Den „Edelweißpiraten“ zum Gedenken: würdiger Abend bei der AWO zum Widerstand „junger Wilder“ gegen die Nazi-Diktatur

Um die Edelweißpiraten ging es bei der AWO
Um Bedeutung und Würdigung der „Edelweißpiraten“ und ihres Widerstandes ging es bei der AWO. Fotos (9): Thomas Engel

Mit der Kampagne „Zukunft mit Herz gestalten“ will sich die Arbeiterwohlfahrt (AWO) Dortmund stärker für zivilgesellschaftliches Engagement gegen ausgrenzende und diskriminierende Haltungen in Politik und im öffentlichen Leben einsetzen. Gleichwohl oft wenig politisch motiviert, zeigt der couragierte Widerstand der „Edelweißpiraten“ durch zivilen Ungehorsam während der NS-Diktatur, wie wichtig es ist, „gegen den Strom“ zu schwimmen, gelten dort freiheitliche Prinzipien, Toleranz und Gerechtigkeit nichts mehr oder sind sie in Gefahr. Daher ist eine vollständige Rehabilitation der „jungen Wilden“ von Rhein und Ruhr überfällig, die jahrzehntelang nur als „Kleinkriminelle“ diffamiert wurden.

Ziviler Ungehorsam als Verweigerungshaltung junger Menschen gegenüber den Nazis

Während der Nazidiktatur wurden sie von den Gestapo-Schergen als „Edelweißpiraten“ bezeichnet. Die als Verhöhnung gedachte Namensgebung übernahmen die Betroffenen später für sich selbst – Jugendliche an Rhein und Ruhr, die sich nicht dem vom totalitären Regime verordneten Denken und Verhalten in Stechschrittanordnung unterordnen konnten oder wollten. Anders als ihre AltersgenossInnen in der Hitlerjugend, zogen sie „ihr Ding“ durch.

Was die Edelweißpiraten ab Mitte der dreißiger Jahre dabei mindestens betreiben, ist unorganisiert-ziviler Ungehorsam. Da gab es haufenweise Gründe, am Arbeitsplatz zu fehlen, es werden Häuserwände verschönert, an eine Eingliederung in die notorische HJ war sowieso nicht zu denken.

Nicht umsonst verzeichnete NRW, während die Edelweißpiraten aktiv waren, beispielsweise eine hohe Anzahl von jährlichen Anträgen auf Einweisung in Erziehungsheime. Eine noch vergleichsweise milde Variante von Nazi-Reaktion auf die Opposition der eigenwilligen jungen Menschen.

Querköpfe ohne politisches Programm gegen nationalsozialistische Gleichschaltung

Wandgraffiti an der Hinrichtungsstätte von Edelweißpiraten in Köln-Ehrenfeld. Quelle: Wiki
Wandgraffiti an der Hinrichtungsstätte von Edelweißpiraten in Köln-Ehrenfeld. Quelle: Wiki

In den Zeiten politischer Pest, wenn das Politische zur Repression verdunstet, funktioniert allein Unbeugsamkeit gegenüber faschistischen Totalitätsansprüchen, Manipulation und Terror, das Beharren auf Selbstbestimmung gegen die Niedertracht völkischen Denkens als Widerstand. Dafür brauchte es kein politisches Programm.

Die meisten dieser jungen Leute zwischen etwa 14 und 20 Jahren waren – wie ihre Spiegelbilder aus der vorwiegend bürgerlichen Swing-Jugend – eher wenig politisch, zumindest nicht explizit. Die Edelweißpiraten waren Querköpfe, freiheitsliebend, zumeist naturverbunden, draufgängerisch, Freidenker, stur, eigen bis eigensinnig: jedenfalls anders als die marschierende Nazijugend in Uniform, wo niemand mehr jung sein durfte, weil sie für ihre bevorstehende Rolle als Kanonenfutter abgerichtet werden sollte.

Sich an diese Edelweißpiraten zu erinnern, an eine unangepasste Jugend, die nicht mit dem Strom habe schwimmen wollen, sei von aktueller Bedeutung. Gerda Kieninger, Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt Unterbezirk Dortmund, leitet die Info- und Kulturveranstaltung zu den Edelweißpiraten mit einem deutlichen Hinweis auf den erstarkenden Rechtspopulismus ein.

