Anfeindungen prägen den Alltag vieler Jüdinnen und Juden in Deutschland

Antisemitismus: Alte Gefahr mit neuen Gesichtern

In Dortmund gibt es viel Engagement gegen Antisemitismus – und auch Hilfsangebote für Betroffene von antisemitischen Vorfällen. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

„Antisemitismus war nach dem Holocaust nie weg und wird immer wieder neu gelernt. Wie so oft in Krisenzeiten, tritt die Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden derzeit wieder unverhohlener und radikaler auf.“ Zu diesem Befund kommt Michael Kraske, Autor des Arbeitspapiers „Antisemitismus. Alte Gefahr mit neuen Gesichtern“, das die Otto Brenner Stiftung veröffentlicht hat.

Die offen ausgelebte Judenfeindschaft beeinträchtigt den Alltag von Betroffenen massiv

Spätestens seit dem rechtsterroristischen Attentat auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 und einem drastischen Anstieg antisemitischer Straftaten sei klar, dass Antisemitismus „aktuell wieder lauter, aggressiver und selbstbewusster, zugleich aber auch ignoriert, verharmlost und nicht konsequent genug bekämpft wird“, so Kraske. Der mehrfach ausgezeichnete Autor, Publizist und Journalist hat für seine Analyse nicht nur zahlreiche Studien, Quellen und Dokumente ausgewertet, sondern auch exklusive Interviews mit Expert:innen und Betroffenen geführt.

Die Ergebnisse seiner Recherchen zeigen, dass die zunehmend offen ausgelebte Judenfeindschaft den Alltag von Betroffenen massiv beeinträchtigt, während es vielen nichtjüdischen Menschen schwerfällt, das Problem überhaupt zu erkennen: „Antisemitismus kommt in allen gesellschaftlichen Bereichen vor, vom Klassen- und Lehrerzimmer, über Polizei und Justiz bis zur eigenen Nachbarschaft. Meist wird er jedoch nur als tradierter Antisemitismus erkannt, der auf die offene Markierung von Jüdinnen und Juden als ‚andersartig‘ abzielt“, resümiert Jupp Legrand, Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung.

Die Arbeit von Kraske legt dar, dass 75 Jahre nach der Staatsgründung Israels jedoch neuere Varianten, der sogenannte sekundäre Antisemitismus, der den Holocaust leugnet oder relativiert, und der israelbezogene Antisemitismus als Äußerungsform anti-jüdischer Ressentiments vorherrschen. Mit diesen „modernen“ Ausdrucksformen sei Antisemitismus gesellschaftlich weit weniger tabuisiert und werde oft sogar akzeptiert, heißt es in der Analyse.

Das „Bagatellisieren“ und „Kleinreden“ spezifischer antisemitischer Äußerungen oder Handlungen, insbesondere aufseiten der Sicherheitsbehörden, trage dazu bei, dass viele Betroffene Übergriffe überhaupt nicht melden. Dies führt dazu, das Problem quantitativ massiv zu unterschätzen. „Viel spricht für ein großes Dunkelfeld, das offizielle Fallzahlen weit übersteigt“, so Kraske.

Nach antisemitischen Vorfällen kommt es häufig zu einer sogenannten Täter-Opfer-Umkehr

Darüber hinaus kommt es in deutschen Institutionen nach antisemitischen Vorfällen häufig zu einer sogenannten Täter-Opfer-Umkehr. Als Beispiel nennt Kraske Schulen. Anstatt Täter:innen zu sanktionieren, komme es immer wieder vor, dass die von antisemitischem Mobbing Betroffenen die Schulen verlassen.

Eingeordnet wird auch der Documenta-Skandal aus 2022, den der Autor als einen „Seismographen für den Umgang mit Antisemitismus in Deutschland“ wertet. Dieser zeige auf drastische Weise, „wie groß die Unkenntnis über antisemitische Stereotype ist, wie weit aber auch der gesellschaftliche Unwille verbreitet ist, Antisemitismus konsequent zu ächten“.

„Antisemitismus ist nicht nur ein Problem für Jüdinnen und Juden und es ist auch nicht ihre Aufgabe, es zu lösen. Antisemitismus ist zuallererst ein Demokratieproblem“, gibt Jupp Legrand zu bedenken. Die Normalisierung antisemitischer Botschaften und Symbole bei den Protesten gegen die Corona-Politik müsse entsprechend bewertet werden. Angesichts der Defizite bei Erfassung, Verfolgung und Prävention antisemitischer Taten plädiert Michael Kraske für umfassende Maßnahmen.

„Zurzeit wird die wichtige Erinnerungskultur hierzulande allzu oft als einzige Form der Auseinandersetzung mit dem Thema missverstanden“, führt der Autor aus: „Das birgt die Gefahr, Antisemitismus als historisches Phänomen abzutun und aktuelle Gefahren auszublenden.“ Auch die punktuelle Behandlung von Antisemitismus in der Öffentlichkeit und in Bildungseinrichtungen bleibe viel zu oft wirkungslos.

Demgegenüber muss dem Thema in all seinen Formen in den Bildungsplänen von Schulen und Weiterbildungsstätten ein fester Platz eingeräumt werden. Ein langwieriges Unterfangen, das endlich der strukturellen Reformen bedarf, die Expert:innen bereits seit vielen Jahren einfordern. Kraskes Fazit: „Wir stehen immer noch – oder wieder erst – ganz am Anfang.“


Mehr Informationen:

  • Otto Brenner Stiftung:
  • Michael Kraske: „Antisemitismus – Alte Gefahr mit neuen Gesichtern“
  • OBS-Arbeitspapier 58; Frankfurt/Main, Mai 2023
  • Das Papier online lesen, downloaden oder bestellen:
  • otto-brenner-stiftung.de/antisemitismus

Unterstütze uns auf Steady

Mehr zum Thema bei nordstadtblogger.de:

Ratsbeschluss: Antisemitismus wird Schwerpunkt im Aktionsplan gegen Rechtsextremismus

Oberbürgermeister gegen Antisemitismus

Polizeipräsident Lange zu Rechtsextremismus: „Wachsamkeit bleibt weiterhin das oberste Gebot“

ADIRA und Planerladen beleuchten die Kontinuitäten rechten Terrors in Deutschland

Print Friendly, PDF & Email

Reaktion schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert