragen.

    Weitere Informationen und Teilnahmelinks: http://www.tu-dortmund.de/selbiger

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