Rechtspopulistischer Demagogie Einhalt gebieten: die Edelweißpiraten heute – Mahnung gegen das Vergessen

Erinnerungen an die Edelweißpiraten: AWO-Haus in der Schleswiger Straße. Foto: Alexander Völkel

Dessen Demagogen ist es darum bestellt, dass BürgerInnen, statt zu denken, sich an Unsittlichkeiten gewöhnen, wie kürzlich aus den Reihen der AfD zu hören: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte“, hieß es dort unverhohlen. Also, mal so eben an die mindestens 65 Millionen Tote aus dem 2. Weltkrieg ins Klo kippen – was soll’s, egal, Hauptsache, die Staufer waren geil.

Das Beunruhigende: es gibt offenbar einen Bestand von Menschen in der Republik, denen solch ein Geschichtsrevisionismus schlichtweg gleichgültig ist – dann nämlich, wenn sie zur nächsten Wahl für die AdvokatInnen des Vergessens stimmen werden. – Manchmal ist da gar der vordergründige Eindruck, für demokratische Kulturen sei ihre Götterdämmerung bereits ausgemacht.

Denn die Edelweißpiraten, denen an diesem Abend in der AWO-Reihe „Zukunft mit Herz gestalten“ gedacht werden soll, waren damals eine kleine, isolierte Minderheit junger Leute, die sich gegen die faschistische Gleichschaltung wehrte, weil sie ihre Identität bedroht sah und bewahren wollte. Nach den gegenwärtigen politischen Mehrheits- und Machtverhältnissen weiß sich dagegen bislang mit der Mehrheit, wer hier im Eugen-Krautscheid-Haus am Westpark deren Unangepasstheit gegenüber den Nazis würdigt.

Rehabilitierung der Edelweißpiraten scheitert nach dem Krieg zunächst an den Gerichten

Gerda Kieninger, Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt Unterbezirk Dortmund
Gerda Kieninger, Vorsitzende der AWO UB Dortmund

Es kann infolgedessen nur gemeint sein: wehret den Anfängen eines deutschtümelnden Massenwahns, der unter Ausgrenzung all jener zur Gleichförmigkeit zwingt, die wegen ihrer Herkunft, Lebensorientierungen oder Überzeugungen nicht gefügig einer reaktionären „Umwertung aller Werte“ folgen können. So wie einst die Edelweißpiraten.

Die Handlungsprämissen, gleichsam die „Zielwerte“, unter denen sich die AWO gesellschaftlich engagiert, das sind: Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität. Um deren Deutung ginge es, sagt Gerda Kieninger mit der Autorität von 22 Jahren Landtag NRW als SPD-Abgeordnete im Rücken: die dürfe eben nicht den Rechtspopulisten überlassen werden.

Sie erinnert an jene Edelweißpiraten, die 1984 in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt wurden. Das waren Jean Jülich, Wolfgang Schwarz sowie posthum Barthel Schink, allesamt aus der Kölner Edelweiß-Gruppe.

Sowie daran, dass über Jahrzehnte nach dem Kriegsende alle Versuche in der Bundesrepublik, die Edelweißpiraten als politisch Verfolgte mit Ansprüchen auf Wiedergutmachung zu rehabilitieren, scheiterten. – Und bis heute liegt in dieser Hinsicht einiges im Argen, wie sich im weiteren Verlauf des Abends herausstellen sollte.

Edelweißpiraten werden nicht als Teil des Widerstands anerkannt, sondern als Kleinkriminelle diffamiert

Andreas Müller, Geschichtswerkstatt Dortmund: seit 30 Jahren auf den Spuren der Edelweißpiraten

Die Argumentationen der jeweils angerufenen Gerichte, ergänzt Andreas Müller von der Dortmunder Geschichtswerkstatt, liefen damals in die Richtung, dass es sich bei den Edelweißpiraten nicht um einen Teil des Widerstandes gehandelt habe, sondern um Kleinkriminelle. Die bittere Ironie: als Zeugen wurden bei solchen Prozessen in der frühen Bundesrepublik häufig jene ehemaligen Gestapobeamte einbestellt, die sie einst verfolgt hatten.

