Ein psychosoziales Zentrum für Flüchtlinge soll das Dortmunder Gesundheitssystem entlasten

Am Sonntag werden in Dortmund drei Flüchtlingszüge erwartet. Der erste Zug brachte 800 Menschen, die im DKH versorgt und dann landesweit verteilt wurden.
Hunderttausende Flüchtlinge sind in Deutschland – bis zu 40% könnten traumatisiert sein. Foto: A. Völkel

Von Alexander Völkel

Um die psychotherapeutische Versorgung ist es in Dortmund (wie im Ruhrgebiet insgesamt) nicht gut bestellt. Die Versorgungsquote mit Psychotherapeuten und Psychiatern ist deutlich geringer als im Rheinland.

Politischer Wille: Großes Defizit an TherapeutInnen im Ruhrgebiet

Dr. Frank Renken, Leiter Gesundheitsamt Dortmund
Dr. Frank Renken ist Leiter des Dortmunder Gesundheitsamtes. Foto: Klaus Hartmann

Während es in Dortmund 69 TherapeutInnen gibt, die über die Kassenärztliche Vereinigung finanziert werden, sind es im annähernd gleich großen Düsseldorf 195.

Bei den PsychiaterInnen ist das Verhältnis ähnlich: 19 in Dortmund, 44 in Düsseldorf. Diese ungleiche Quote ist seit Jahrzehnten politisch so gewollt – erst im Jahr 2017 könnte es eine Veränderung geben.

Entsprechend lang sind bisher die Wartezeiten im Ruhrgebiet: „Die Kassen sagen ein bis zwei Monate, Patienten acht Monate. Realistisch scheinen mir vier bis sechs Monate Wartezeit“, sagt Dr. Frank Renken, Leiter des Dortmunder Gesundheitsamtes.

Nun kommen noch die Flüchtlinge hinzu. Daher sieht die AWO Handlungsbedarf und möchte eine psychosoziales Zentrum (PSZ) für Flüchtlinge einrichten. Das Land hat dem Antrag stattgegeben und die Fördermittel bewilligt. Die Stadt will den Eigenanteil von 20 Prozent übernehmen.

Handlungsbedarf: AWO möchte ein psychosoziales Zentrum für Flüchtlinge

„Es gibt gute Gründe, sich über zusätzliche Versorgungsangebote Gedanken zu machen. Wir haben ohnehin schon einen echten Mangel“, betont Dr. Frank Renken. Das neue Angebot könne helfen, das System zu entlasten, damit die Betroffenen nicht noch länger auf Termine warten müssten.

In dem neuen Zentrum, welches in der Lange Straße neben dem Eugen-Krautscheid-Haus angesiedelt werden soll, werden 1,5 Stellen für PsychotherapeutInnen und eine Stelle für ein/e Sozialarbeiter/in zur Verfügung stehen. Sie werden sich um die psychosoziale Beratung von Familien kümmern.

Daneben könnte es ein weiteres Angebot speziell für geflüchtete Kinder und Jugendliche geben, welches in Kooperation von AWO, Grünbau, Kinderschutzbund und Kinderschutzzentrum entstehen könnte.

Allerdings gibt es dazu seitens des Jugendamtes der Stadt Dortmund noch keine Entscheidung. Es wäre jedoch kein Problem, beide Einrichtungen unter einem Dach zu vereinen. Der Platz wäre da, verdeutlicht Jörg Loose, Leiter des Bereichs Kinder, Jugend und Familie der AWO.

Im Zentrum ist eine Mischung aus Individual- und Gruppenangeboten geplant

In diesem Haus am Westpark soll das psychosoziale Zentrum eingerichtet werden.
In diesem Haus am Westpark soll das psychosoziale Zentrum eingerichtet werden. Foto: K. Hartmann

Dr. Frank Renken sieht den Bedarf und unterstützt das Ansinnen der AWO. Allerdings drängt die Stadt darauf, nicht nur individualtherapeutische Angebote zu machen, sondern auch Kriseninterventionen und Qualifizierungen für Betreuungspersonal in der Flüchtlingshilfe anzubieten.

