Zuwanderung als Vorteil: Im Dortmunder Norden ist das Erlernen interkultureller Kompetenz leichter möglich 

Die Nordstadt ist von jeher ein Einwanderungsstadtteil. Dies bietet auch Chancen. Archivbild: Alex Völkel

Die Dortmunder Nordstadt ist immer gut für Schlagzeilen. Wegen ihres hohen Migrationsanteils wird sie häufig auch als Negativbeispiel angeführt. Zu unrecht, wie Prof. Dr. Ulrich Wagner, emeritierter Professor für Sozialpsychologie an der Philipps-Universität Marburg, findet. Er sieht im Gegenteil Gebiete und Städte ohne Zuwanderung benachteiligt, weil man hier interkulturelles Lernen und den Umgang mit Diversität nicht lernen kann. 

Dem renommierten Wissenschaftler fallen die negativen Stereotype über die Nordstadt auf

Wagner hatte in der 3Sat-Sendung „Scobel“ indirekt eine Lanze für den Dortmunder Norden gebrochen. Grund genug für Nordstadtblogger, mal bei dem angesehen Wissenschaftler nachzufragen, der seit Jahrzehnten zu Intergruppenkonflikten, Aggression und Gewalt sowie Präventionsmaßnahmen forscht und arbeitet. 

Prof. Dr. Ulrich Wagner, emeritierter Professor für Sozialpsychologie an der Philipps-Universität. Foto Laackman Fotostudios Marburg
Prof. Dr. Ulrich Wagner ist emeritierter Professor für Sozialpsychologie an der Philipps-Universität. Foto Laackman Fotostudios Marburg

Die Nordstadt ist dem bekennenden BVB-Fan natürlich ein Begriff. Zudem ist Wagner selbst „Ruhri“ – in Essen geboren, in Hattingen aufgewachsen, in Bochum studiert. Bis heute hat er familiäre Bande ins Ruhrgebiet. An der Nordstadt hat er wissenschaftliches Interesse. Wegen des hohen Anteils von Migrant*innen ist der Stadtteil bundesweit etwas Besonderes. 

Allerdings fällt ihm trotz aller Probleme und Herausforderungen auf, dass die „Diskussionen zum Teil ziemlich überzogen sind“, so Wagner. Es fänden sich zahlreiche Stereotype und die überregionale Berichterstattung präge die Sicht auf den Stadtteil. 

„Als externer Besucher geht man mit Vorinformationen hinein. Ich habe mich nie bedroht gefühlt, aber man schaut schon nach dem Verhältnis von Berichten und Ereignissen“, räumt der Sozialpsychologe ein. Die negativen Stereotype beeinflussten auch „gutwillige Besucher“ – doch das gelte nicht exklusiv für die Nordstadt. „Das gibt es auch in anderen Orten des Ruhrgebiets und anderswo.“

Zuwanderung als Vorteil: Hier ist das Erlernen interkultureller Kompetenz möglich 

„Hier und Da – Migration in Dortmund in Geschichte und Gegenwart“. Foto: Hans Rudolf Uthoff/ Stadtarchiv Dortmund
Dortmund blickt auf eine lange Geschichte der Zuwanderung – nicht nur von sogenannten „Gastarbeitern“. Foto: Hans Rudolf Uthoff/ Stadtarchiv

Dabei könnte man Regionen und Stadtteile mit höherem Anteil an Migrant*innen durchaus positiv bewerten. „Das bietet die Möglichkeit, andere Kulturen und Gebräuche kennenzulernen. Es geht um Verhaltenskompetenz, vielleicht auch berufliche Kompetenz“, betont Wagner mit Blick auf die Möglichkeit zu interkulturellem Lernen. 

„Wir sind in unsere Gewohnheiten eingebunden und machen immer dasselbe. Dann kommt jemand mit einem anderen kulturellen Hintergrund und macht deutlich, dass man Dinge auch völlig anders machen kann. Das kann eine Bereicherung und eine Entwicklungsmöglichkeit darstellen“, betont der Sozialpsychologe. 

Sicher gehe das auch mit Konflikten einher – es gebe Interaktionsprobleme. Aber es regt an, auch die eigenen Gewohnheiten mal von außen zu betrachten: „Das ist eine Bereicherung und Erweiterung des Blicks in die Welt“, so Wagner. Diese Chance hätten Menschen in Regionen ohne oder mit sehr geringen Anteil von Migrant*innen nicht. 

