Viele offene Fragen und drängende Probleme: „Was müssen wir verändern? Europa und die Flüchtlinge“

Die Glückaufsegenstraße ist geschlossen - die gestrandeten Flüchtlinge werden abgewiesen.
Die Erstaufnahme war mehrfach wegen Überfüllung geschlossen – die gestrandeten Flüchtlinge wurden abgewiesen.
Das Flüchtlingscamp ist von der BAMF-Außenstelle von der Huckarder Straße zur Katharinentreppe umgezogen.
Das syrische Flüchtlingscamp befindet sich noch an der Katharinentreppe.

Von Clemens Schröer

Die Flüchtlingsfrage ist zweifellos eines der brisantesten Themen dieses Sommers: Bootsflüchtlinge, die hilflos im Mittelmeer treiben, Jagdszenen am Eurotunnel bei Calais, wenn Flüchtlinge versuchen, nach England zu kommen.

Obdachlose Asylbegehrende in Athen und Rom. Osteuropäer, die fünfundzwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus vergessen zu haben scheinen, was politische Verfolgung bedeutet und den heute Verfolgten die Tür weisen.

Syrische Bürgerkriegsflüchtlinge, die seit Wochen an der Katharinentreppe ein Protestcamp abhalten, weil ihre Asylverfahren auch nach Monaten noch nicht bearbeitet wurden, sodass sie ihre Familien nicht außer Lebensgefahr bringen und nachholen können.

Die Erstaufnahme in Hacheney, die mehrfach wegen Überbelegung geschlossen werden musste. Und nicht zuletzt die vielfältig diskriminierten „westbalkanischen“ Roma: Sie drohen als „Wirtschaftsflüchtlinge“ gegen die „echten“ Asylberechtigten aus Bürgerkriegsregionen ausgespielt zu werden. Das individuelle Grundrecht auf Asyl wird durch Pauschalisierungen wie „sichere Herkunftsstaaten“ bedroht.

Diskussion im Reinoldinum: „Was müssen wir verändern? Europa und die Flüchtlinge“

Unter dem Titel „Was müssen wir verändern? Europa und die Flüchtlinge“ lud der Ev. Kirchenkreis jüngst zu einer Diskussionsveranstaltung ins Reinoldinum in der Dortmunder Innenstadt ein.

Referenten waren Guntram Schneider, NRW-Minister für Arbeit, Soziales und Integration, Birgit Naujoks, Geschäftsführerin des Flüchtlingsrates NRW und Manuel Kabis, Fachanwalt für Asylfragen. Die Moderation übernahm Pfarrer Friedrich Stiller.

Birgit Naujoks, Michael Stache, Guntram Schneider,  Manuel Kabis, Friedrich Stiller und Sophie Niehaus Foto: Evangelischer Kirchenkreis. Foto: Schütze/VKK
Birgit Naujoks, Michael Stache, Guntram Schneider, Manuel Kabis, Friedrich Stiller und Sophie Niehaus. Foto: Schütze/VKK

Er zählte zu Beginn die vielfältigen Initiativen seiner Kirche in praktischer Flüchtlingsarbeit auf.

So trägt die Diakonie eine Flüchtlingsunterkunft im Phoenix-Haus Hörde, eine Gemeinde im Dortmunder Westen gewährte jüngst einer pakistanischen Flüchtlingsfamilie Kirchenasyl, ehrenamtliche Helfer werden in Orientierungskursen geschult, Bürgerversammlungen zum Thema finden oft in Gemeindehäusern statt.

Die Ev. Kirche Dortmund begreift sich als Teil einer zivilgesellschaftlichen Willkommenskultur, aus dem Geist der Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Doch möchte sie, wie an diesem Abend, auch an den politischen Debatten prägend teilnehmen.

Stiller hob zwei Probleme hervor: Angesichts hilfloser Menschen auf dem Mittelmeer in überfüllten Booten, misshandelter, ausgeraubter und ausgebeuteter Flüchtlinge auf den Schlepperrouten Südosteuropas – Wie lässt sich die Flucht nach Europa humaner gestalten? Und wie lässt sich das aktuelle Dublin-System ändern? Danach ist das Land alleinverantwortlich, in dem der Flüchtling zuerst registriert wurde.