Zusammen mit seinem verstorbenen Vater, Hans Müller, Professor für Geschichte, hat sich Andreas Müller unter anderem mit den Edelweißpiraten in Dortmund während der NS-Zeit eingehend beschäftigt. Ins Rollen kam die lokale Forschung ab 1980, als sein Vater einen Aufruf über Dortmunder Tageszeitungen gestartet hätte. Ziel sei es gewesen, Menschen auswendig zu machen, die als Zeitzeugen mit den Edelweißpiraten in der Stadt verbunden gewesen wären.

Zudem erhielt der Gründer der Geschichtswerkstatt nach langem Hin und Her endlich Einsicht in die alten Prozessakten zu den Edelweißpiraten, die in Dortmund als Gruppe zweimal – 30 von ihnen 1943, 1944 sogar 63 – vor Gericht standen. Mit den so ausfindig gemachten ehemaligen Edelweißpiraten oder Angehörigen entstanden Interviews, die später verschriftlicht wurden.

Verpönte Hitlerjugend wird 1936 zur einzigen offiziellen Jugendvereinigung im Dritten Reich

Die Schleswiger Straße 40 erinnert an die Dortmunder Edelweiß-Piraten.
Fassade der Schleswiger Straße 40 mit den Edelweißpiraten

In den Folgejahren veränderte sich durch solche Forschungsanstrengungen in Dortmund und anderen Städten nach und nach die Vorstellung, die bis dato von den im Rhein-Ruhr-Raum während des Nationalsozialismus aktiven Edelweißpiraten vorherrschte: die von jugendlichen Kleinkriminellen auf Abwegen – mit der Nazi-Justiz genauso in Konflikt geratend, wie dies unter anderen politischen Systemvoraussetzungen ebenso der Fall gewesen wäre.

Jetzt konnte langsam ein differenzierteres Bild von den, wenn man so will: „jungen Wilden“ gezeichnet werden, die sich über Jahre mit den Nazis anlegten. Schon 1934 gab es Jugendliche, berichtet Andreas Müller, die nicht zur HJ gingen, eins der vielen Bundschuh-Abzeichen trugen; unter anderem das Edelweiß, pikanterweise Hitlers Lieblingsblume. Informelle Gruppen, die sich in Dortmund gegenüber den paramilitärischen HJ-Horden als „Latscher“ bezeichnen, treffen sich regelmäßig überall in der Stadt verteilt.

Die Hitlerjugend war bei ihnen verpönt; doch da gab es seit 1936 ein entsprechendes Gesetz, das die Naziorganisation quasi zur einzigen offiziellen Jugendvereinigung im Reich machte. Denn dort heißt es im ersten Paragraphen lapidar: „Die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes ist in der Hitlerjugend zusammengefaßt.“

Einzelne Gruppen sind im Inneren ohne Hierarchien und untereinander ohne Kontakt

„Ein Einschnitt“ sei das gewesen, wie Andreas Müller sagt. Es liegt auf der Hand: mit der Zwangsorganisation in der HJ stehen alle, die dort ihr Mitwirken verweigern, stets mit anderthalb Beinen in der Illegalität; und erst recht, wenn sie sich – gegen die staatlich verordnete Mitgliedschaft in der militaristischen Einheitsjugend – autonom zusammenschließen.

In Dortmund waren es alles Kinder aus Arbeiterfamilien, die bei den Edelweißpiraten mitmachten; mit der sog. „Swing-Jugend“ aus den südlichen Vororten hätten sie nichts zu tun gehabt. Auch Mädchen waren damals dabei: es sei allerdings seinerzeit nicht gelungen, entsprechende Zeitzeuginnen ausfindig zu machen.

Die Gruppen hatten keinen Kontakt zueinander; in ihrem Inneren gab es keine Hierarchien, eher einen harten Kern, dazu eine gewisse Fluktuation, sofern immer wieder junge Leute zum Militärdienst eingezogen wurden. Andere hätten sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet, sagt Andreas Müller, weil dies der einzige Weg gewesen sei, dem Zugriff der Gestapo zu entkommen, von der sie zunehmend verfolgt wurden.

