Jahrestag der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds

Angehörige und Vertreter:innen der Opfer fordern Aufklärung und Öffnung der NSU-Akten

Die DIDF-Jugend organisierte mit der Unterstützung des Bündnis „Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich Dortmund“ anlässlich des Jahrestages eine Kundgebung und Mahnwache vor dem DFB-Museum am Hauptbahnhof Dortmund. Foto: Karsten Wickern für Nordstadtblogger.de

„Kein Schlussstrich!“ – diese Forderung war vielerorts am zehnten Jahrestag der Selbstenttarnung des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) zu hören. Eine Mahnwache und Kundgebung, organisiert von der DIDF-Jugend mit Unterstützung des Bündnis „Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich Dortmund“ untermauerte diese Forderung nach Fortsetzung der Aufarbeitung der NSU-Netzwerke ebenso wie Angehörige der NSU-Opfer sowie deren Vertreter:innen.

Barbara John: „Sie könnten die Akten jederzeit freigeben“

Der damalige Dortmunder OB Ullrich Sierau, Elif Kubaşik, Prof. Barbara John, Aysun Tekin und Gamze Kubaşik bei der Benennung des Mehmet-Kubaşik-Platzes 2019.

Denn weder seien in den Untersuchungsausschüssen noch in den Verfahren die Rolle von Unterstützer:innen noch des Verfassungsschutzes aufgearbeitet worden. Stattdessen seien Akten geschreddert oder von Landesbehörden für Jahrzehnte versiegelt worden.

Die Kritik daran erneuerte auch Prof. Barbara John, Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer und Opferangehörigen der sogenannten Zwickauer NSU-Zelle, im Gespräch mit Nordstadtblogger. Die Familien hätten keinerlei Verständnis dafür, dass nicht mal die Opfer-Anwält:innen Einblick in die Akten nehmen könnten. 

Die Organisationen und die Angehörigen der Opfer fordern die Freigabe versiegelter Akten. Foto: Karsten Wickern für nordstadtblogger.de

John hatte unter anderem in Gesprächen mit Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang und dem hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier diese Missstände angeprangert.

Vor allem der hessische NSU-Fall wirft bis heute große Fragen auf, weil ein Mitarbeiter des Staatsschutzes beim Mord an Halit Yosgat im Nebenraum anwesend war. Doch die Akte hatte die Landesregierung für Jahrzehnte versiegelt. 

„Sie könnten die Akten jederzeit freigeben“, betont John. Daher sei es wichtig, auch weiter Druck zu machen. „Die Parlamente sind gefragt und die Presse muss das zum Thema machen – zusammen mit den Betroffenen“, sagte sie im Nordstadtblogger-Gespräch zum zehnten Jahrestag. 

Die rechtsextreme Motivation vieler Morde wurde nicht untersucht

Nach der tödlichen Messerattacke auf den Punker Thomas Schulz verbreiteten Neonazis Aufkleber mit dem Motto: Antifaschismus ist ein Ritt auf Messers Schneide. Archivbild: Völkel
Nach der tödlichen Messerattacke auf den Punker Thomas Schulz verbreiteten Neonazis Aufkleber mit dem Motto: Antifaschismus ist ein Ritt auf Messers Schneide. Archivfoto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Das gelte auch für die Aufarbeitung von anderen Morden in den vergangenen Jahrzehnten. Viele Taten seien bislang nicht als politisch motiviert anerkannt – das gilt unter anderem auch für den Mord an Punker Thomas Schulz (Spitzname „Schmuddel“), der 2005 von einem Neonazi erstochen wurde. 

Die rechtsextreme Szene feierte diese Bluttat zynisch unter dem Motto „Antifaschismus ist ein Ritt auf Messers Schneide“. Einige Bundesländer haben diese Untersuchungen mittlerweile schon durchgeführt und konnten eine Vielzahl von Fällen neu der Kategorie „Politisch motivierte Kriminalität“ zuordnen. Die Landesregierungen von NRW – sowohl die aktuelle schwarz-gelbe wie auch zuvor die rot-grüne – haben dies bisher jedoch verweigert.

Auch die Opferanwält:innen weisen seit Jahren auf Verbindungen von staatlichen Stellen zur rechtsextremen Szene hin. Einer der Kritiker ist Opferanwalt Mehmet Daimagüler, der u.a. beim Talk im DKH auf diese Probleme hinwies. Auch am Jahrestag erneuerte er seine Kritik.

