Offenes Forum der Gewerkschaft ver.di zu Kernproblemen des heutigen Rentensystems: „Ist Armut politisch gewollt?“

v.l.: Dr. Judith Kerschbaumer, Birgit Haverkemper und Agnes Klein.
Diskutierten in der Nordstadt: (v.l.): Dr. Judith Kerschbaumer, Birgit Haverkemper und Agnes Klein.

Von Thomas Engel

„Ist Armut politisch gewollt?“ Provokante Frage. Die leider nicht so weit hergeholt ist – folgen wir den Argumenten der GewerkschafterInnen von ver.di. Denn wie ließe sich sonst erklären, dass auf bundespolitischer Ebene in Sachen Rentenanpassung Stillstand herrscht? Und eine Vergrößerung der Altersarmut daher absehbar sei, bliebe das Rentensystem in seiner heutigen Form unangetastet, so die Gewerkschaft. Aber ganz über den Haufen geworfen werden soll es auch wieder nicht. – Erkenntnisse vom offenen ver.di-Forum im sweetSixteen-Kino in der Nordstadt.

Sicherung der Renten ist kein Selbstläufer: „Wir müssen etwas ändern!“

Überschaubarer Andrang beim ver.di-Forum zur Rentenpolitik.
Überschaubarer Andrang beim ver.di-Forum zur Rentenpolitik. Fotos: Thomas Engel

Es war zu Beginn der Veranstaltung im sweetSixteen-Kino des Dortmunder Depots. Die Moderatorin, Birgit Haverkemper, stellvertretende Bezirksgeschäftsführerin von ver.di, stellt enttäuscht fest, dass der Anteil der jungen ZuhörerInnen unter den BesucherInnen des Forums leider recht überschaubar geblieben sei.

Denn Fragen zur aktuellen Rentenpolitik hätten auch und vor allem etwas mit der jüngeren Generation zu tun. Sie seien später am stärksten von Kürzungen bei der gesetzlichen Rente betroffen. – Zudem: Entscheidungen über eine Absicherung für die Zeit nach dem Ende des Berufslebens könnten nicht erst drei Monate vor Eintritt ins Rentenalter getroffen werden, pflichtet ihr die Gastrednerin, Dr. Judith Kerschbaumer, Leiterin des Bereiches Sozialpolitik im ver.di-Bundesvorstand, bei. Dann sei es schlicht zu spät.

Mit anderen Worten: Wer sich nicht in jungen Jahren rechtzeitig um die spätere Rente kümmert, erhört damit in einem erheblichen Maße die Wahrscheinlichkeit, irgendwann in der Altersarmut zu landen und auf staatliche Hilfen angewiesen sein wird. Vorausgesetzt, die Gesetzeslage bliebe so, wie sie heute ist, betont Judith Kerschbaumer. Denn die Sicherung der Rente im Alter ist schon lange kein Selbstläufer mehr. Daher gäbe es Handlungsbedarf bei der gesetzlichen Rentenversicherung und appelliert: „Wir müssen etwas ändern!“

Das Bundesrepublikanische Rentensystem: bewährt, aber kaputt gespart

Grundsätzlich stellt ver.di das bestehende Rentensystem in seiner heutigen Form allerdings nicht in Frage, daran lässt Judith Kerschbaumer keinen Zweifel: „Wir haben ein gutes Rentensystem, das hat sich bewährt“, betont die Expertin für Sozialpolitik bei ver.di. „Aber es wurde seit 20 Jahren kaputt gespart,“ fügt sie hinzu.

In der vergangenen Legislaturperiode hätte es zwar Verbesserungen gegeben wie seit 30 Jahren in der Rentenpolitik nicht mehr. So könnten seit dem 1. Juli 2014 Beschäftigte nach 45 Jahre Beitragszahlung in die Rentenkassen schon mit 63 Jahren ohne Abschläge in den Ruhestand gehen.

Allerdings steigt diese Altersgrenze ab den Geburtsjahrgängen 1953 für eine abschlagsfreie Rente wieder schrittweise an. Für alle 1964 oder später Geborenen liegt sie dann wie bislang bei 65 Jahren. Aber das ist vermutlich noch nicht alles.

Erhöhung des Eintrittsalters in den Ruhestand wegen der demographischen Entwicklung?

Judith Kerschbaumer, Leiterin des Bereiches Sozialpolitik, ver.di Bundesvorstand
Judith Kerschbaumer, Leiterin des Bereiches Sozialpolitik, ver.di Bundesvorstand.