Brügmannplatz in der Nordstadt ist bekanntester Treffpunkt der Edelweißpiraten in Dortmund

Dieter Grützner: sein Vater Rudi war bekannter Edelweißpirat, später in Dortmund nach dem Krieg politisch aktiv
Dieter Grützner: sein Vater Rudi war Edelweißpirat und nach dem Krieg in Dortmund politisch in der SPD aktiv

Die stellvertretenden Auseinandersetzungen mit der HJ rissen sowieso nie ab; es kam nicht selten zu Handgreiflichkeiten, wenn die Nazijugend versuchte, den Edelweißpiraten Wege zu ihren Treffpunkten zu verstellen oder sie dort überfiel. – Zueinander fanden die aufmüpfigen Jugendlichen so zwanglos, wie sie Gruppen bildeten: über Freunde, Bekannte, Nachbarschaften.

Prominentester Treffpunkt in Dortmund war der Brügmannplatz in der Nordstadt, mit einer informellen Gruppe von um die 60 Jugendlichen. Aber auch im Westpark, in Hombruch, in Hörde und anderswo gab es Versammlungsorte. Zahlreiche sind heute bekannt, vermutlich waren es aber damals noch weitaus mehr.

Einer von jenen, die ihren inoffiziellen Treffpunkt auf dem Brügmannplatz hatten, war Rudi Grützner. Sein Verhältnis zu den Lehrern muss nicht besonders herzlich gewesen sein, ist den Worten seines Sohnes zu entnehmen. Daher sei das Schulentlassungszeugnis seines Vaters schlecht gewesen, erzählt Dieter Grützner; die Folge: keine Lehrstelle, Hilfsarbeitertätigkeit bei der Firma BBC in Dortmund.

Nach berühmter „Schlacht im Corso“ steigt Druck der Gestapo auf die wenig angepassten Jugendlichen

Erinnerungen an die Edelweißpiraten.
Späte Würdigung der Edelweißpiraten am AWO-Haus. Foto: Alexander Völkel

Im Sommer 1942 seien die Repressalien schlimmer geworden, hatte sich der ehemalige Edelweißpirat Kurt Piehl in seinen Memoiren erinnert. Dieter Grützner kann dies aus den späteren Erzählungen seines Vaters bestätigen: schon zuvor seien die „Latscher“ immer wieder von den Nazis kontrolliert und auf die Steinwache geschleppt worden. Dort hätten sie so manches Mal ein ganzes Wochenende verbringen müssen.

Endgültig ins Visier der Gestapo geraten die Edelweißpiraten durch die legendäre „Schlacht im Corso“, einem ihrer Treffpunkte am Westenhellweg; viele werden kurz darauf bei einer Razzia in der Nähe des Hauptbahnhofs festgenommen und im Polizeigewahrsam misshandelt. Sein Vater habe später eine Gestellungsaufforderung (Musterungsbescheid) erhalten, landete danach, wie nicht anders zu erwarten, bei der Wehrmacht, hatte Glück.

Nach kurzer Kriegsgefangenschaft in den USA kehrt Rudi Grützner bereits im September 1945 zurück nach Deutschland, tritt in Dortmund schnell in die SPD ein, der er zeitlebens treu bleiben sollte; ist Gewerkschafter, Mitglied unter anderem bei den Falken, in der AWO, der Humanistischen Union.

In einem Zeltlager der Falken lernt er schließlich den Geschichtsprofessor Hans Müller kennen. So entstand eine der Verbindungen, mit deren Hilfe 35 Jahre nach Kriegsende die lokale Forschung zu den Edelweißpiraten während der Nazi-Zeit in Gang kommen konnte – eine wichtige Voraussetzung für ihre Rehabilitation als Teil des Widerstandes gegen die NS-Diktatur.