„Wenn die Schätzungen stimmen sollten, dass bis zu 40 Prozent der Flüchtlinge traumatisiert sind und nur ein Teil behandelt werden müsste, würden alle Angebote Deutschlands nicht reichen“, verdeutlicht der Leiter des Gesundheitsamtes.

Ganz davon abgesehen, dass die Sprachbarrieren und die speziellen Herausforderungen ungeschulte Therapeuten vor große Herausforderungen stellen würden. „Hier haben wir Erfahrungen mit Tod und Unfällen, aber nicht mit Krieg. Es gibt nicht genug Therapeuten, die nur annähernd geeignet wären, ihnen zu helfen“, so Renken.

AWO und Stadt setzen daher auf ein zweigeteiltes Angebot mit individualtherapeutischen Hilfen und  Gruppenangeboten sowie Schulungen für Aktive in der Flüchtlingshilfe. „Bei uns im Haus wird der enorme Bedarf deutlich“, berichtet Rodica Anuti-Risse.

Sie ist selbst Psychologin und Leiterin des Clearinghauses der AWO in Eving, wo unbegleitete minderjährige Flüchtlinge während der ersten Monate betreut werden.

Aggressive Durchbrüche, Traumata sowie Fremd- und Eigengefährdung

Die Psychologinnen dort haben es mit aggressiven Durchbrüchen, Traumata sowie Fremd- und Eigengefährdung zu tun. „Es fehlen Behandlungs- und Begleitungsstellen für diese Probleme,  sowohl im niedergelassenen als auch im stationären Bereich“, so Anuti-Risse.

Psychologin Natascha Hanak im Gespräch mit einem Flüchtling im Clearinghaus in Eving.
Psychologin Natascha Hanak im Gespräch mit einem Flüchtling im Clearinghaus Eving. Foto: Alex Völkel

Natascha Hanak ist Psychologin im Clearinghaus und kennt die Situation der Jugendlichen nur zu gut. Es gilt, Vertrauen aufzubauen – auch über Sprachbarrieren hinweg.

Wenn die eigene Sprachfähigkeit der Flüchtlinge, der Psychologinnen oder des Sozialen Dienstes nicht ausreicht, müssen auch Übersetzer zu Rate gezogen werden. Dies macht die Sache besonders herausfordernd: „Mal ist der Dolmetscher wie die rechte Hand, ein anderes Mal holpert es“, hat Hanak unterschiedliche Erfahrungen gemacht.

Daher versuchen sie, dass immer ein und derselbe Übersetzer einen Fall begleitet, wenn die Chemie zwischen den Beteiligten stimmt. Zu den Sprachmittlern entwickeln die Jugendlichen mitunter ein besonders enges Verhältnis, wenn diese sie auch bei anderen Gelegenheiten – unter anderem bei Behördengängen oder Arztbesuchen – begleiten, weiß Barbara Paul vom Sozialen Dienst.

Verdrängte Erinnerungen und Bilder: Kultursensibler Umgang ist wichtig

Wichtig ist immer der kultursensible Umgang. Denn in der Therapie kann es leicht passieren, dass verdrängte Erinnerungen und Bilder zurückkehren. Hinzu kämen scham- oder schuldbesetzte Erlebnisse. „Auch Re-Traumatisierungen sind in der Therapie möglich“, berichtet Natascha Hanak. Interkulturelle Faktoren spielen dabei eine große Rolle – ebenso wie das Geschlecht.

Zu viele Mädchen und Frauen haben neben dem Trauma von Krieg und Flucht noch ganz andere Erfahrungen durchlitten: Sexualisierte Gewalt, Zwangverheiratung, Genitalverstümmelungen oder auch Zwangsprostitution sind Erfahrungen, die hier angekommene Mädchen und Frauen verarbeiten müssen.