Beide Seiten müssen sich bewegen, aber: „Es gibt Rechte, die nicht verhandelbar sind

Dabei räumt er gleich mit dem Vorurteil auf, dass sich nur Zuwanderer*innen in Deutschland integrieren müssten. „Es müssen sich beide Seiten bewegen. Deutschland ist zweifelsohne ein Einwanderungsland. In der Dortmunder Nordstadt merkt man es besonders“, so Wagner. Daher müssten wir diskutieren, wie das gemeinsame Zusammenleben aussehen soll. Dabei gehe es darum, sowohl Freiräume für kulturelle Gewohnheiten zu schaffen bzw. zu erhalten, aber auch Gemeinsamkeiten zu formulieren. 

Rumänische Roma treffen aus Frankreich in der Mallinckrodtstraße ein - Neuzugänge in der Nordstadt.
Rumänische Roma treffen aus Frankreich in der Mallinckrodtstraße ein – Neuzugänge in der Nordstadt.

„Das auszuhandeln ist schwierig. Es gibt aber auch Bereiche, wo Einwanderer sich anpassen müssen, zum Beispiel bei der Anerkennung des Grundgesetzes oder der Rechte von Frauen. Es gibt Rechte, die nicht verhandelbar sind“, zeigt der Wissenschaftler klare Grenzen auf.

Doch ist das Lernen und Kennenlernen der deutschen Mehrheitsgesellschaft überhaupt noch möglich, wenn die Minderheit eigentlich schon die Mehrheit stellt – zumindest in der Nordstadt? Wenn Menschen neu in ein Land einwandern, versuchen Sie oft, sich dort niederzulassen, wo sie Landsleute vorfinden. Das bringt Sicherheit. Auch zwingt der Wohnungsmarkt neu Hinzukommende häufig dazu, in Gegenden zu ziehen, in denen der Ausländeranteil hoch ist. 

Prof.Dr. Ulrich Wagner sieht darin allein kein so großes Problem, da die beiden Gruppen sich noch nicht gleichberechtigt gegenüber stünden. „Für die neu Hinzugekommenen ist es in der Regel immer noch möglich, zu lernen, selbst wenn sie die Mehrheit stellen. Man lernt, so lange es keine völlige Abschottung gibt“, so der Sozialpsychologe. Schließlich sei auch die Nordstadt durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft, ihre Spielregeln und den gesetzlichen Rahmen geprägt. 

Es gibt viele Parallelgesellschaften  – aber nicht alle werden problematisiert

Einblicke in den Moscheealltag bekamen die Teilnehmenden beim Mittagsgebet.
Seit Jahren gewähren Moscheevereine Einblicke in ihren Alltag und den Glauben – so auch in der Nordstadt.

Probleme entstehen allerdings, wenn sich sogenannte Parallelgesellschaften bilden. Denn ab einer bestimmten Größe und Personenzahl kommen die Migrant*innen auch ohne Sprachkenntnisse und Kenntnisse über Deutschland klar.

Dann gebe es eine ausreichend große Infrastruktur an Geschäften, Ärzten, Kultur, Religion und Arbeitsplätzen, wo man allein mit der Herkunftssprache zurecht komme, ohne sich mit Deutschen oder der deutschen Sprache auseinandersetzen zu müssen. 

Allerdings werden nicht alle Parallelgesellschaften als solche problematisiert oder thematisiert: Während Parallelstrukturen im Dortmunder Norden (und anderen deutschen Städten) von Teilen skandalisiert werden, wird das beispielsweise bei der großen japanischen Community in Düsseldorf oder mittelhessischen Städten mit Standorten der US-Armee nicht thematisiert. Diese verfüg(t)en oft auch über keinerlei Deutschkenntnisse und Kontakte zu Deutschen oder Kenntnisse über Deutschland.

Studie: Wo viele Ausländer*innen leben, gibt es weniger fremdenfeindliche Straftaten

Eine gemischte Bevölkerung bietet auch andere Vorteile: Fremdenfeindliche Straftaten sind umso seltener, je mehr Ausländer*innen in einer Region leben. Das zeigen Wissenschaftler*innen der Universitäten Marburg und Osnabrück sowie des Bundeskriminalamts in einer empirischen Studie, an der das Team um Professor Dr. Ulrich Wagner beteiligt war.