 

Denn die Genossinnen sind sich sicher: Eine neue Regierung wird versuchen, die steigende Lebenserwartung in der Bundesrepublik in eine zukünftige Rentenanpassung einzubauen. Mit dem Standardargument: Wer länger lebt, muss auch länger arbeiten. Weil immer weniger junge Menschen den Ruhestand von immer mehr älteren finanzieren müssen. Es muss also in der kommenden Legislaturperiode mit einer Debatte um den Zeitpunkt des Renteneintritts gerechnet werden: Mit 65, 67, 70, 71?

Der Haupteinwand seitens der Gewerkschafterinnen, der herauszuhören war, lautete: Es dürfen nicht alle Menschen über einen Kamm geschert werden und individuelle Lebenslagen unberücksichtigt bleiben. Es mag Beschäftigte geben, die wirklich länger arbeiten wollen, andere hingegen mögen nach einem langen Arbeitsleben physisch und/oder psychisch ausgebrannt sein und können daher einfach nicht länger arbeiten. Dies darf nicht betraft werden.

Und: Viele RentnerInnen arbeiteten schon heute in Minijobs (Ende 2015 fast 1 Million) nicht etwa deshalb, weil ihnen das soviel Spaß machte, sondern um mit ihrer kleinen Rente überhaupt die monatlichen Ausgaben decken zu können, ohne Hilfen zur Grundsicherung vom Staat beanspruchen zu müssen.

Auch die sogenannte „Flexirente“, auf die viele Beschäftigte gehofft hatten, um den Eintrittszeitpunkt ins Rentenalter selbstbestimmter zu gestalten, sehen die Gewerkschafterinnen kritisch: Zwar liegt die Art und Weise des Überganges nun stärker bei den Berufstätigen, aber häufig würden dadurch eigene Rentenansprüche gemindert, d.h. die Abschläge bleiben – eine verkappte Rentenkürzung. Mit 65 solle hingegen grundsätzlich abschlagsfrei Schluss sein, fordert Judith Kerschbaumer. Statt für die Zeit danach Entscheidungen auf den Tod zu treffen.

Das sinkende Rentenniveau bedeutet für viele Menschen Altersarmut

Entscheidend aber sei, so das Mitglied aus dem ver.di-Bundesvorstand, dass „der Fall nach unten vom Lebensstandard, den ich mir erarbeitet habe, […] tief“ sei. Sehr tief. Die Lebensstandardsicherung in der Bundesrepublik funktioniere einfach nicht und führe in den unteren Bereichen der Rentenansprüche, die nach einem langen Arbeitsleben geltend gemacht werden könnten, direkt in die Altersarmut.

Dies wird der Gewerkschaft zufolge an einem einfachen Beispiel deutlich: Der Durchschnittsverdienst in Deutschland lag im Jahr 2016 – mit Vollzeitanstellung von rund 38 Wochenstunden – bei 3022 Euro brutto. Beim heutigen Rentenniveau von 47,9 Prozent ergäbe sich nach 40 Jahren im Arbeitsleben ein Rentenanspruch von sage und schreibe 1084 Euro vor Steuern. Nach 30 Jahren Vollzeit bleiben ganze 813 Euro übrig.

Davon sind vor allem Frauen betroffen, die zwischendurch „mal so eben“ ein paar Kinder groß gezogen haben, inzwischen geschieden sind und ihre Rentenansprüche aus den Erziehungszeiten an den vormaligen Gatten abgaben. – Keine Einzelfälle, wie Judith Kerschbaumer betont.

Wer es geschafft hat, 45 Jahre lang in Vollzeit zu arbeiten, der/die erhält bei besagtem Durchschnittsverdienst von 3022 Euro monatlich gerade einmal 1133 Euro netto als Rente. – „Soll so die Würdigung eines arbeitsreichen Lebens aussehen?“, scheinen sich die Gewerkschafterinnen zu fragen. Aber es kommt noch besser.

Ver.di in Sorge: Es sei zu erwarten, dass das Rentenniveau weiter absinkt

Diese Zahlen unterstellen nämlich allesamt, dass das Rentenniveau konstant bleibt. Ändert sich aber nichts in der Rentenpolitik, wird dies mitnichten der Fall sein. Wenn nichts auf bundespolitischer Ebene geschieht, das geltende Recht mithin so bliebe wie heute, so Kerschbaumer, fiele das Rentenniveau 2030 auf 44,5 und der Beitragssatz erhöhte sich auf 21,8 Prozent. Und für 2045 bekämen Vollzeitbeschäftigte nach 45 Jahren nur 41,7 Prozent ihres durchschnittlichen Lohns in dieser Zeit, während der Beitragssatz sich bei 23,6 Prozent bewegte.

