Dortmund hat nach sieben Monaten Vakanz einen neuen Rabbiner – und soll sogar einen zweiten bekommen

Shlomo Zelig Avrasin ist neuer Rabbiner in Dortmund. Foto: Alex Völkel
Shlomo Zelig Avrasin ist seit August 2021 neuer Rabbiner in Dortmund. Fotos: Alex Völkel

Von Alexander Völkel

Nach mehr als sieben Monaten Vakanz hat Dortmund einen neuen Rabbiner: Shlomo Zelig Avrasin folgt auf Baruch Babaev, der im Dezember zurück nach Israel gegangen war. Damit steht den rund 3000 Mitgliedern wieder ein Seelsorger zur Seite. Doch dieser soll Verstärkung bekommen: Die Jüdische Gemeinde Dortmund möchte einen zweiten Rabbiner in die größte Gemeinde Westfalens holen.

Gemeindegeschäftsführer Chraga: „Wir sehen uns ja als fester Bestandteil der Stadtgesellschaft“

Leonid Chraga ist Geschäftsführer der Jüdischen Kultusgemeinde Dortmund. Foto: Alex Völkel
Leonid Chraga ist Geschäftsführer der Jüdischen Kultusgemeinde Dortmund.

Diese Pläne bestätigte Geschäftsführer Leonid Chraga. Denn die Gemeinde ist so groß und vor allem so gut in der Stadtgesellschaft vernetzt, dass ein Rabbiner nicht alle Aufgaben und Verpflichtungen übernehmen kann. Zudem wird im kommenden Jahr ja auch die neue Jüdische Grundschule eröffnen.  ___STEADY_PAYWALL___

Daher soll sich Shlomo Zelig Avrasin vor allem der seelsorgerischen Arbeit für die russischstämmigen Mitglieder widmen. Der zweite Rabbiner soll sich dann verstärkt um die zahlreichen Aktivitäten in der Stadtgesellschaft kümmern. Daher sucht die Gemeinde noch einen deutschsprachigen Rabbiner. „Das wird kollegiales Miteinander. Unsere Gemeinde ist so groß und so gut verankert, dass es genug Arbeit für beide gibt“, sagt Chraga mit Blick auf die zahlreichen Außentermine. 

„Wir sehen uns ja als fester Bestandteil der Stadtgesellschaft“, so der Geschäftsführer. Dabei denkt er unter anderem an den Trialog mit den Vertreter*innen der christlichen Kirchen und Moscheegemeinden oder den anderen zahlreichen Netzwerken und Runden Tischen innerhalb und außerhalb der Stadt Dortmund, beispielsweise das Netzwerk gegen Antisemitismus. 

„Ich wusste, dass ich jüdisch bin und stolz drauf war. Aber ich wusste nicht, was es bedeutet“

Chanukka-Feier am Phoenixsee.
Die große Chanukka-Feier am Phoenixsee ist ein sichtbares Zeichen der Verbundenheit mit der Stadtgesellschaft (Archivbild von 2019).

Unabhängig von der Suche nach einem zweiten Rabbiner will Shlomo Zelig Avrasin schnellstens seine Deutschkenntnisse verbessern. Der 50-Jährige ist aus Russland nach Dortmund gekommen und spricht noch kaum Deutsch.

„Ich war zwei Jahre als Rabbiner in Warschau. Nach sechs Monaten konnte ich die Wochenabschnitte schon auf polnisch predigen“, so Avrasin. Dies sei zwar einfacher, weil polnisch eine slawische Sprache ist. „Dennoch bin ich zuversichtlich, Deutsch schnell zu lernen.“

Shlomo Zelig Avrasin ist in in Luhansk in der heutigen Ost-Ukraine geboren. „Damals war das noch die Sowjetunion. Ich stamme aus einer jüdischen Familie, aber war völlig entwurzelt. Sogar meine Großeltern wussten nichts mehr über das Judentum“, berichtet der Rabbiner.

„Ich wusste, dass ich jüdisch bin und stolz drauf war. Aber ich wusste nicht, was es bedeutet“, gesteht er. Antisemitischen Anfeindungen war er damals noch nicht ausgesetzt: In seinem Umfeld gab es viele Juden – Intellektuelle und Akademiker. Das erste Mal, dass er Alltagsantisemitismus erlebte, war, als er nicht an der Universität angenommen wurde. Das Zulassungsexamen hatte er bestanden. „Nicht als Bester. Aber besser als viele andere, die dennoch angenommen wurden“, berichtet er. 