Demo „Keine Moschee in Lindenhorst“ – kein Ausdruck der generellen Unzufriedenheit der Bevölkerung, sondern instrumentalisiert von Neonazis.

Als von 2015 an die Anzahl der Geflüchteten anstieg, die in die Bundesrepublik kamen, gab es immer mehr fremdenfeindliche Übergriffe – für das Jahr 2016 verzeichnet die Statistik im Vergleich zu 2014 mehr als doppelt so viele Straftaten gegen Migrant*innen sowie ethnische Minderheiten; die Zahl der Brandanschläge gegen Asylbewerberheime verzwölffachte sich. Der Anstieg war aber nicht überall gleich hoch; so kamen in den östlichen Bundesländern mehr solcher Straftaten vor als in den westlichen Bundesländern. 

Die Autorinnen und Autoren der Studie hatten zur Erklärung zwei Theorien aufgestellt: Leben viele Ausländer*innen in einer Region, so gibt es der Gruppenkontakt-Theorie zufolge mehr Möglichkeiten zum Kontakt mit ihnen; die positiven Erfahrungen, die man dabei mache, führten zum Abbau negativer Vorurteile und zur Abnahme von fremdenfeindlicher Gewalt.

Die Bedrohungstheorie hingegen besagt, ein höherer Anteil an Ausländer*innen wecke bei der Bevölkerungsmehrheit ein Gefühl der Bedrohung – Bedrohung des ökonomischen Status, wichtiger Wertvorstelllungen und Normen; das Empfinden, bedroht zu sein, rufe Zurückweisung und diskriminierendes Verhalten hervor. „Beide Erklärungsansätze erschienen plausibel, sowohl auf der Basis von Alltagsüberlegungen als auch vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Theorien“, erklärt Wagner.

Menschen aus Regionen, die interkulturelle geprägt sind, fallen seltener auf Fakenews rein

Die Forscher nutzen für die Prüfung beider Theorien Daten der Statistik zur politisch motivierten Kriminalität des BKA. Das Ergebnis: Je mehr Ausländer*innen in einem Bezirk leben, umso geringer fällt die Anzahl fremdenfeindlicher Straftaten aus – selbst nach Ausschluss aller möglichen Störfaktoren. Überraschenderweise steht die Häufigkeit von Hassverbrechen in keinem signifikanten Zusammenhang mit dem Anteil der Geflüchteten in den einzelnen Bezirken, wohl aber mit dem Gesamtanteil der Ausländer*innen in einem Bezirk. 

Das Münsterstraßenfest ist zentraler Bestandteil der Internationale Woche. Archivbild: Alex Völkel
Das Münsterstraßenfest ist zentraler Bestandteil der Internationale Woche. Archivbilder (7): Alex Völkel

„Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass Ausländerinnen und Ausländer in bestimmten Bezirken schon länger präsent sind, was für das Verhalten zwischen den Gruppen relevanter ist als neu hinzugekommene Geflüchtete“, vermuten die Autor*innen der Studie. Die kurze Anwesenheit von Geflüchteten in einigen Bezirken reiche hingegen möglicherweise nicht aus, um positive Kontakte zu ermöglichen, die das Verhalten zwischen den verschiedenen Gruppen prägen könnten. 

„In Ostdeutschland gibt es kaum Menschen mit Migrationshintergrund. Ostdeutsche haben daher ein Problem, sich mit dem Anderssein zu befassen. Wenn ich wenig Chancen habe, einander kennenzulernen bin ich offen für Vorurteile und Stereotypen“, macht Wagner deutlich. „Es gibt Studien, die zeigen, dass Menschen aus Regionen, die eher interkulturell geprägt sind, Fakenews über Flüchtlinge und Einwanderer*innen nicht so sehr aufsetzen.“

„Wir haben viele Untersuchungen gemacht und uns angeschaut, wie groß der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund und wie stark das Ausmaß an Vorurteilen ist. Wir finden einen linearen negativen Effekt: Je höher der Anteil von Migrant*innen desto geringer die Vorurteile – selbst wenn der Anteil sehr hoch wird“, so Wagner.  

Strukturwandel schafft Probleme – das ist keine Frage der Ethnie, sondern der Armut

Roma in der Mallinckrodtstraße Dortmund
Roma in der Mallinckrodtstraße: Sichtbarstes Zeichen der Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien.