Inge Nieswandt berichtet über ihren Bruder Walter – einem „Rädelsführer“ der Edelweißpiraten

Inge Nieswandt erinnerte an ihren Bruder Walter Gebhardt - ebenfalls Mitglied der Gruppe.
Inge Nieswandt erinnert sich an ihren Bruder Walter Gebhardt. Foto: Alexander Völkel

Erinnert wird an die mutigen jungen Männer und Frauen heute in der Alten Steinwache am Nordausgang des Dortmunder Hauptbahnhofs mit einem eingerichteten Zimmer in der dritten Etage. Ihr Bruder Walter sei bei der Eröffnung der Ausstellung als einer der Rädelsführer bezeichnet worden, berichtet Inge Nieswandt.

Wenn die ältere Dame von ihrem Bruder Walter Gebhardt spricht, leuchten ihre Augen. Der junge Mann aus erster Ehe muss sich um sein kleines Schwesterchen rührend gekümmert haben. Ihr Vater sei bei ihrer Geburt nämlich bereits 55 Jahre alt gewesen, erzählt sie; mit ihr gespielt hätte daher der Edelweißpirat, ihr Bruder, Jahrgang 1926.

Als sie damals von Hans Müller die Prozessakten der Gestapo über ihren Bruder erhielt, wonach dieser als 17-Jähriger zu fünf Monaten Gefängnis wegen gemeinschaftlichen Einbruchs in eine Apotheke verurteilt wurde, habe der ihr gesagt, dies sei nicht ihr Bruder – und meinte freilich damit, dass die darin enthaltenen Beurteilungen der Nazi-Schergen als Teil von deren Aufzeichnungen und Aussagen dringend vernachlässigbar sind.

Und dann sei da noch die Rechnung des Anwalts gewesen, immens hoch, wegen des Verfahrensumfangs, wie der Jurist der Familie damals mitteilte – und signiert mit „Heil Hitler!“

Tragik: Walter Gebhardt stirbt kurz nach dem Krieg an den Folgen eines Arbeitsunfalls

Inge Nieswandt erinnert an ihren Bruder Walter
Inge Nieswandt: Rehabilitation der Dortmunder Edelweißpiraten auch von offizieller Seite

Der Bruder ist später bei der Marine, kehrt nach Dortmund mit einem hinkenden Bein wegen eines Knieschusses zurück. Die heute 78-Jährige berichtet vom permanenten Streit, den er mit der Mutter gehabt hätte; heute könne sie das verstehen.

Einmal, der Krieg war noch nicht lange vorüber, spielt das kleine Mädchen in Gegenwart einer Nachbarin mit einem Schirm. Die sagt ihr, sie solle das nicht tun, sonst stürbe jemand. In diesem Augenblick sei ihr 19-jähriger Bruder nach einem Arbeitsunfall gestorben – Selbstvorwürfe, ein Leben lang, folgen.

Sie habe ihren Bruder in der Leichenhalle aufgebahrt gesehen, liebevoll dekoriert von anderen Edelweißpiraten. Worum es ihr immer noch geht: um eine Rehabilitation der Dortmunder Edelweißpiraten als WiderstandskämpferInnen von offizieller Stelle.

Späte, aber offizielle Rehabilitation der Edelweißpiraten vom Rhein als Teil des Widerstands

Gedenktafel für die ermordeten Edelweißpiraten in Köln-Ehrenfeld
Gedenktafel für die ermordeten Edelweißpiraten in Köln-Ehrenfeld. Quelle: Wiki

Eine besondere Stellung nehmen zweifelsohne die Kölner Edelweißpiraten ein: dort ist der Widerstand gegen Nazis militanter als anderswo – mit bitteren Konsequenzen für einige von ihnen. Im November 1944 werden 13 junge Männer öffentlich, ohne vorgängiges Gerichtsverfahren erhängt. Einer von ihnen ist der 16-jährige Dachdeckerlehrling Bartholomäus Schink, der zeitweise Mitglied der „Edelweißpiraten“ war.

Seit 2003 steht in Köln-Ehrenfeld – nach langem Widerstand der CDU – eine Gedenktafel, unter anderem in Erinnerung an die in dem Stadtteil ermordeten Edelweißpiraten – ganz in der Nähe, wo damals die Hinrichtung stattfand: in der heutigen Bartholomäus-Schink-Straße.