Komfortabel für Deutschland, in der Mitte Europas, umgeben von sog. „sicheren Drittstaaten“. Viele Länder stöhnen, dass sie keine Flüchtlinge mehr aufnehmen könnten und fordern andere Verteilregeln.

Schneider: Humaner Umgang mit Flüchtlingen als Lackmustest der EU

Die EAE Hacheney ist dramatisch überbelegt - viele Familien bekamen keine Betten mehr.
Die EAE Hacheney ist sehr häufig dramatisch überbelegt – viele Familien bekamen oft keine Betten mehr.

Minister Guntram Schneider (SPD)  positionierte sich hier klar: Der Strom der Flüchtlinge werde anhalten. Es sei eine „kleine Völkerwanderung“, auch säkulare Trends wie der Klimawandel trügen dazu bei.

Abschreckung, wie die Zerstörung der Flüchtlingsboote oder die Errichtung von Grenzzäunen (Mexiko-USA, Spaniens afrikanische Exklave Melilla), funktioniere nicht.

Anders als in den 1990-ern, als viele Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien kamen, die überwiegend nach ein paar Jahren wieder in ihre Heimatländer zurückkehren konnten, sei den heutigen Flüchtlingen aus Dauerkrisengebieten die Rückkehr absehbar unmöglich.

„Unsere Gesellschaft steht dadurch vor einer der großen Herausforderungen, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten nicht gekannt haben.“ Die EU sei eine humane Werteunion, der Umgang mit den an Leib und Leben bedrohten, verfolgten Flüchtlingen ihr Lackmustest.

Erstprüfung der Asylbegehren in nordafrikanischen Fluchtstaaten

27 aller in Deutschland ankommenden Asylbewerber durchlaufen die EAE Hacheney.
27% aller in Deutschland ankommenden Asylbewerber durchliefen 2014 die EAE Hacheney.

Schneider wünscht sich, dass bereits in den Fluchtstaaten an der nordafrikanischen Küste die erste Phase der Asylverfahren stattfindet. Dafür müssten die dortigen Botschaften ausgebaut und ausgerüstet werden.

In einem zweiten Schritt sollten die Asylbegehrenden sicher überführt und nach einem gerechten Schlüssel auf alle EU-Staaten verteilt werden, statt sich weiterhin „einen schlanken Fuß zu machen“ und Grenzstaaten wie Italien, Bulgarien oder Griechenland mit den Flüchtlingen im Stich zu lassen oder sich der Aufnahme zulasten von vier bis fünf Ländern wie Schweden oder Deutschland zu entziehen.

Und unter Verweis auf die Aufnahme von Millionen syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge in den nicht auf Rosen gebetteten Anrainerstaaten Jordanien, Libanon und Türkei verwahrte sich Schneider gegen das „Das Boot ist voll“-Gejammer im satten Europa.

Kürzung der Asylverfahrensdauer bei Wahrung rechtsstaatlicher Standards

In Deutschland dann müsse unbedingt die Asylverfahrensdauer verkürzt werden. Derzeit seien es oft zwischen 17 bis 20 Monaten, ideal wären drei.

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In der Dortmunder Außenstelle des BAMF liegen noch viele Asylanträge unbearbeitet vor.

Bei Schneiders eigener Frau, die vor 30 Jahren aus dem kommunistischen Rumänien geflüchtet war, dauerte das Verfahren gerade drei Minuten …

Dabei müssten aber die rechtsstaatlichen Standards gewahrt bleiben, notwendige Personalaufstockungen im Entscheiderbereich des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dürften nicht zulasten der Qualität und Qualifikation gehen.