Armee statt Auswanderung: „Rückblickend war das die falsche Entscheidung“

Rabbiner Shlomo Zelig Avrasin. Foto: Alex Völkel
Rabbiner Shlomo Zelig Avrasin ist seit dem 1. August neuer Rabbiner in Dortmund.

Das war das erste Mal, dass er über eine Auswanderung nachdachte. Die Sowjetunion stand kurz vor dem Zusammenbruch. Dennoch entschied er sich, noch in der sowjetischen Armee zu dienen. Er wollte sich nicht nachsagen lassen, er habe den Staat, der ihn genährt und gebildet hatte, ausgenutzt und dann das Land dann verlassen. „Rückblickend war das die falsche Entscheidung. Aber aus Fehlern lernt man ja am meisten“, sagt Avrasin. 

 „In der Sowjetarmee habe ich erstmals richtig erlebt, was Antisemitismus bedeutet“, berichtet er. Nicht nur von Vorgesetzten, sondern auch von den Leuten, die mit ihm einberufen wurden. Man hat sogar Juden boykottiert und  mit ihm einen Monat lang nicht gesprochen. „Wenn man niemanden zum Sprechen hat, fängt man an mit Gott zu sprechen“, berichtet der heutige Rabbiner.

Er wusste nicht, wie man betet, hat aber dennoch damit angefangen. In der Kaserne in der Grundausbildung hat er nach einer stillen Ecke gesucht. Die fand er im „Lenin-Zimmer“: „Da ist niemand freiwillig hingegangen“, sagt Avrasin lachend. Er wusste nicht viel über Religion. Aber er wusste, dass man nicht Götzen anbetet und nicht in Anwesenheit von Götzen. „Ich habe die Lenin-Büste auf den Boden gestellt, damit er nicht denkt, dass er ihn anbete. 

Der neue Dortmunder Rabbiner hat gleich in drei Armeen gedient

Die hebräische Schrift bereitete dem jungen Soldaten große Probleme.
Die hebräische Schrift bereitete dem jungen Soldaten große Probleme.

„Ich habe um drei Sachen gebetet: Darum, den nächsten Tag zu erleben, um Entschuldigung, wenn ich etwas falsch gemacht habe und darum, mir den Weg zu zeigen. Alle drei Sachen sind so passiert. Ich habe diese Zeit überstanden“, berichtet Shlomo Zelig Avrasin. Die Lage – zumindest was die antisemitischen Anfeindungen anging – wurde nach der Grundausbildung besser. 

Zum Ende seines Wehrdienstes – die Perestroika war in vollem Gange und die Sowjetunion zerfiel – fand sich Avrasin in der ukrainischen Armee wieder. Es sollte nicht die letzte Armee sein, in der er diente. Zumindest der Dienst für die Sowjetunion und die Ukraine sei aus Sicht eines Gläubigen falsch gewesen: „Auch wenn die Erfahrung negativ war, war sie sehr reichhaltig.“

Das Leben in der neu gegründeten Ukraine war schwierig. „Die neue Währung sah wie Monopoly-Geld aus“, erinnert er sich an die finanziellen Schwierigkeiten nach seiner Entlassung aus der Armee. Das Positive: In seiner Stadt waren plötzlich jüdische Organisationen tätig. 

Während seiner Armeezeit hatte ihm sein Onkel – er war bereits 1990 nach israel ausgewandert, – ein Selbstlernbuch geschickt. „Ich habe damit in der Freizeit Iwrit (Hebräisch) gelernt. Ich kannte die Grundlagen. Aber die Buchstaben sind mir schwer gefallen.“ Deshalb habe er sich einen Karton mit den Schriftzeichen drauf in den Filzmantel seiner Uniform genäht. Damit konnte er selbst auf dem Wachturm weiter lernen. 

