Zeitreise in die analoge Popkultur – Einladung zum Mitmachen

„Nam June Paik: I Expose the Music“ – Museum Ostwall im Dortmunder U im Rausch von Fluxus

Im anarchistischen Himmel: Nam June Paiks Sistine Chapel

This is a glimpse into the video landscape of the future. ( Das ist ein flüchtiger Blick in die Videolandschaft von Morgen) Nam June Paik

Nam June Paik gilt als visionärer Vater der Videokunst, die in den 1960er Jahren noch die Zukunft war. Dabei sind die Arbeiten des gebürtigen Koreaners weitaus mehr: ein Stück Popkultur- und Zeitgeschichte.
Peiks Experimentalkunst ist ein avantgardistisches Abbild der Diversität in der Kunst selbst, darunter Paiks Schlüsselwerke wie der Schallplatten-Schaschlik (1963/1980), die interaktive Fernsehskulptur Participation TV (1969/1980) oder die grafische, zufallsbedingte Partitur-Maschine Random Access (1963/2000), die so funktioniert, dass der User mithilfe eines Tonkopfes auf die Wand geklebte Tonbandstreifen abfahren kann und damit je nach Stelle und Tempo immer neue Klangfolgen produziert.
Wer sich darunter nicht so richtig etwas vorstellen kann, ist auf der ersten großen Fluxus-Kunst-Ausstellung nach Corona „Nam June Paik: I Expose the Music“ des Museum Ostwall im Dortmunder U bestens aufgehoben.

Musik ist überall – Partizipation und Performanz

Umfangreich bebildeter Katalog zur Nam June Paik-Ausstellung Dr. Sandra Danneil | Nordstadtblogger

Zunächst einmal sensibilisiert Rudolf Frieling, Kurator für Medienkunst in San Franciscos Museum of Modern Art, das Publikum dafür, dass der Name des etablierten koreanischen Enfant Térrible Paik lautschriftlich [peik] ausgesprochen wird.

Der Sohn eines wohlhabenden Textilfabrikanten kam, laut Frieling, als Immigrant mit einem Koffer gefüllt mit bedeutsamem „Kuddelmuddel“ (gemeint ist die Box for Zen) nach Europa, wo er in den 1950ern Teil der Fluxus-Bewegung werden sollte.

Paik fand Inspiration bei John Cage, arbeitete mit Charlotte Moorman und befreundete sich mit Joseph Beuys; er studierte unter anderem Kunst, Musik und Elektrotechnik; und er wird auch beinahe zwanzig Jahre nach seinem Tod im Jahr 2006 international als einer der einflussreichsten Avantgardisten seiner und unserer Zeit geschätzt. Mit seiner elektronischen Bildsprache erst erfindet Paik die Chronologie und Grammatik einer experimentellen Kunstform, die schon Mitte des 20. Jahrhunderts über das Leben im 21. Jahrhundert fabuliert.

Transzendenz und Immersion: Art in the making

Vom 17. März bis 27. August 2023 haben Besucher:innen des Museums Ostwall im Dortmunder U die einzigartige Gelegenheit, sich von rund 100 Arbeiten des koreanischen Avantgardisten nicht nur visuell zu überzeugen, sondern sich von ihnen einhüllen zu lassen, sie mit allen Sinnen zu erfahren und an diversen Aktionsstationen selbst Teil der räumlichen Anordnung zu werden.

Schwerpunkte der Ausstellung sind Nam June Paiks Live-Momente, die sich wie ein Wolframdraht durch seine künstlerische Karriere drehen. Vom Dortmunder Designbüro please don’t touch stilsicher wie lautmalerisch in Szene gesetzt, liegt der Fokus auf der immersiven Erfahrung seines Publikums, das in Galerien, auf der Straße oder bei Live-Fernsehübertragungen Kunst stets unmittelbar und aktiv sehen, anfassen und miterleben konnte.

Musik auszustellen, sprich Klang in Form von unterschiedlichsten Kulissen zu inszenieren, ist eine Seite des in Deutschland lange Zeit umtriebigen Künstlers, die bisher entweder so noch nie oder so schon lange nicht mehr gezeigt wurde. Grund dafür liegt in einem der Höhepunkte der Ausstellung.

Im anarchistischen Himmel – Deutschland-Premiere der „Sistine Chapel“

 

Der anarchistische Himmel der „Sistine Chapel“. Dr. Sandra Danneil | Nordstadtblogger

Mit vollem Stolz feiert das Kurator:innen-Team die deutsche Uraufführung des Sistine Chapel (1993/2019), bei der es sich um eine raumgewaltige Bild-Licht-Ton-Installation im Geiste unserer sinnesüberfluteten Zeit handelt.