„Rente muss reichen“ lautet die Kampagne der Gewerkschaften. Foto: Susanne Schulte
„Rente muss reichen“ lautet die Kampagne der Gewerkschaften. Foto: Susanne Schulte

Entsprechend sänken die jeweiligen Rentenansprüche. Zum Beispiel nach 40 Jahren Vollzeit ohne weitere Entgeltpunkte (EP) – etwa wegen der Erziehung von Kindern – und einem Rentenniveau von 43 Prozent bei einem unterstellten Durchschnittsverdienst aus dem Erwerbsleben von 3022 Euro monatlich auf 974 Euro vor Steuern.

Bei einer Reduktion der Beitragssätze von einem Zehntel-Prozentpunkt, wie jetzt geschehen von 18,8 auf 18,7 Prozent, folgt eine volkswirtschaftliche Freistellung von 1,3 Milliarden Euro. Macht für die Arbeitgeber-Kasse die Hälfte: 650 Millionen. Da sagten sie gerne Danke – und drängen darauf, die Sozialversicherungsbeiträge möglichst niedrig zu halten. Dagegen wehren sich die Gewerkschafterinnen.

Auch deshalb sei es von immenser Bedeutung, „das Thema […] auf der politischen Agenda“ zu halten, wiederholt Judith Kerschbaumer mit Nachdruck. Und natürlich um die Leistungsfähigkeit des Rentenniveaus zu sichern. Die Ziellinie der Gewerkschaften betrüge hier etwa 50 Prozent. – Zur Erinnerung: Wie viel von dem, was ich in meinem Leben durchschnittlich verdient hatte, gab es früher an Rente? Da wirken die von ver.di anvisierten 50 Prozent eher bescheiden gegen.

„Die soziale Absicherung des Alters war einmal eine große Errungenschaft unseres Sozialstaats. Im 21. Jahrhundert droht dieser Fortschritt unter die Räder zu kommen und das in einem der reichsten Länder der Welt“, kommentiert die Moderatorin des Forums, Birgit Haverkemper.

Stellschrauben einer zukünftigen Rentenpolitik im Sinne der Gewerkschaften

Ver.di möchte die gesetzliche Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung für alle fortentwickeln, in der beispielsweise auch Selbstständige, Beamte und Angehörige verkammerter Berufe versichert sein und einzahlen sollen – alle, die berufstätig sind. Dies sei „eine Gerechtigkeitsfrage“, betont Judith Kerschbaumer. Die sog. Riester-Rente sei gescheitert. An ihr hätte vor allem die Versicherungswirtschaft verdient.

„Rente muss reichen“ lautet die Kampagne der Gewerkschaften. Foto: Susanne SchulteZusätzliche Leistungskürzungen vermeiden, Sicherung des Rentenniveaus – daneben fordert ver.di, die Krankenversicherung solle in eine Bürgerversicherung überführt werden, in der die Angehörigen aller Berufe ausnahmslos versichert sind. Auch in Sachen Mütterrente und Erwerbsminderungsrente müsse etwas getan werden.

Die Mütterrente soll über Steuern, nicht über die Rentenversicherung bezahlt werden. Denn die Rentenkassen seien zwar augenblicklich gut gefüllt, aber es müsse absehbaren demographischen Entwicklungen Rechnung getragen werden, wenn die geburtenstarken Jahrgänge das Rentenalter erreicht haben werden. Zudem solle es entgegen der jetzigen Bestimmungen egal sein, wann ein Kind geboren wurde, erklärt Judith Kerschbaumer.

Die geplanten Verbesserungen bei den Erwerbsminderungsrenten erachten die Genossinnen als nicht ausreichend. „Schäuble wollte eine billige Reform“, so Kerschbaumer – mit Verbesserungen, die erst künftig einträten, jetzt also nichts kosteten. Sie gelten daher nicht für die 1,8 Millionen Betroffenen, die bisher schon Leistungen beziehen, sondern nur für künftige Fälle, und auch das nur in kleinen Schritten bis 2024.

Dortmund: schon über 11.500 Menschen sind auf die Grundsicherung im Alter angewiesen

„Alt werden in Würde und ohne Armut, das ist unser Anspruch nach einem arbeitsreichen Leben“, fasst die Expertin für Sozialpolitik die Zielvorstellungen der gewerkschaftlichen Rentenpolitik zusammen. Durch die Erhöhung des Wohngeldes zum 1. Januar 2016 seien zwar viele Leute aus der Grundsicherung herausgefallen. Und doch müssten in Dortmund bereits 11.500 Menschen dieses Sicherung im Alter beanspruchen.

Alles, was sich in den Koalitionsverhandlungen für Jamaika abgespielt habe, sei nicht gut gewesen für die Alterssicherung, so Kerschbaumer. Viele Beschäftigte verfolgten die Debatte und die Positionen der Parteien über die Zukunft der Rente. Es ginge um die Wahrung ihres Lebensstandards im Alter, mindestens aber darum, Altersarmut zu verhindern.

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