Zehnter Jahrestag der Selbstenttarnung des NSU

Kritik der Opfer-Familien: „Die Bundesregierung hat uns vollständige Aufklärung versprochen“

Gedenken am 12. Todestag von Mehmet Kubasik
Gedenken an Mehmet Kubaşık: Tochter Gamze und Ehefrau Elif mit ihrer Familie am Tatort in der Nordstadt. (Archivbild) Klaus Hartmann | Nordstadtblogger

Am 4. November 2021 jährt sich der Jahrestag der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zum zehnten Mal. Doch auch wenn das Verfahren gegen Beate Zschäpe in München abgeschlossen ist und mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse beendet, gibt es für die Familien der Opfer mehr offene Fragen als Antworten. Daran will auch am Jahrestag eine Mahnwache mit Kundgebung erinnern.

Bringschuld des Staates: „Für mich ist die Aufklärung nicht zu Ende“

Gamze Kubaşık ist die Tochter des Dortmunder NSU-Opfers.
Gamze Kubaşık ist die Tochter des Dortmunder NSU-Opfers Mehmet Kubaşık. Die Familie fordert Aufklärung. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Für die Dortmunder Familie Kubaşık – Familienvater Mehmet wurde am 6. April 2006 vom NSU in seinem Kiosk in der Nordstadt erschossen – sind die offenen Fragen nicht hinnehmbar: „Die Bundesregierung hat uns vollständige Aufklärung versprochen. Aber dem sind sie nicht nachgekommen“, betont die Tochter des Opfers, Gamze Kubaşık. ___STEADY_PAYWALL___

Die Familien der Opfer und ihre Anwält:innen hätten sowohl im Prozess in München als auch bei den Untersuchungsausschüssen vergeblich darauf gedrängt, dass untersucht wurde, ob und wie die Unterstützungsnetzwerke ausgesehen haben. 

Denn auch für Familie Kubaşık steht außer Frage, dass es auch in Dortmund solche Unterstützungsstrukturen für bzw. Kontakte zum NSU gegeben habe. Denn warum sonst habe das Trio aus Zwickau den Kiosk in der Mallinckrodtstraße ausgesucht? Führende Neonazi-Kader hatten damals „nur einen Steinwurf“ entfernt gewohnt. 

„Ich will wissen, welche Helfer der NSU in Dortmund und anderswo hatte“

4. Tag der Solidarität gedenkt dem NSU-Mordopfer Mehmet Kubasik

„Für mich ist die Aufklärung nicht zu Ende. Auch das Urteil des Oberlandesgerichts München hat meine Fragen nicht beantwortet. Ich möchte immer noch wissen, wer für den Mord an meinem Vater verantwortlich ist“, macht die engagierte Nordstädterin deutlich.

„Wir Familien hofften auf Gerechtigkeit und bekommen Enttäuschung. Das macht mich nur wütend und traurig. Viele haben die Hoffnung aufgegeben. Ich möchte aber meine Hoffnung nicht aufgeben. Ich fühle, und hoffe, dass wir irgendwann zur Aufklärung kommen. Ich glaube, dass wir irgendwann wieder hier sitzen und mehr wissen“, betont Gamze Kubaşık. 

„Es geht nicht nur darum, wer selbst geschossen hat, sondern auch darum, wer Unterstützer, Helfer oder weiterer Mörder war. Ich will wissen, welche Helfer der NSU in Dortmund und anderswo hatte“, betont Gamze Kubaşık. 

„Ich will wissen, warum die Morde und Anschläge nicht verhindert wurden. Ich will wissen, was Polizei und Verfassungsschutz wussten und warum deren Spitzel bis heute geschützt werden. Ich möchte, dass die NSU-Akten den Anwälten übergeben werden“, so die Tochter des Dortmunder NSU-Opfers. „Solange eine 100%ige Aufklärung nicht wenigstens versucht wurde, kann und werde ich damit nicht abschließen können.“

Die NSU-Mordserie erschütterte das Land und das Vertrauen in den Rechtsstaat

Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße ermordet. Archivfoto: Alex Völkel
Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße ermordet. Archivfoto: Alex Völkel Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Kein Schlussstrich – das ist auch die zentrale Forderung des Netzwerks „Tag der Solidarität/Kein Schlussstrich Dortmund“, welches an die Morde, die Täter:innen aber auch und gerade an die Opfer erinnert. Dass es sich dabei um Opfer von Rechtsterrorismus handelt, war nicht der Aufklärungsarbeit der Behörden, sondern der Selbstenttarnung des NSU zu verdanken.