Dann könnten sich die Asylberechtigten auch rascher um Arbeitsaufnahme oder eine berufliche, schulische oder universitäre Ausbildung bemühen, da sie nicht mehr unter das Arbeitsverbot während des Verfahrens fielen, welches zudem nicht mehr zeitgemäß sei.

Und es verfange auch das rechtspopulistische Gerede etwa des bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer nicht mehr, der den Flüchtlingen gern eine Zuwanderungsabsicht „in die Sozialsysteme“ unterstelle.

Integration in eine bunte Gesellschaft mit dem Grundgesetz als Leitkultur

Im Anschluss nahm Schneider als Integrationsminister sehr grundsätzlich das Wort: Deutschland müsse sich noch viel mehr um die Integration seiner Flüchtlinge bemühen, schon allein aus demografischen (Überalterung) und ökonomischen Gründen (Fachkräftebedarf), vor allem aber aus humanitären.

Er warb dabei für ein westlich-liberales Verständnis des Integrationsbegriffs: Die Zuwanderer müssten Deutsch als Verkehrssprache beherrschen, was keinesfalls eine Absage an die Muttersprache bedeute. Sie müssten die Verfassung als Leitkultur akzeptieren, dann könne jeder „nach seiner Fasson selig werden“.

Irgendeiner Assimilierung und „Germanisierung“ erteilte der Minister eine klare Absage, „Buntheit“ sei eine Chance, man könne doch auch „mehrere Heimatländer“ haben. Jedoch setze Integration auch Teilhabe voraus, hier müssten endlich die letzten Schlacken des noch im Deutschen Kaiserreich völkisch-nationalistisch geprägten Staatsbürgerschaftsrechts beseitigt werden.

Wie im Westen seit 1789 üblich, solle der Geburtsort für die Verleihung der Staatsbürgerschaft entscheidend sein, nicht die Abstammung. Es sei anachronistisch, dass ein Türke zwar Chef der Lufthansa werden könne, nicht aber Bezirksbürgermeister in Dortmund-Hörde.

 „Offene Gesellschaft“: Hohe Aufnahme- und Unterstützungsbereitschaft für Flüchtlinge

Viele Bürger helfen, um die Menschen willkommen zu heißen.
Viele Bürger helfen, um die Menschen willkommen zu heißen.

Insgesamt ist Schneider optimistisch: Zwar habe es im Nachkriegsdeutschland große Vorbehalte gegen die ostdeutschen Flüchtlinge und Vertriebenen gegeben, sei Deutschland später das einzige Land der Welt gewesen, dass ausländische „Gäste“ habe arbeiten lassen, gab es in den 90ern fremdenfeindliche Mordanschläge und die perfide ausländerfeindliche Unterschriftensammlung der CDU Roland Kochs in Hessen.

Doch mittlerweile zeige die hohe Aufnahme- und Unterstützungsbereitschaft für Flüchtlinge gerade auch in Dortmund, dass man auf einem guten Weg sei in eine „offene Gesellschaft“. Anders als im europäischen Umfeld, wo rechtsradikale Gruppierungen zunehmend reüssierten (Frankreich, Österreich, Ungarn), halte im Land der Täter (noch) das historisch bedingte Nazi-Tabu.

Und es lebten hier auch zunehmend andere Deutsche, von den 18 Millionen Einwohnern in NRW engagierten sich 6 Millionen freiwillig in zivilgesellschaftlichen Vereinen, in den Kitas hätte mehr als die Hälfte der Kinder mittlerweile einen „Migrationshintergrund“. Das Bunte, Multikulturelle werde zunehmend gelebte Normalität.

Naujocks: Statt Dublin legale Einreisemöglichkeit für Flüchtlinge in das Land ihrer Wahl

Das Flüchtlingscamp ist von der BAMF-Außenstelle von der Huckarder Straße zur Katharinentreppe umgezogen.
Klare Botschaften gehen von dem syrischen Flüchtlingscamp in Dortmund aus.

