Widerstand gegen die Stationierung britischer Atomraketen in Brackel

SERIE – Vor 65 Jahren: Lautstarker Protest – „Dortmund will keine Atomraketen“ (Teil 3)

Auch bundesweite Prominenz kommt nach Dortmund: Mahnwache mit Kirchenpräsident Martin und Oberkirchenrat Heinz Kloppenburg. Foto: Sammlung Horst Delkus

In Dortmund-Brackel, dort, wo heute das Trainingsgelände des BVB, die Wohnsiedlung Hohenbuschei, ein Golfclub, ein Gewerbegebiet und ein Naturschutzgebiet liegt, gab es früher eine No-go-area: die sogenannten Napier Barracks, ein Militärgelände der Britischen Rheinarmee, das zuvor der Dortmunder Flughafen war.  1959 wurde es zur Atomraketenbasis der NATO. Gegen den breiten Widerstand der Bevölkerung und des Rates der Stadt Dortmund im Januar und Februar 1959. Das ist nun 65 Jahre her. Die Nordstadtblogger erinnern daran in einer dreiteiligen Serie.

Von Horst Delkus

Trotz des Rückzugs der Stadt Dortmund ging der Widerstand gegen die Raketenstationierung weiter. Er wurde vor allem von den Organisationen der Kriegsdienstverweigerer, insbesondere dem Landesverband Nordrhein-Westfalen der „Internationale der Kriegsdienstgegner“ (IdK) und von Einzelpersonen fortgesetzt. Ein letzter Höhepunkt waren die Aktionen am 13. und 14. März anlässlich einer bundesweiten Tagung der ,,Arbeitsgemeinschaft Deutsche Friedensverbände“ in Dortmund.

Kirchenpräsident Martin Niemöller unterstützt weiteren Widerstand

Martin Niemöller protestiert in Brackel gegen die Stationierung von Atomraketen. Foto: Sammlung Horst Delkus

Während dieser Tagung hatte die IdK eine dreitägige Atommahnwache und einen Protestmarsch durch Dortmund-Brackel vorbereitet. Die Mahnwache gegen die Raketenstationierung – sie fand nicht weit vom Flugplatz entfernt statt – eröffneten der hessische Kirchenpräsident Martin Niemöller und der Dortmunder Oberkirchenrat Heinz Kloppenburg. Binnen kurzer Zeit konnten Hunderte von Unterschriften gegen die Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden gesammelt werden.

Am Abend des gleichen Tages gab es im großen Saal der Dortmunder Handwerkskammer eine öffentliche Kundgebung mit Martin Niemöller und Heinz Kloppenburg zum Thema ,,Der Friede als politische Aufgabe“.

Der Andrang war so stark, dass der Saal bereits vor Beginn der Veranstaltung geschlossen werden musste. Dass dieser Veranstaltung der ,,Arbeitsgemeinschaft Deutscher Friedensverbände“ auch überregional große Bedeutung beigemessen wurde, zeigten die Grußtelegramme, die unter anderem von der bekannten SPD-Bundestagsabgeordneten Helene Wessel und dem japanischen Rat gegen Atom- und Wasserstoffbomben gesandt wurden.

Erster Sitzstreik: Bis zu 1000 Menschen trafen sich auf dem Brackeler Marktplatz

Am nächsten Tag versammelten sich Atomwaffengegner aus Dortmund und dem Ruhrgebiet – die Zahlen schwanken zwischen 400 und 1 000 –  auf dem Brackeler Marktplatz und marschierten in einem langen Zug, mit Transparenten wie ,,Dortmund will keine Atomraketen“, ,,Für eine atomwaffenfreie Zone“ und ,,Raketen sind Magneten“, durch diesen Dortmunder Stadtteil. Die Dortmunder WAZ berichtete: „An der Spitze des von einem starken Polizeiaufgebot begleiteten Zuges trugen vier Männer auf einem Holzgestell eine überlebensgroße Puppe in Generalsuniform mit einem leuchtend weißen Totenkopf. Unter dem Arm hielt die Gestalt eine Atomrakete.