Am 4. November 2011 flog der Nationalsozialistische Untergrund nach einem gescheiterten Bankraub in Eisenach auf. In der Folge wurde bekannt, dass der NSU für eine bis dahin beispiellose rassistische Mord- und Terrorserie verantwortlich ist. Die NSU-Mordserie erschütterte das Land und das Vertrauen in den Rechtsstaat. 

„Uns geht es im Zusammenhang mit diesem traurigen Jahrestag darum, Solidarität mit den Angehörigen der Mordopfer und Überlebenden des rechten Terrors zu zeigen“, so Marie Kemper vom Bündnis Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich in Dortmund. Die Angehörigen der Familien Yozgat, Kubaşık und Şimşek organisierten in Kassel und Dortmund bereits 2006 – wenige Monate nach den Morden – Demos, in denen sie klar das rassistische Tatmotiv thematisierten.

Der Jahrestag der Selbstenttarnung war für die Angehörigen ein Tag der Erleichterung – denn endlich wurde ihnen geglaubt. Elif Kubaşık berichtete, dass sie wieder „erhobenen Hauptes“ durch die Straßen gehen konnte, da sie mit ihrer Vermutung, dass die Täter Nazis waren, recht hatten.

Drängende Fragen sind offen: Was wussten Polizei und Verfassungsschutz?

4. Tag der Solidarität gedenkt dem NSU-Mordopfer Mehmet Kubasik
Der Vorwurf des institutionellen Rassismus schwebt im Raum – der Verfassungsschutz mauert. Klaus Hartmann | Nordstadtblogger

„Der NSU-Komplex ist nach wie vor unzureichend aufgearbeitet, Gamze Kubaşık hat das Recht zu erfahren, warum die Mörder nicht gestoppt wurden“, so Kemper. Weder der parlamentarische Untersuchungsausschuss im Düsseldorfer Landtag, noch der erste NSU-Prozess am Oberlandesgericht in München, hätten die versprochene Aufklärung gebracht. 

„Wir schließen uns der Forderung von Familie Kubaşık an, wissen zu wollen, was Polizei und Verfassungsschutz wussten, denn es waren nicht die Sicherheitsbehörden, die die Nazis stoppten, sondern es handelte sich um eine Selbstenttarnung“, so Kemper. 

Vor dem Hintergrund einer nicht enden wollenden Verharmlosung und Vertuschung extrem rechter Verbrechen und des weit verbreiteten gesellschaftlichen Rassismus, einer militanten Neonaziszene in Dortmund und rechten Netzwerken in den Sicherheitsbehörden, schließt sich das Bündnis den Forderungen der Familie Kubaşık nach lokalen Ermittlungen an.

„Das Mindeste ist, dass die Anwält*innen der Opferfamilien Zugang zu allen Akten erhalten“, sagt Ali Şirin, vom Bündnis. „Weitere Ermittlungen in Dortmund sind notwendig um das Netzwerk zu beleuchten und lokale Unterstützer:innen des NSU ausfindig zu machen.“

Kundgebung und Mahnwache am 4. November vor dem Fußballmuseum

„Die Entwicklung nach rechts, der erneute Einzug der AfD in den Bundestag und die alltäglichen rassistischen Angriffe erfordern, dass wir den Rechtsruck entschlossen bekämpfen“, so Ekincan Genc von der DIDF Jugend. 

Unter dem Motto: „Kein Vergeben, Kein Vergessen – 10 Jahre Aufdeckung des NSU und immer noch keine Aufklärung“, hat er am 4. November 2021 ab 14 Uhr eine Kundgebung vor dem Dortmunder Hauptbahnhof am DFB-Fußballmuseum angemeldet, die vom Bündnis „Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich Dortmund“ unterstützt wird. 

