Initiative für Kulturaktivismus und solidarisches Miteinander: das „offene Zentrum“ sucht dauerhafte Bleibe in der Stadt

Auf dem Gelände von Tante Albert sollen bald Workshops und Bildungsprojekte für Kinder angeboten werden.
Gemeinschaftsgarten „Tante Albert“: nach dessen Erfolg soll nun ein „offenes Zentrum“ gegründet werden.

Kultur mit sozialem Anspruch, ohne Vereinnahmung durch den herkömmlichen Betrieb, mit utopischem Denken über eine andere Welt, gelebt und institutionalisiert als „offenes Zentrum“ in Dortmund – geht das? Der Trägerverein von „Tante Albert“ jedenfalls, mit dessen Initiative in der Nähe des Borsigplatzes bereits eine ehemalige Brachfläche erfolgreich in einen Gemeinschaftsgarten umgestaltet wurde, beabsichtigt genau dies – und sucht augenblicklich nach passenden Räumlichkeiten.

Autonome Selbstorganisation jenseits der Angebote des Kulturbetriebes beabsichtigt

Der Zugang soll ausgesprochen niederschwellig sein – ein Ort, offen für alle, die dorthin kommen wollen. In ein neues Zentrum, das „kulturellen Aktivismus“ in Dortmund vernetzt, wie es in der Konzeption heißt. Auf dieser Plattform wird es vorab keine festgelegten Angebote geben.

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Vielmehr geht es den OrganisatorInnen darum, einen Möglichkeitsraum für Menschen bereitzustellen, den sie durch Selbstorganisation füllen können. Um – bei aller individuellen Verschiedenheit – voneinander zu lernen, sich miteinander zu entfalten, gemeinsam zu wachsen.

Die Ansprüche des Projekts, das in naher Zukunft irgendwo in der Stadt als ein Sammelpunkt verschiedenster „Mitmach-Alternativen“ gegenüber dem herkömmlichen Kulturbetrieb Fuß fassen will, haben einen dezidiert politischen, aber völlig parteiunabhängigen Hintergrund.

Anders, gewaltfrei leben: mit Visionen – ohne Hierarchien und Diskriminierung

Engagierte AkteurInnen für ein „offenes Zentrum“ in Dortmund

In Annäherung ließen sich die Motive für den Aufbau des geplanten Dortmunder Zentrums mit Begriffen wie „Emanzipation“, „Solidarität“, vielleicht auch mit „Empowerment“ umschreiben; zudem spielt das Visionäre, das Utopische eine entscheidende Rolle.

Mit der Idee eines solchen „offenen Zentrums“ verbunden ist mithin ein antidiskriminatorischer Impetus: die unausgesprochenen Normen einer hierarchischen, nach Machtgefällen strukturierten Gesellschaft sollen genauso wenig gelten, wie andere soziale Folgen des überall invasiven Marktmechanismus hier einen Platz hätten. Stattdessen: Gleichstellung aller, die sich engagieren – in dieser vorgestellten Enklave.

Auch deshalb duftet es nach Utopie, im wohlverstandenen, nicht-diskreditierten Sinne – und so ist es von den Aktiven, die diesen Handlungsraum in Dortmund lokal und konkret aufbauen wollen, durchaus gemeint: eine Gruppe zumeist jüngerer Leute – um den Sozialen Kulturverein Dortmund-Nord e.V. herum – mit der Fähigkeit zum positiven Tagträumen und der schlichten Absicht, (ganz) anders als die Mehrheitsgesellschaft zu leben, sich zu begegnen, und letztlich politisch zu intervenieren.

„Tante Albert“ – oder wie aus Brachland ein blühender, integrativer Garten wurde

Beim Jahresauftakt im Gemeinschaftsgarten spielte sogar das Wetter mit. Fotos: Alex Völkel
Im Gemeinschaftsgarten an der Albertstr. unweit des Borsigplatzes. Foto (2): Alex Völkel

Und sie haben bereits Beachtliches vorzuweisen: „Tante Albert“ – bekannt mittlerweile nicht nur um den Borsigplatz herum. Unter diesem Namen hat der Verein vor etwa drei Jahren aus einem Brachgelände an der Albertstraße in der Nordstadt einen mehr als nur ansehnlichen Gemeinschaftsgarten gezaubert  und sukzessive ausgestaltet: Wo zuvor Ödnis herrschte, blüht nun neben dem Gemüse und Allerlei für’s Auge – analog zur Quartiersstruktur – ein buntes Sozialleben.