Hier trifft dadaistisches Zufallsprinzip auf systematische Komplexität, die es so und unter ganz anderen technischen Voraussetzungen zuletzt auf der Biennale 1993 in Venedig zu bestaunen gab.

Der Raum im Dortmunder U gleicht einer Kuppel, in der Besucher:innen, angeführt von alarmierenden Soundfragmenten, ganz eintauchen können in die Kakophonie stroboskopisch angeordneter Bilder, die wie ein anarchistischer Himmel voller audiovisueller Inkongruenz auf seinen Konsumenten einwirken.

„When too perfect lieber Gott böse“

Das ‘TV Cello’ aus der Kollabo mit Charlotte Moorman.

Paik, der die Ästhetik klassischer musikalischer Ordnung ablehnte, entdeckte, dass Kunst eine Erfahrung aller Sinne bedeutet, dass Alltagsgeräusche Musik und klassische Instrumente Objekte performativer Zerstörung sind.

Paik, der sich selbst gern als „the world’s most famous bad pianist“ bezeichnete, spielte damit auf der Klaviatur schockierter Traditionalisten, denn Paik komponierte Partituren aus Lärm und malte Gemälde mit elektromagnetischer Farbe.

Sechzig Jahre nach Paiks erster Einzelausstellung in der Wuppertaler Galerie Parnass „Exposition of Music – Electronic Television“ lädt das Dortmunder U zusätzlich zu einer Live-Hommage an Nam June Paiks nie realisierter Sinfonie für 20 Rooms (1961/1974) ein.

Das Fluxus-Erbe im performativen Dialog

Am Eröffnungsabend des 16. März von 20 bis 22 Uhr macht Aki Onda mit seiner Installation den performativen Auftakt. Mit Between Objects, Noted and Unnoted schafft der japanische Experimentalkünstler somit eine ständig variierende Klanglandschaft des analogen Zeitalters.

Der japanische Aktionskünstler Aki Onda im Klangraum der ‘Sinfonie für 20 Rooms’.

Ondas Live-Performance aus Field Recordings, einem präparierten Klavier und alten Radios bildet den Ausgangspunkt für einen performativen Dialog mit Paik, der in Dortmund von weiteren drei künstlerischen Gastspielen abwechslungsreich fortgeführt werden soll.

Während Aki Ondas teils flüchtige, teils absurde Sound-Hommage an das Paik’sche Fluxus-Erbe vom 16. März bis 7. Mai erlebt werden kann, zeigt die New Yorker Künstlerin Autumn Knight, in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Dortmund, vom 13. Mai bis zum 2. Juli ihre transperformative Arbeit Nothing #74: dortmund.

Zwischen dem 8. und 23. Juli wird das Publikum zu Live-Zeug:innen der 16-tägigen Co-Komposition A Sinfonie and its parts in vier Sätzen der Hamburger Klangkünstlerin Annika Kahrs. Der Hongkonger Konzeptkünstler Samson Young (29. Juli bis 27. August) bildet den Schluss-Akkord mit der sechsstündigen Inszenierung 20 heterophonies, in der nochmal alle Sinne angesprochen werden wollen.

Dortmunder U – Mit Nam June Paik wieder ein Resonanzkörper für kreativen Austausch

Von l. nach r.: Leiter Stefan Leitkemper (U), Moderatorin Annette Schäfer (PR-Netzwerk), das Kurator:innen-Team Stefanie Weißhorn-Ponert und Christina Danick (MO) mit Rudolf Frieling (San Francisco MOMA) und die MO-Doppelspitze Regina Selter (l.) und Dr. Florence Thurmes.

Dass Nam June Paiks Kunst keinem ästhetischen Dictum folgt, sondern als radikale Anordnung des konzertierten Zufalls verstanden werden darf, wird in der Museum Ostwall-Ausstellung „I Expose the Music“ durch ihre Vielschichtigkeit eindrucksvoll in Szene gesetzt.

Das bei seinen Kritiker:innen als Millionengrab in Missgunst geratene Dortmunder U steigt mit Nam June Paik nach der zähen Corona-bedingten Auszeit wie der Phönix aus der Asche. Interessierte sollten es nicht versäumen, zu erleben, wie die Räumlichkeiten der Dortmunder Kulturinstitution in einen klangvollen Resonanzkörper für kreativen Austausch verwandelt wird, um eine Kunstform zu feiern, ohne die es heute schlicht und ergreifend keine Popkultur geben würde.

Mehr Informationen:

  • „Nam June Paik: I Expose the Music”
  • Museum Ostwall im Dortmunder U / Sonderausstellungsfläche Ebene 6
  • Laufzeit: Fr, 17. März bis So, 27. August 2023
  • Eröffnung: 16. März um 19 Uhr
  • Eintritt: 9 Euro/ 5 Euro ermäßigt
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