Es gibt nicht nur Einzelfälle, sondern strukturelle Probleme

Die DemonstrantInnen glauben nicht, dass das Netzwerk nur aus dem Trio bestand. Foto: Leopold Achilles
Die DemonstrantInnen glauben nicht, dass das Netzwerk nur aus dem Trio bestand. Foto: Leopold Achilles Archivfoto: Leopold Achilles für nordstadtblogger.de

„Ich glaube, dass wenn man dem nachgeht, man sehr sehr schnell auf den Staat selber stolpert, auf V-Leute. Doch was nicht passt, wird passend gemacht. Also redet man immer noch vom Trio, obwohl es kein Trio war“, sagte er am zehnten Jahrestag der Selbstenttarnung im ZDF-Morgenmagazin.

Wenn man jede Woche einen Einzelfall hat, muss man irgendwann mal konstatieren, das sind dann halt doch keine Einzelfälle. Ich glaube, dass wir ein strukturelles Problem haben“, betont Daimagüler. 

„Ich glaube, dass wir über Rassismus und institutionellen Rassismus sprechen müssen, ich glaube, dass jeder Mensch in diesem Land, jeder Bürger, egal wie er aussieht, egal, wo er herkommt, einen Anspruch darauf hat, dass er Menschen in Uniform hat, die einfach auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Das ist aber nicht immer der Fall“, räumt der Anwalt ein, der selbst im Visier der Neonazis steht.

Daimagüler: „Ich glaube, dass wir in den Abgrund blicken müssen“

Erste Talkrunde im Dietrich-Keuning-Haus: 4 Jahre NSU-Prozess.Anwalt Mehmet Daimagüler im Gespräch mit Gamze und Elif Kubaşık
Talk im Dietrich-Keuning-Haus: 4 Jahre NSU-Prozess. Anwalt Mehmet Daimagüler im Gespräch mit Gamze und Elif Kubaşık Archivfoto: Klaus Hartmann für nordstadtblogger.de

Doch auch er möchte nicht alle Behörden über einen Kamm scheren, beteuert er im ZDF: „Also es ist nicht so, dass sich nichts getan hätte. Wir haben gute Anklagen gehabt gegen die Gruppe Freital, gegen Oldschool Society durch die Bundesanwaltschaft – aber die Amerikaner würden sagen: too late, too little. Es ist immer nur punktuell und vor allem unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle“, so Daimagüler. 

Unterhalb von Mord und Totschlag passiere soviel an rechtsextremer Gewalt, wo die Geschädigten, die Opfer allein gelassen würden, wo von der Polizei das Politische weggeschoben werde und wo Verfahren eingestellt würden. „Und da spielt aber im Alltag die Musik. Ich glaube, dass wir in den Abgrund blicken müssen, auch auf die Gefahr hin, dass der Abgrund zurückblickt, sonst werden die Dinge nicht besser.“

Doch Bundesinnenminister Horst Seehofer wolle nicht mal eine Studie zulassen und behauptet mit Blick auf den NSU-Prozess in München, dass alles aufgearbeitet sei. „Wir haben 428 Tage verhandelt, Herr Seehofer war kein einziges Mal dabei. Wenn er da gewesen wäre, wüsste er, wesentliche Fragen sind nicht beantwortet worden. Im Gegenteil, wir haben heute noch mehr offene Fragen als vor zehn Jahren“, betont Nebenklagevertreter Mehmet Daimagüler,

Gamze Kubaşık: „Wir Familien hofften auf Gerechtigkeit und bekamen Enttäuschung“

Gamze Kubaşık ist die Tochter des Dortmunder NSU-Opfers.
Gamze Kubaşık ist die Tochter des Dortmunder NSU-Opfers. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Das hatte auch Gamze Kubaşık, Tochter des Dortmunder NSU-Opfers, in dieser Woche im Gespräch mit Nordstadtblogger unterstrichen: „Wir Familien hofften auf Gerechtigkeit und bekamen Enttäuschung. Das macht mich nur wütend und traurig. Viele haben die Hoffnung aufgegeben. Ich möchte aber meine Hoffnung nicht aufgeben.“ 

„Ich fühle, und hoffe, dass wir irgendwann zur Aufklärung kommen. Ich glaube, dass wir irgendwann wieder hier sitzen und mehr wissen“, betont Gamze Kubaşık. „Es geht nicht nur darum, wer selbst geschossen hat, sondern auch darum, wer Unterstützer, Helfer oder weiterer Mörder war. Ich will wissen, welche Helfer der NSU in Dortmund und anderswo hatte.“

„Ich will wissen, warum die Morde und Anschläge nicht verhindert wurden. Ich will wissen, was Polizei und Verfassungsschutz wussten und warum deren Spitzel bis heute geschützt werden. Ich möchte, dass die NSU-Akten den Anwälten übergeben werden“, so die Tochter des Dortmunder NSU-Opfers. „Solange eine 100%ige Aufklärung nicht wenigstens versucht wurde, kann und werde ich damit nicht abschließen können.“

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Reaktionen

  1. Uwe Sommer

    Leserbrief zu Enthüllungen über den rechten Terrorismus

    Das Gründungsdokument des NSU ist seit 1993 bekannt
    Auf Grund auch meiner Informationen als Betroffener schrieb die Frankfurter Rundschau bereits am 3. 12. 93 u.a.: Neonazis rufen zur „endgültigen Ausschaltung” von Gegnern auf. Druckschrift nennt 250 Menschen, die „bestraft” werden sollen.