Mit dem jüdischen Sommercamp entdeckte er eine neue Welt für sich

Jüdisches Leben: „Ich habe gefühlt, dass es meins ist, obwohl es sich merkwürdig angefühlt hat.“

Anschließend arbeitete er ehrenamtlich in der Organisation „Esra“ mit, eine jüdische Organisation, die in der Diaspora tätig ist. Er wurde dort selbst schnell zum Übungsleiter. Im Sommer 1992 gab es dann ein Sommerlager auf der Krim. „Da habe ich auch erstmals Israelis kennengelernt und religiöse Jugendliche aus Moskau. Da habe ich für mich eine ganz neue Welt entdeckt“, macht der Rabbiner deutlich. 

Zwar habe ja zuvor die wenigen verfügbaren Bücher gelesen. Aber Menschen zu treffen, die wirklich jüdisch leben, habe ihn verändert. „Ich habe gefühlt, dass es meins ist, obwohl es sich merkwürdig angefühlt hat“, gibt er zu. Vor allem die viele Ge- und Verbote irritierten ihn. „Zum Beispiel, dass ich am Sabbat nicht mit dem Auto fahren kann oder nicht mehr das Eis essen durfte, was ich so mochte.“ 

Nach dem Sommercamp entschied er sich, in Moskau eine Jeschiwa – eine Talmud-Hochschule – zu besuchen. „Es war ein halbjähriger Kurs für angehende Lehrer für Iwrit und jüdische Tradition. Ich habe noch immer das erste mit Schreibmaschine geschriebene Zertifikat.“ Ob er denn danach perfekt gewesen sei oder eher der „Einäugige unter den Blinden?“ Der Rabbiner lacht: „Ein guter Vergleich. Wenn Du etwas gut lernen willst, fang an es zu unterrichten.“ 

Als Anwärter in Moskau lernte „der Neue“ bereits Avichai Apel kennen

Bilka und Avichai Apel haben die jüdische Gemeinde in den vergangenen Jahren sehr geprägt.
Bilka und Avichai Apel haben die jüdische Gemeinde in Dortmund von 2004 bis 2016 sehr geprägt.

Daran änderte sich auch nichts, als er dann doch nach Israel auswanderte. Doch das zog sich. Nach seiner Rückkehr nach Luhansk aus Moskau musste er lange warten und fürchtete, dass es ihm gar nicht gelingen könnte. Denn bei der Armee war er bei der Luftaufklärung – verbunden mit der Auflage, für 15 Jahre nicht das Land zu verlassen. Doch in den Wirren der Auflösung der Sowjetunion waren diese Papiere wohl verloren gegangen – am 30. August 1993 betrat er „Erez Israel“, das „Gelobte Land“. 

Dort führte sein Weg ihn zu einer Militär-Jeschiwa bei Jerusalem, die Kontakte zu dem Rabbiner hatte, den er aus Moskau kannte. Drei Jahre studierte er dort, entschied sich dann aber doch, zur israelischen Armee zu gehen. Theoretisch hätte Shlomo Zelig Avrasin nicht einberufen werden müssen – seine Grundausbildung wäre anerkannt geworden. Dennoch meldete er sich 1996 freiwillig, um in der dritten Armee nach der sowjetischen und ukrainischen zu dienen. Er wurde unter anderem zum Feldsanitäter ausgebildet. Noch heute ist der 50-Jährige Reservist im Rang eines Captains. 

Nach der Armee heiratete er und setzte seine Studien fort. 1999 folgte er der Einladung, in Moskau an der Hauptsynagoge zu arbeiten. Ein Rabbiner und zwei Anwärter gingen von Israel an die Moskauer Choral-Synagoge. Der andere Anwärter neben Shlomo Zelig Avrasin war Avichai Apel – er war von 2004 bis 2016 Rabbiner in Dortmund.  „Er hat mir das bessere Verständnis der Texte beigebracht und ich habe ihm in Russisch beigestanden. Seitdem sind wir gut befreundet.“

Sein Vorgänger Baruch Babaev empfahl Shlomo Zelig Avrasin für Dortmund

Baruch Babaev ist der neue Rabbiner in Dortmund.
Bis Dezember 2020 war Baruch Babaev Rabbiner in Dortmund – er empfahl seinen Nachfolger.