2008 wurden mit Gertrud Koch, Jean Jülich, Wolfgang Schwarz und Fritz Theilen vier ehemalige Edelweißpiraten vom Düsseldorfer Freundeskreis Heinrich Heine mit der Heine-Büste der Stadt Düsseldorf ausgezeichnet: für kritisch-widerständiges Denken im Sinne des Dichters.

2011 erhielten fünf noch lebende Edelweißpiraten der Ehrenfelder Gruppe aus der Hand des Kölner Oberbürgermeisters Jürgen Roters das Bundesverdienstkreuz am Bande ausgehändigt. – Eine starke Geste von offizieller Seite aus, die zugleich ansagt, was in diesem Land gewollt ist, und was hier auf keinen Fall einen Platz hat.

Musikalische Begleitung des Abends durch Claudia Rudek und Guntmar Feuerstein

Claudia Rudek aus Dortmund und Guntmar Feuerstein aus Bochum
Claudia Rudek und Guntmar Feuerstein

Zwischenzeitlich sorgen die beiden MusikerInnen Claudia Rudek aus Dortmund und Guntmar Feuerstein aus Bochum mit ihrem gemeinsamen Auftritt für eine auch thematisch passende Begleitung des Abends.

Mit einer Lesung erinnern schließlich Paula Stöckmann und Hendrik Becker (vom Bochumer Theater Löwenherz) noch einmal an die Dortmunder und Kölner Edelweißpiraten.

Vorgetragen wird von ihnen das Kapitel „Der Edelweißpirat und das BDM-Mädchen“ aus dem ersten Band („Latscher, Pimpfe und Gestapo“) des autobiographischen Romans des Dortmunders Kurt Piehl: „Geschichte eines Edelweißpiraten“.

Paula Stöckmann und Hendrik Becker (Theater Löwenherz) lesen aus Autobiographien von Edelweißpiraten

Paula Stöckmann und Hendrik Becker (vom Bochumer Theater Löwenherz)
Paula Stöckmann und Hendrik Becker (Theater Löwenherz)

Die Kölner Edelweißpiraten werden durch eine Rezitation aus der Autobiographie von Gertrud Koch, „Edelweiß. Meine Jugend als Widerstandskämpferin“, vertreten. In der Bundesrepublik engagierte sich Gertrud Koch für die KPD und wurde zusammen mit anderen GefährtInnen durch erwähnte Heine-Büste geehrt.

Inge Nieswandt schreibt später, nebenbei bemerkt, zusammen mit ihren Enkelkindern über ihren Bruder; schickt das Material irgendwann unter anderem an den Bürgermeister und den Kulturdezernenten der Stadt (den sie, im Übrigen, sehr schätzte) – eine Antwort stünde bis heute aus.

„Die Toten bleiben jung“, lautet der Titel eines Buches von Anna Seghers. Darauf verweist sie, als sie über ihren Bruder abschließend sagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendwann älter geworden wäre – er ist mein Märchenprinz.“

Weitere Informationen:

  • Reihe „Zukunft mit Herz gestalten“ des UB der AWO-Dortmund, hier:
  • „Widerstand aus der Gosse“: vielzitierter Spiegel-Artikel von 2005 zu den Edelweißpiraten und ihrer Rehabilitation anlässlich des Kinostarts von „Edelweißpiraten“ aus demselben Jahr, hier:
  • Veröffentlichungen zu den Dortmunder Edelweißpiraten: Günter Rückert, Das Karbidkommando. Edelweißpiraten gegen Miesmolche, hrsg. von Heiko Koch. Mit Textbeiträgen von Hans Müller, Günter Rückert, Kurt Piehl und Andreas Müller (Neuauflage der EA von 1987). Ebenso die beiden Bde. von Kurt Piehl: Latscher, Pimpfe und Gestapo sowie: Rebellen mit dem Edelweiß, beide Frankfurt 1988 (=Geschichte eines Edelweißpiraten, Bd. 1/2)
  • Zu den Kölner Edelweißpiraten: Gertrud Koch, Edelweiß. Meine Jugend als Widerstandskämpferin, Reinbek b. Hamburg 2006 (Autobiographie – aufgeschrieben von Regina Carstensen).

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