Nur, dort in dem Garten gibt es wenig bis kein Dach über’m Kopf. Formen der Gemeinschaft in einem Entwicklungsprozess zu leben – dafür braucht es einen abgrenzbaren Bereich, zu dem eine Lokalität gehört: dort, wo Du Dich anders als unter freiem Himmel einfinden kannst.

Genauso wie diesen Freiraum definierende Regeln unabdingbar sind: darüber, was geht, und vor allem, was nicht geht – für eine freie Begegnung (idealtypisch) autonomer Individuen. Und es muss natürlich Inhalte geben, d. h. Klarheit über das Interesse für Themen bestehen, derentwegen Menschen hier zusammenkommen.

Regelmäßige Planungstreffen in der Nordstadt für ein „offenes Zentrum“ sind für alle – eben offen

Den institutionellen Rahmen des Entwurfs für ein alternatives Leben und kulturelles Schaffen wird das angestrebte neue nicht-kommerzielle Begegnungs-, Kultur- und Kooperationszentrum bilden, das irgendwo im näheren Innenstadtbereich liegen soll. Augenblicklich suchen die OrganisatorInnen aus dem Kulturverein angestrengt nach geeigneten wie finanzierbaren Räumlichkeiten, die sie dafür anmieten könnten.

Initiativ in der Sache sind die jungen Leute erstmalig im Herbst letzten Jahres geworden; zwischen 70 und 100 TeilnehmerInnen waren bei der ersten Veranstaltung dabei. Danach, seit Ende Oktober, finden im Rhythmus von etwa vierzehn Tagen jeweils mittwochs Planungstreffen in der Nordstadt statt (Bunte Schule, Mallinckrodtstr. 62-64; nächster Termin: heute, 15. Mai, 19 Uhr; jede/r ist herzlich willkommen).

Zwischen sechs und 24 Leute sind es, die dann regelmäßig dabei sind. Unter dem Arbeitstitel „Offenes Zentrum“ werden hier Ideen gesammelt, Visionen getauscht und es wird selbstverständlich gemeinsam daran getüftelt, wie sich was in die Dortmunder Stadtwirklichkeit hinein übersetzen ließe. – Utopia im naiven Sinne, als eine Art Wolkenkuckucksheim, ist das nicht.

„Übermorgenland“ – eine Einladung zum freien Denken mikrosozialer Vergesellschaftungsformen

"Utopia": Titelholzschnitt der Erstausgabe von 1516. Die deutsche Übersetzung erfolgte 1524. Bild: Wikipedia
„Utopia“ von Thomas Morus, dem Schöpfer des Begriffs: Titelholzschnitt der EA von 1516; dt. Übersetzung von 1524. Quelle: Wiki

Was bei den vielen Diskussionen genau herauskommen wird, welche Formen das anvisierte Zentrum annimmt, einschließlich seiner programmatischen Ausgestaltung, ist freilich nicht ausgemacht – kann es nicht sein. Denn Inhalte und Ausrichtung der Einrichtung – so das grundlegende Konzept – sollen an die Bedürfnisse und Wünsche jener adaptiert werden, die sich dort einbringen möchten, Stichwort: Selbstverwaltung.

Ein ergebnisoffener Kreativ-Prozess, dessen Ausgang folglich von den Teilnehmenden selbst abhängt. Seit März dieses Jahres hat das ambitionierte Vorhaben formal und wenig zufällig unter der ersten offiziellen Projektbezeichnung „Übermorgenland“ begonnen: Utopia, da, wo so viele hin wollen, aber noch niemand war, weil es erst geschaffen werden muss. Die Philosophie der Hoffnung nennt es zuweilen „Heimat“.

Der Ort liegt im Nebel der Zukunft, als Traum, im Visionsformat; kann als konkretisiertes Gegenbild gelebt, dadurch kenntlicher erscheinen. Indem, statt eines universalistischen Weltentwurfs, Utopie als Antizipation des Noch-Nicht lokal runtergebrochen und in partizipativen Prozessen und Interaktionsformen greifbar wird. – Nach dem vorläufigen Ende der großen Narrative und ihrer dogmatischen Erstarrungen darf’s verständlicherweise gern eine Nummer kleiner sein.

Selbstbestimmtes Leben in Nischen jenseits gesellschaftlicher Mechanismen?

Bis zum Herbst sollen konkrete Resultate der laufenden Beratungstreffen in der Nordstadt vorliegen. Im Kern mag das Projekt vordergründig als realitätsfernes Verlangen nach zivilisationskritischen Nischen für ein selbstbestimmtes Leben erscheinen. Denn dieses Suchen steht seiner eigenen Perspektive nach einem erdrückenden Überangebot an gesellschaftlich fremdbestimmten Lebensentwürfen gegenüber.