Den Kontakt nach Dortmund vermittelte ihm aber nicht Apel, der seit seinem Weggang aus Dortmund Rabbi in Frankfurt ist, sondern dessen Nachfolger Baruch Babaev. Er kennt Avrasin aus seiner Zeit in Moskau und Jerusalem – und hat ihn für Dortmund empfohlen. Der Wechsel in die Dortmunder Gemeinde ist für den 50-Jährigen eine „Rückkehr in eine normale jüdische Umgebung, ja eine Rückkehr zur Normalität“ betont Shlomo Zelig Avrasin. 

Denn er hat in den vergangenen Jahren in besonderen bzw. speziellen Gemeinden gearbeitet, die besonders viel seelsorgerischen Bedarf hatten. Dabei musste seine Familie zurückstecken – seine Frau und seine sieben Kinder blieben in Israel, als er im Ausland war. Das hat das Familienleben belastet. Und der Wechsel nach Dortmund bedeutet jetzt eine dauerhafte Trennung. 

Es funktionierte nicht, dass man als Familie dauerhaft so lange getrennt war. Schon damals war es schwierig. Mit einer festen Stelle in Deutschland – mit 30 Tagen Urlaub im Jahr – sei das nicht mehr möglich gewesen. Die Scheidung folgte: „Meine Frau wollte nicht mit nach Deutschland. Aber wir haben ein gutes und freundschaftliches Verhältnis – nicht nur wegen der gemeinsamen sieben Kinder im Alter von sechs bis 23 Jahren.

Der neue Rabbiner legt einen Schwerpunkt auf die Bildung – auch für Erwachsene

Bildung – auch für Erwachsene – ist dem neuem Rabbiner Shlomo Zelig Avrasin sehr wichtig.

Nun freut er sich auf die neue Arbeit in Dortmund: „Es ist eine fantastische Gemeinde mit großen Potenzial“, betont „der Neue“. Neben der seelsorgerischen Arbeit will er auf die Bildung einen Schwerpunkt legen.  „Ich kann nicht die Gemeinde von Schule und Kita trennen. Das ist ein essentieller Bestandteil und die Zukunft der Gemeinde“, macht er die Bedeutung der neuen Schulpläne deutlich.

Doch auch auf die Erwachsenenbildung will der neue Rabbiner schauen. Er kann sich  die Teilnahme am weltweiten Programm „Stars“ vorstellen, aber auch Stipendien für Studierende und junge Leute, die parallel zum Studium sich auch dem Studium der Tora und Jüdischkeit widmen wollen. Daher will er nicht nur die Gruppe der jüdischen Studierenden unterstützen. „Die Jugendliche verbringen viel Zeit miteinander, aber das ist nicht ausreichend für die Bildung und das jüdische Selbstverständnis“, sagt der Rabbiner, der in Israel auch ein pädagogisches Diplom erworben hat. 

Auch die anderen Gemeinden im Landesverband will er unterstützen – denn dort gibt es schon seit Jahren keinen eigenen Rabbiner mehr. Baruch Babaev war seinerzeit von der Stelle als Wanderrabbiner des Landesverbandes über die andere Straßenseite in die Dortmunder Kultusgemeinde gewechselt. Einen Nachfolger gab es nicht. „Unser neuer Rabbiner ist bereit, da auszuhelfen, der Jüdischkeit wegen. Aber das darf nicht zu Lasten der Gemeinde Dortmund gehen“, zieht Leonid Chraga – bei aller Verbundenheit mit dem Landesverband – Grenzen. 

Buchautor, Reisender, Kanut, Fechter und Liedermacher mit eine Faible für Klingen

Ob Shlomo Zelig Avrasin bei den vielfältigen Aufgaben, die er in Dortmund vor sich hat, noch viel Zeit für seine Hobbys und Leidenschaften hat, wird sich zeigen. Zum 50. Geburtstag hat er sich selbst ein Buch geschenkt und seine Kommentare zur Thora veröffentlicht. Es ist bereits sein drittes veröffentlichtes Buch. 

Das erste war eine Gedichtsammlung, das zweite Buch enthielt Arbeiten seines Lehrers. Ein viertes Buch – eine Sammlung von Gedichten zu jüdischen Themen – soll folgen. Noch auf russisch. Doch auch aktivere Hobbys hat Avrasin: Er reist gerne, fährt Kanu, macht Langstock-Fechten (Kung-Fu), ist Liedermacher, und interessiert sich für Geschichte, Klingen und Schwerter. 

 

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