Sprechchöre forderten immer wieder: ,,Raus mit den Raketenwaffen, wir wollen für den Frieden schaffen!“ und ,,Höre uns Minister Strauß, aus Deutschland die Raketen raus!“ Während der Kundgebung und des Protestmarsches kam es nicht zu Zwischenfällen. Nachdem sich der Zug aufgelöst hatte (Anm.D.Red.: Die Polizei hatte es nicht zugelassen, dass er bis zum Flughafen marschiert), marschierten etwa 50 Demonstranten zum Flugplatz. Dort kam es dann zu dem ,,privaten“ Sitzstreik.

Demonstration in Brackel mit Transparenten wie „Dortmund will keine Atomraketen“, „Für eine atomwaffenfreie Zone“ und „Raketen sind Magneten“. Foto: Sammlung Horst Delkus

Der englische Labour Abgeordnete Stuart Morris, der an der Tagung der,,Arbeitsgemeinschaft“ im Reinoldi-Saal teilgenommen hatte, versuchte über einen Lautsprecherwagen eine Ansprache zu halten. Die Dortmunder Polizisten hinderten ihn jedoch daran, worauf sich Morris stumm zu den Streikenden setzte. Als einer der Demonstranten gegen die Maßnahme der Polizei protestierte, wurde er vorläufig festgenommen. Spontan drohten daraufhin die übrigen Demonstranten, so lange vor der Kaserne sitzen zu bleiben, bis der Festgenommene freigelassen sei. Das erfolgte nach etwa einer Stunde.“

Dann wurde der Sitzstreik abgebrochen. Es war der erste, der überhaupt in der Bundesrepublik stattgefunden hatte. Über diese Protestaktion gegen die Raketenstationierung vor dem Tor der britischen Kaserne berichteten nicht nur zahlreiche deutsche, sondern auch viele ausländische Zeitungen. An der Demonstration und teilweise auch an dem Sitzstreik hatten sich neben Mitgliedern der in der „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Friedensverbände“ zusammengeschlossenen Organisationen ebenfalls viele Dortmunder Sozialdemokraten beteiligt, die enttäuscht und betroffen waren, dass die Stadt Dortmund und die Dortmunder SPD in einer nach ihren eigenen Aussagen für die Dortmunder Bürger lebenswichtigen Frage die Segel eingestrichen hatte.

Die Proteste ebbten in den nächsten Wochen und Monaten ab

Das Interesse der Öffentlichkeit an weiteren Protesten ließ in den nächsten Wochen und Monaten aber spürbar nach. Man hatte sich mit der Realität der Stationierung der Atomraketen resigniert abgefunden. Und eine akute Bedrohung war nicht vorhanden. Dennoch bemühten sich Einzelpersonen und die in Dortmund durch die Antiraketenproteste entstandene Ortsgruppe der IdK (Internationale der Kriegsdienstgegner), den Widerstand gegen die Raketenstationierung fortzusetzen und die Erinnerung an die Atomraketenbasis Brackel wachzuhalten.

Australischer Student protestiert gegen Atomraketen. Foto: Sammlung Horst Delkus

So unternahm der Australier Herbert Compton, der 1958 und 1959 an den Ostermärschen in England teilgenommen hatte und zum britischen ,,Aktionskomitee gegen Atomkrieg“ gehörte, einen im Ausland vielbeachteten Protestmarsch von London nach Dortmund-Brackel. Er führte ein Schild mit sich, auf dem er in vier Sprachen ,,No more nuclear deaths! – Keine Atomtoten mehr!“ forderte.

Am 30. Mai kam Herbert Compton in Dortmund an. Er marschierte sofort zu seinem endgültigen Ziel, dem Brackeler Flughafen. Ursprünglich hatte er vorgehabt, sich vor die Einfahrt zu legen und sie so zu versperren. Als er aber sah, dass die Straße zu breit war, änderte er seinen Plan.

Vor den Augen der anwesenden Pressefotografen, Kriminalbeamten und britischen Soldaten stieg er kurzentschlossen über das Absperrseil und setzte sich, von argwöhnischen Wachen umgeben, vor dem früheren Flugfeld auf den Boden. Die überraschten Engländer lösten vorsorglich einen Großalarm aus und erstatteten Anzeige wegen Hausfriedensbruch.