Die konsequente Forderung nach Räumen für Selbstbestimmung muss sich, gleich der gefälligen Bewerbung nach Uni-Abschluss mit erstmalig kurz geschnittenen Haaren, im Medium von Zwängen artikulieren: ob die nun aus Machtlogik, Verwertungsregeln des Kapitals, technokratischen Imperativen oder habitualisierter Intoleranz von Entscheidungsträgern stammen.

Entgegen dem Neu-Krawattenträger fehlt ihr aber Adaptionstoleranz, soll die eigene Authentizität nicht zur Disposition stehen. Aus diesem Grund mögen die Chancen eines bedeutenden Inselprojekts auf lange Sicht überschaubar sein, weil eine Mehrheitsgesellschaft vorgelebte Antipoden ihrer eigenen Paradigmen tolerieren müsste.

Da war doch was …?! – Parallelen und Unterschiede zu Ereignissen in wilden Dortmunder Zeiten

Doch vielleicht kann sie es sich mittlerweile leisten. Das war zumindest nicht immer so; es gibt historische Parallelen, die anders verliefen. Die Konzeption des Kulturvereins könnte LokalhistorikerInnen etwa an den „Heidehof“ erinnern – sowie an ähnliche Begebenheiten in der Stadt in den 70er und Anfang der 80er Jahre. Über ungefähr sechs Monate motivierte damals junge Menschen, die dort wohnten, ähnliches wie die AkteurInnen heute: selbstbestimmt leben zu können, das war Programm, so lautete eine Kernforderung.

Besetzter Heidehof in Dortmund-Lücklemberg 1982

Es gab allerdings um den Heidehof unterschiedliche Handlungsvoraussetzungen: das leerstehende, ehemalige Seminarzentrum der IG Metall an der Kirchhörderstraße in Dortmund-Lücklemberg war von ihnen im Frühjahr 1982 kurzerhand besetzt worden. Die Akteure standen also von Anfang an im Abseits der Illegalität.

Derartige Angriffe auf fremdes Eigentum sind heute nicht mehr zu erwarten. In der damaligen Subkultur aufbegehrender Jugend fernab des politischen Mainstreams lagen die Handlungsgrenzen allerdings insofern hinter dem Horizont der Staatsraison, als es weniger um ein richtiges Leben im falschen ging, sondern stärker um die Transformation des Ganzen, dessen Gesetze nur einen Ausschnitt darstellten.

Utopischer Überschuss: Hierarchiefreiheit, Basisdemokratie, Solidarität

Was der Kulturverein Dortmund-Nord jetzt realisieren möchte, gehört in einem weitaus stärkeren Maße zum legitimierten Bestand der bundesrepublikanischen Gesellschaft, als dies vor einigen Jahrzehnten noch der Fall war. Dem Konzept des geplanten Zentrums entsprechend, sind es zumeist Grundsätze, an denen das postmodern aufgeklärte Bewusstsein nicht vorbeischauen kann, und die hierzulande zumindest solange mehrheitsfähig bleiben werden, wie der Rechtspopulismus nicht die Oberhand gewinnt.

Näherhin soll das geplante Kulturzentrum für ein Engagement gegen jedwede Form von Diskriminierung und Dogmatismus stehen, damit für Offenheit, Toleranz und Vielfalt. Für Einheit in der Differenz durch ein friedliches, solidarisches Miteinander unterschiedlicher Menschen: gleich welcher Herkunft, Sprache, Religion, Fertigkeiten oder finanzieller Möglichkeiten; gleich welchen Geschlechts oder Alters.

Doch es wäre kein Entwurf in der überschreitenden Funktion utopischen Denkens und Handelns, gäbe es kein die gesellschaftliche Wirklichkeit herausforderndes Surplus. Ein Überschuss, der als regulative Idee und Strukturelement im zukünftigen Zentrum sichtbar bleiben soll: wenn es zum Beispiel um Hierarchiefreiheit (durch Rotation von Funktionen) oder Basisdemokratie durch Priorisierung des Plenums für Entscheidungsbefugnisse, aber auch um ein einfaches solidarisches Miteinander geht.

Weitere Informationen:

  • Homepage: „offenes Zentrum“ in Dortmund, hier:
  • Projekt „Übermorgenland“ bei FB; hier:
  • Träger: Sozialer Kulturverein Dortmund-Nord e.V.; Spenden sind jederzeit herzlich willkommen – IBAN: DE88 4306 0967 4120 9839 00

 

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