Die beiden folgenden Referate drehten sich dann wieder stärker um das Asylthema. Birgit Naujoks, Geschäftsführerin des Flüchtlingsrates NRW, bezweifelte, dass die EU- und die deutsche Flüchtlingspolitik richtig ausgerichtet ist, Abschottung und Abschiebung stünden im Vordergrund, nicht die Menschenrechte.

Die Seenotrettung sei mangelhaft, es gebe verschärfte Grenzschutzmaßnahmen, auch Deutschland würde die Flüchtlinge in unsichere EU-Staaten mit menschenrechtsunwürdigen Standards abschieben, wo sie wie in Ungarn Gefängnis erwarte, Misshandlungen wie in Bulgarien, Obdachlosigkeit und Unterversorgung wie in Griechenland und Italien.

Diese beschämende Praxis hätten erst europäische und deutsche Gerichte untersagen müssen.

Kabis: Höchste Gerichte schützen humane Standards –  viele widersprüchliche Urteile unterer Instanzen

 

Allein im Juni 2015 wurden mehr als 53.000 Flüchtlinge durch die EAE Hacheney geschleust.
Allein im ersten Halbjahr 2015 wurden mehr als 53.000 Flüchtlinge durch die EAE Hacheney geschleust.

Der Dortmunder Flüchtlingsanwalt Manuel Kabis schloss sich hier an und stellte fest, dass die Asylverfahren oft in den unteren Gerichtsinstanzen hängenblieben und deshalb sich einander widersprechende Urteile ergingen, welche die Rechtssicherheit gefährdeten. So zählte er 300 Entscheidungen pro Abschiebung nach Italien und ebenso viele dagegen.

Naujocks glaubt auch nicht, dass der Dubliner Verteilungsschlüssel funktionieren könne. Denn EU-weit sei eben, anders als innerhalb Deutschlands, keine Vergleichbarkeit der Standards gegeben.

Sie fordert eine legale Einreisemöglichkeit der Asylbewerber und zwar, anders als Schneider, in das Land ihrer Wahl. Hierfür solle es dann innereuropäische Ausgleichszahlungen zugunsten „überfrequentierter“ Aufnahmeländer geben.

Vielfältige Spezial- und Alltagsprobleme in der Flüchtlingsarbeit

In der abschließenden Diskussion meldeten sich vor allem ehren- und hauptamtliche Flüchtlingshelfer zu Wort.

Solidarität mit Flüchtlingen standen im Mittelpunkt der Refugees Welcome Demo in Dortmund.
Solidarität mit Flüchtlingen ist für viele Dortmunder mittlerweile eine Herzensangelegenheit.

Es ging um weitere Spezialprobleme wie die Betreuung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die unzureichende psychosoziale Versorgung der oft Traumatisierten und die Lage der Syrer im Protestcamp auf der Katharinentreppe.

Aber auch die Erschwernisse beim Familiennachzug bei Kontingentflüchtlingen, die ihren Angehörigen den Lebensunterhalt garantieren müssten, sowie der Umgang mit den geschätzt mittlerweile eine Million Illegalen in Deutschland, die aus allen sozialen Netzen fallen, waren Themen.

Und nicht zuletzt wurde der zunehmende Finanzbedarf diskutiert und wie er am besten zu decken wäre.

Konservative und rechte Gegenpositionen wurden an diesem Abend im Reinoldinum nicht vertreten. Vielleicht wird eine Diskussion mit den Gegnern einer liberalen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik aber bei einer künftigen Veranstaltung gesucht.

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Reaktionen

  1. Thomas Bahr

    Was heißt hier: konservative und rechte Gegenpositionen wurden nicht vertreten? Schneider – spd, kabis- spd, pfr. Stiller – ehemann von frau schneckenburger. Bei diesem podium ist halt nur die position der Landesregierung vertreten worden. Klar, dass da bayern und hessen schuld ist an den Verhältnissen in dortmund.

    • Clemens Schroeer

      „Vielleicht wird eine Diskussion mit den Gegnern einer liberalen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik aber bei einer künftigen Veranstaltung gesucht.“ – Vielleicht sind Sie ja dann dabei, Herr Bahr.

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