Problematisch wird es in einem Stadtteil, wenn der Strukturwandel durchschlägt und dadurch die Arbeitsmöglichkeiten wegbrechen. Das lässt sich überall im Ruhrgebiet (und nicht nur dort) nachvollziehen. Das weitgehende Ende von Kohle und Stahl an Rhein und Ruhr hat vor allem auch die Generationen der Zugewanderten getroffen, die einst als sogenannte „Gastarbeiter“ kamen. 

Außerdem verhindert dies, dass auch neu zugewanderte beispielsweise aus Südosteuropa auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Dies ist auch in der Nordstadt zu erkennen. Somit seien auch die Verhältnisse in der Nordstadt weniger ein ethnisches als viel mehr ein Problem von und mit Armut. 

Als mögliches Pulverfass sieht Wagner dabei die Situation von den Menschen, denen die deutsche Politik eine Perspektive verweigert. Das sind beispielsweise die jungen Zuwanderer aus Nordafrika, denen deutlich gemacht wurde, dass sie hier keine Bleibepersepktive haben und schnellstmöglich abgeschoben werden können. 

Sie sind in Deutschland nur vorübergehend geduldet – damit wird ihnen Arbeitsaufnahme oder eine Ausbildung verweigert. Ihnen bleibt oft nur, mit illegalen Tätigkeiten etwas Geld zu machen, um in der Heimat die Schulden für die Flucht zu tilgen.

Perspektive für Geduldete: „Sie bekommen bei den Clans Anti-Integrationsangebote“

„Für die geduldeten Menschen selbst, aber auch für die Aufnahmegesellschaft ist das ein Problem. Meine Konsequenz daraus ist nicht sie abschieben, sondern eine andere Integrationspolitik. Es geht um die Frage der Anerkennung. Wer sich anerkannt fühlt, weicht nicht in Parallelgesellschaften aus, vermeidet Kriminalität und Extremisierung. Ich bin hochgradig unzufrieden mit der Politik: Sie ist gefährlich für die Menschen und das Land“, so Wagner. 

Die Polizei hat es in der Nordstadt tagtäglich mit kleinkriminellen Strukturen zu tun. Oft ist politisch verursachte Perspektivlosigkeit die Ursache fürs Dealen.

Neue Hinzukommende brauchen gesellschaftliche Einbindung, um der Kriminalisierung entgegenzuwirken. Sonst begeben die Menschen sich auf einen Weg der totalen Auszugliederung, beginnen, nur noch in Drogen zu machen und zu klauen, weil sie sonst keine Perspektive hätten. Hier drohe dasselbe Problem, was man schon bei der sogenannten Clan-Kriminalität sehen könne. 

Dabei gehe es zum Beispiel um libanesische Familien – also um Menschen, denen seit Jahren und Jahrzehnten ein regulärer Aufenthalt verweigert werde. „Es gab nie Integrationsangebote. Genau sowas müssen wir vermeiden“, sagt der Sozialpsychologe mit Blick auf die junge Generation von Migrant*innen, die nun auch eine Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit erlebten.

Im Zweifelsfall würden sie jetzt zum Fußvolk der Banden. „Sie bekommen bei den Clans Angebote der Zugehörigkeit, die Anti-Integrationsangebote für eine gesellschaftliche Teilhabe sind. Ich will das nicht moralisch bewerten, aber als Wissenschaftler sehe ich den Effekt“, so Wagner.

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Reaktionen

  1. Esbett

    Die dauerhafte Duldung nicht asylberechtigter untergräbt den gesamten Sinn und Zweck des Asylrechts.
    Es gibt nur eine Option, die Abschiebung. Hätte man sich an die gesetzliche Vorgaben gehalten, gäbe es heute kein Clan-Problem.
    Auch den massiven Zuzug der Roma in die Nordstadt hätte man unterbinden müssen. Sie kommen bewußt in eine Stadt, in der es kaum legale Verdienstmöglichkeiten für die oftmals, schulisch und beruflich schlecht oder kaum ausgebildeten Menschen gibt.
    Die Situation nach der Süd-Ost- Erweiterung habe ich miterlebt, sie hat die Atmosphäre in der Nordstadt nachhaltig verändert. Nicht zum Guten …

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