Hysterie in den 1950er Jahren vor politische Aktivitäten von Kommunisten

Ein weiteres Beispiel des Protestes gegen die Raketenstationierung gaben die beiden ehemaligen Ratsvertreter der 1956 verbotenen KPD, der Architekt und Träger des goldenen Ehrenringes der Stadt Dortmund Fritz Wechsung und der frühere Vorsitzender der kommunistischen Ratsfraktion Max Heitland.

Sie beriefen sich auf ihr Mandat als ehemalige Mitglieder des Dortmunder Stadtrates und fuhren zur gerade in Genf tagenden Konferenz der Außenminister. Dort überreichten sie den Delegationen der sechs vertretenen Staaten eine Mappe Zeitungsausschnitte mit Berichten über den Widerstandskampf der Dortmunder Bevölkerung.

Als die beiden ehemaligen Ratsvertreter, aus Genf zurückgekehrt, die Dortmunder Bevölkerung über das Ergebnis ihrer Reise informieren wollten, wurde die bereits angekündigte Veranstaltung verboten. Mit der Begründung, es lägen Erkenntnisse darüber vor, dass Fritz Wechsung und Max Heitland die Reise im Auftrag der illegalen KPD gemacht hätten, und es ihre Absicht sei, die Ziele der verbotenen KPD zu verfolgen.

Das Verbot dieser Veranstaltung zeigt mit welcher heute kaum noch vorstellbaren Hysterie in den 1950er Jahren politische Aktivitäten von Kommunisten unterdrückt wurden – selbst dann, wenn es um die Bedrohung durch den Atomtod ging.

Die Dortmunder Lokalpresse, 1959 gab es noch vier Tageszeitungen in Dortmund, berichtete ausführlich über die Mahnwache, den Protestmarsch und den Sitzstreik in Brackel. Foto: Sammlung Horst Delkus

Den Widerstand führte ab1961 der Ostermarsch der Atomwaffengegner fort

Der Protest gegen die Raketenstationierung wurde auch in den folgenden Jahren fortgesetzt. Bis 1963 führte die Dortmunder Gruppe der IdK alljährlich am 27. Februar, dem Jahrestag des Eintreffens der Atomraketen in Brackel, eine Flugblattaktion durch. Den Widerstand gegen die Lagerung von Atomraketen in Dortmund führte ab l961 dann der Ostermarsch der Atomwaffengegner fort. Einer dieser Märsche, der Ostermarsch West durch das Ruhrgebiet, richtete sich direkt auf Dortmund als den, wie es im ersten Aufruf hieß, „Standort der Atomraketen des Ruhrgebietes“.

Atomwaffenfreie Zone Dortmund-Brackel. Foto: Sammlung Horst Delkus

Dortmund blieb auch in den folgenden Jahren die Endstation des Ostermarsches im Ruhrgebiet. Hier fanden an jedem Ostermontag die Abschlusskundgebungen statt, die von Jahr zu Jahr zahlreicher besucht wurden. In der Ostermarschbewegung im Ruhrgebiet hat auch der Kampf der Dortmunder gegen die Stationierung von Atomraketen in Brackel seine Fortsetzung und Weiterentwicklung erfahren.

Die Corporal-Raketen der späten fünfziger Jahre, die hier 1959 stationiert wurden, wurden irgendwann verschrottet.  Als das Magazin ,,stern“ im Februar 1981 einen Artikel unter dem Titel „Atomrampe BRD“ und eine Landkarte mit Atomwaffenbasen in der BRD veröffentlichten, erschien in der Dortmunder ,,WAZ“ ein Bericht, in dem dargestellt wurde, wie der Großraum Dortmund mit Atomraketenbasen eingekreist ist.

In Brackel wurden wahrscheinlich nicht nur Trägerraketen gebunkert

Neben dem Artikel war ein Photo der britischen Kaserne mit folgendem bemerkenswerten Untertitel: „Auch in Brackel auf dem Kasernengelände der Britischen Rheinarmee sollen Pluto-Raketen stationiert sein, die mit Atomsprengköpfen versehen werden können“. Ein Dementi von offizieller Seite erfolgte postwendend. Solche Dementis zur Beruhigung der Gemüter sind weder ungewöhnlich noch neu. Auch 1958 wurden die ersten Gerüchte und Meldungen über die Stationierung der britischen Atomraketen in Dortmund dementiert.