Sie erinnern dann an die Opfer des NSU: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut,İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter.

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Reaktionen

  1. Einladung: szenische Lesung „Das Herz liegt begraben“ am 05.11. und „Diversität (l)eben!“ am 04.11.2021 im Keuning.haus (PM)

    Liebe Freund*innen des Keuning.haus, sehr Geehrte*,

    gerne möchten wir Sie auf diese zwei besonderen Veranstaltungen im Rahmen des interdisziplinären bundesweiten Theaterprojekts Kein Schlussstrich! aufmerksam machen:

    "Das Herz liegt begraben" – Auf den Spuren der Lebens- und Liebesgeschichte von Elif und Mehmet Kubaşık
    Szenische Lesung in Kooperation mit dem Schauspiel Dortmund
    Freitag, 05. November, 19.30 Uhr, Einlass ab 18.30 Uhr
    Eintritt frei

    Im Jahr 1991 kommen Mehmet Kubaşık und seine Jugendliebe Elif Kubaşık in Deutschland an. Sie entfliehen aus der Türkei, um der politisch-bedrohlichen Situation zu entkommen und leben in Dortmund. Jahre später eröffnet Mehmet Kubaşık einen Kiosk im Dortmunder Stadtteil der Nordstadt. Am 04. April 2006 wird er das Opfer rassistischer Gewalt des NSU.
    Die Regisseurin Emel Aydoğdu wird den Spuren der Lebens- und Liebesgeschichte Elif und Mehmet Kubaşıks nachgehen. Und gleichzeitig begibt sie sich auf eine Erinnerungsreise ihrer eigenen (Familien-)Geschichte und ihres Lebens zwischen der Türkei und Deutschland.
    Mit Schauspieler*innen des Schauspiel Dortmund erzählt sie über die Begegnungen und Momente in der Türkei bis Deutschland, bis kurz vor dem Tag im April 2006, bis zur Gegenwart und beleuchtet so persönliche Erinnerungen und Geschichten eines vielschichtigen Lebens.

    KONZEPT & FASSUNG Elif Kubaşık & Emel Aydoğdu
    REGIE Emel Aydoğdu
    BESETZUNG: Marlena Keil, Antje Prust und Mervan Ürkmez
    KÜNSTLERISCHE PRODUKTIONSLEITUNG Rena Schölzig & Özge Çakirbey
    DRAMATURGISCHE BERATUNG Christopher-Fares Köhler

    Musikalischer Abend mit poetischer Begleitung: Diversität (l)eben!
    Donnerstag, 4. November, 20.00 Uhr
    Eintritt frei

    Diversität (l)eben! Let’s sing! Let’s rock! Let’s spread some love!
    Schauen wir uns doch mal den Ort an, an dem schon immer für die Freiheit und die Liebe gekämpft wurde. Kitschig? Tja, das macht es nicht weniger wahr, der Ort der Kultur! Der Musik! Der Poesie!
    Der Ort, an dem alle zueinander finden, sich durch Musik und Texte bewegen und sich in Gedanken in die Welt der Verbundenheit begeben.
    Ein Abend, in dem die Künstler*innen auf ihre Art sagen, was Frieden, Gerechtigkeit, Zusammenhalt und Gemeinschaft für sie bedeutet und wonach sie sich sehnen. Ein Abend, der einer Phantasiereise gleich kommt.
    Dabei sind: Joyce Nuhill, & Wolfgang Brust, Rejoice & Rapha- El Festus, Mister Kibs & Jojo und Aylin Celik

    Das komplette Programm zum Projekt Kein Schlussstrich! entnehmen Sie bitte unseren Social Media Kanälen.
    Mit dem Vorhaben sollen die Perspektiven der Familien der Opfer und (post-)migrantischen Communities in den Fokus der Öffentlichkeit gebracht und Räume zum Austausch geschaffen werden. Das Projekt wird von einem Kooperationsnetz aus Theatern und Institutionen in 15 Städten realisiert, die eigens dafür den Licht ins Dunkel e.V. als Trägerverein gegründet haben.

    Mit besten Grüßen aus der Nordstadt,
    das Team des Keuning.haus

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