    „Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe ermittelt gegen eine unbekannte kriminelle Vereinigung von Neonazis, die eine Broschüre mit dem Titel ‚Einblick – Die Nationalistische Widerstandszeitschrift gegen zunehmenden Rotfront- u. Anarchoterror‘ verbreiten.In der rund 50 Seiten umfassenden Broschüre werden nach Angaben des ARD-Fernsehmagazins „Panorama“ die Namen, Anschriften und Autokennzeichen von etwa 250 Personen genannt, die von den Lesern der Schrift „bestraft“ werden sollen. Unter den Bedrohten seien Bürgermeister, Richter, Unternehmer, Journalisten und Jugendamts-Mitarbeiter. Der Bund der Antifaschisten (VVN) teilte mit, in der Schrift würden auch SPD-Landtagsabgeordnete, Gewerkschaftsfunktionäre, VVN-Mitglieder, eine kirchliche Flüchtlingsbeauftragte und Schriftsteller bedroht.Nach Angaben von ‚Panorama‘ ist die Druckschrift über ein Postfach in Dänemark zu beziehen. In ihr heiße es unter anderem: ‚Wir werden es hier tunlichst vermeiden, zur Gewalt im Sinne von Körperverletzungen, Tötungen usw. gegenüber unseren Gegnern aufzurufen. Jeder von uns muß selbst wissen, wie er mit den ihm hier zugänglich gemachten Daten umgeht. Wir hoffen nur, ihr geht damit um!!!‘ Weiter werde zur ‚endgültigen Zerschlagung‘ und ‚Ausschaltung aller … antideutschen … Kräfte‘ aufgerufen.Trotz der im Broschürentext als ‚tunlichst vermeiden‘ verbrämten Aufforderung zu Tötung und Körperverletzung geht die Bundesanwaltschaft bisher nicht von der Existenz einer terroristischen Vereinigung (nach Paragraph 219a) aus. Nach dem Gesetz ist der Tatbestand der Gründung einer terroristischen Vereinigung jedoch erfüllt, wenn deren Zweck oder Tätigkeit auf Mord oder Totschlag gerichtet ist.“

    Die Liste „Einblick“ darf als das Gründungsdokument des NSU angesehen werden. Es ist seit fast 30 Jahren eine terroristische rechte Gruppe tätig, die „tunlichst“ ihre Taten verheimlicht und keine Bekennerschreiben loslässt, aber dennoch höchst gefählrich ist.

    Aus Dortmund sind rund 25 Personen und Organisationen in der Liste aufgeführt. Eine Kopie ist in unserem Besitz. Die Polizei hat vor 28 Jahren und nach der Aufdeckung von NSU die Betroffenen in Dortmund aufgesucht und auf bestehende Gefährdungen hingewiesen. Die Frage nach „Einblick“ wurde vor zehn Jahren verneint: Kennen wir nicht. Es ist aber so, dass von Anfang an die Polizei informiert war über den Text von „Einblick“. Offenbar wurde das Dokument nicht von der Polizei und Justiz in Dortmund ins Archiv aufgenommen. Nach weiteren Drohungen gegen mich und meine Familie – Hetztexte am Wohnhaus, Maildrohung „Kommt Zeit kommt Rat, kommt Attentat“, Aufnahme meiner Person in die Liste der Juden und Feinde Deutschlands „Orcus“ usw – habe ich jeweils die Dortmunder Polizei informiert. Entweder kamen die Mails als unzustellbar zurück oder es kam nach weiteren Versuchen nicht einmal ein Eingangsschreiben zustande.

  2. Der NSU-Geheimbericht: Zeugnis eines Desasters | NSU Watch

    […] „Ich will wissen, warum die Morde und Anschläge nicht verhindert wurden. Ich will wissen, was Polizei und Verfassungsschutz wussten und warum deren Spitzel bis heute geschützt werden. Ich möchte, dass die NSU-Akten den Anwälten übergeben werden […] Solange eine 100%ige Aufklärung nicht wenigstens versucht wurde, kann und werde ich damit nicht abschließen können.“ Gamze Kubaşık 2021 […]

  3. NSU Gizli Raporu: Bir Felaketin Tanıklığı | NSU Watch

    […] en azından bir çaba gösterilmediği sürece ben bu iş bitti diyemeyeceğim ve demeyeceğim.“ Gamze Kubaşık 2021 Anısına: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet […]

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