Antiatomraketenprotest 1963 am Dortmunder Stadthaus. Foto: Sammlung Horst Delkus

In Brackel wurden wahrscheinlich nicht nur Trägerraketen gebunkert. Auch Atomsprengköpfe in einem Sondermunitionslager: „Im östlichen Teil des Militärgeländes [Anm.d.Red.: Das heute ein Naturschutzgebiet ist] wurden während der Zeit des Kalten Krieges Atomwaffen für die Britische Rheinarmee bevorratet. Soweit bekannt, hatten die Briten zwischen 1960 und 1986 insgesamt drei Artillerieregimenter auf deutschem Boden mit atomarer Munition ausgestattet. Über die Art und Anzahl der im SAS Dortmund eingelagerten Gefechtsköpfe gibt es keine konkreten Angaben.“ So jedenfalls eine Dokumentation über ehemalige Atomwaffenstandorte in Deutschland.

Die atomare Bedrohung ist bis heute nicht gebannt, eine atomwaffenfreie Welt eine Utopie geblieben und heute ferner denn je. Immerhin: In Dortmund wird  jedes Jahr Anfang  August am sogenannten Hiroshima-Tag  im Rahmen einer Gedenkfeier an dieses Ziel erinnert.  Und seit 1994 gehört die Stadt Dortmund dem Bündnis „Mayors for Peace“ an, einem Städtebündnis, das die weltweite Solidarität von Städten zur Abschaffung von Atomwaffen fördert.

Seit 1994 gehört die Stadt Dortmund dem Bündnis „Mayors for Peace“ an, einem Städtebündnis, das die weltweite Solidarität von Städten zur Abschaffung von Atomwaffen fördert. Foto: Stadt Dortmund

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Reaktionen

  1. Cornelia Wimmer

    Schön, dass Sie daran erinnern: In Dortmund gab es einst Widerstand gegen atomare Bewaffnung gleich nebenan. Raketen sind Magneten!
    Hat sich daran etwas geändert? Und sind etwa nur Raketen Magneten? In Büchel lagern einsatzbereit 20 Atombomben, kürzlich modernisiert und auf neuestem technischen Niveau. – Die Flieger dazu sind bestellt. Es bezahlt Deutschland. Aber wessen Bomben sind es, wo doch Deutschland den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet hat? Richtig, es sind amerikanische. Und den Einsatzbefehl erteilt gegebenenfalls – der amerikanische Präsident. Fliegen wiederum werden deutsche Piloten. Das Ganze nennt sich atomare Teilhabe.
    Büchel ist ein Stückchen weg, nicht wirklich weit, aber auch nicht gerade nebenan. – Gleich nebenan sind dafür die Tower Barracks in Dülmen, eines der 4 großen militärischen Vorratslager der USA. Die beiden größten sind, wo wohl? – in Deutschland natürlich. Wenn dort ein Präventivschlag eingeht, haben wir in Dortmund auch nicht mehr mitzureden. Weitere Magneten sind Ramstein und Stuttgart und Wiesbaden und Jagel und Grafenwöhr und Kalkar und Uedem und Növenich undundundundund…..
    „Das Verbot dieser Veranstaltung zeigt mit welcher heute kaum noch vorstellbaren Hysterie in den 1950er Jahren politische Aktivitäten von Kommunisten unterdrückt wurden – selbst dann, wenn es um die Bedrohung durch den Atomtod ging.“, meint der Autor.
    Doch, das ist sehr wohl vorstellbar. Man muss nur hinsehen, wie heute die Friedensbewegung diffamiert wird. Obwohl es doch um den Atomtod geht, heute wie damals!
    Auch der NB hat bislang wenig Notiz von der Dortmunder Friedensbewegung genommen. Vielleicht sieht das ja in 50 Jahren anders aus und sie bekommt einen wertschätzenden Rückblick. Wenn es dann die Erde als bewohnten Ort noch gibt. Denn das ist keineswegs ausgemacht.

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