Auch Schulungen für FlüchtlingshelferInnen werden benötigt

Es fehlt zudem an Schulungen für Menschen, die mit traumatisierten Flüchtlingen zu tun haben. „Betreuer brauchen Anleitung. Wir haben in unserem Team im Clearinghaus auch eine Psychologin – andere Einrichtungen haben das nicht. Der Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen muss gelernt werden“, so Anuti-Risse.

Psychologin Rodica Anuti-Risse ist Leiterin des AWO-Clearinghaus in Eving.
Psychologin Rodica Anuti-Risse ist Leiterin des AWO-Clearinghaus in Eving. Foto: Alex Völkel

Sie geht von 30 bis 40 Prozent behandlungsbedürftigen Traumafolgeerkrankungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen aus. Auch ist die Selbstmord-Gefahr bei diesen Jugendlichen deutlich höher als bei Gleichaltrigen ohne Fluchterfahrungen.

Die Expertin räumt aber auch gleich mit einem Vorurteil auf. Nämlich damit, dass Flüchtlinge psychische Leiden vortäuschen, um einer Abschiebung zu entgehen. „Meine Erfahrung ist das nicht“, versichert Rodica Anuti-Risse.

Ganz häufig brächen die psychologischen Behandlungsbedarfe erst durch, wenn der existenzielle Druck von den Flüchtlingen abfalle und sie ein Bleiberecht bekommen hätten. „Das kommt mindestens genauso oft vor. Es gibt andere Gründe, warum sie psychologischen Bedarf haben“, so die Psychologin.

Außerdem dürfe man eins nicht vergessen: Bisher ist immer nur von den akuten Problemen in Bezug auf Krieg und Flucht die Rede. Allerdings gibt es auch ganz normale psychische Erkrankungen bei Flüchtlingen wie schwere Depressionen oder Schizophrenie, die nicht gut oder gar nicht behandelt würden, weil sie beispielsweise keine Medikamente mehr haben.

„Auch denen muss geholfen werden“, verdeutlicht Dr. Renken. Etwa fünf Prozent aller Menschen sind anfällig für psychische Erkrankungen.

Stigmatisierung: „Wenn ich nicht krank sein darf, gehe ich auch nicht in Behandlung.“

Dr. Frank Renken, Leiter Gesundheitsamt Dortmund
Dr. Frank Renken ist Leiter des Dortmunder Gesundheitsamtes. Foto: Klaus Hartmann

Dabei sei die Zahl der Flüchtlinge in Behandlung deutlich niedriger (etwa 50 Prozent) als die von Deutschen. Denn es gibt Hemmnisse: Neben der Verfügbarkeit, der Sprachbarriere und der Kosten ist es vor allem auch die Stigmatisierung.

Für Menschen aus anderen Kulturen sind psychische Erkrankungen noch viel stärker tabuisiert. „Darüber redet man nicht, man darf nicht psychisch krank sein“, erklärt Renken. „Wenn ich nicht krank sein darf, gehe ich auch nicht in Behandlung.“

Doch ist das zusätzliche Angebot bei diesen Zahlen – in Dortmund leben derzeit rund 10.000 Flüchtlinge – nicht ein Tropfen auf den sprichwörtlichen „heißen Stein“? Kopfschütteln bei Rodica Anuti-Risse.

„2,5 Stellen ist mehr als 0. Unser Bestreben ist es zu starten und dann über unterschiedliche Wege zu einer personellen Aufstockung zu kommen“, erklärt die Leiterin des Clearinghauses. Doch Aufstockungen könnten erst erfolgen, wenn das psychosoziale Zentrum gestartet sei.

Nach den Sommerferien könnte das neue AWO-Angebot für Flüchtlinge in Betrieb gehen. Ob und wann das zusätzliche Angebot für Kinder und Jugendliche hinzu kommt, ist noch völlig offen.

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