Sorgenvoll blickt die Jüdische Gemeinde auf die Anfeindungen

Chanukka gestartet: Das jüdische Lichterfest in Zeiten von zwei Kriegen und Antisemitismus

Zum zweiten Mal steht der Chanukka-Leuchter auf dem Vordach des Opernhauses - an dieser Stelle stand die Synagoge.
Zum zweiten Mal steht der Chanukka-Leuchter auf dem Vordach des Opernhauses – an dieser Stelle stand die Synagoge. Karsten Wickern | Nordstadtblogger

Nachdenklich blickt Avigdor M. Nosikov beim Anlegen der Tefillin durch die Synagoge. Das Wickeln der Gebetsriemen aus Leder – siebenmal um den Arm und dann dreimal um Hand und den Mittelfinger – läuft für den Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde in Dortmund völlig automatisch ab. Gleiches gilt für das Anlegen der Gebetskapseln, die in der Nähe des Herzens und auf der Stirn getragen werden. Er trägt seinen Glauben am Körper – eine Verbindung von Herz und Verstand. In den Kapseln befinden sich Texte aus der Thora. Sie dienen als ein Zeichen, dass Gott die Kinder Israels aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat. Sie erinnern an die leidvolle Geschichte seines Volkes. Und diese ist in den vergangenen Monaten um einige Kapitel reicher geworden.

Der Rabbiner hat Putins Russland den Rücken gekehrt

Jüdisches Leben in Deutschland ist eigentlich Alltag. Eigentlich. Und doch ist es mit Blick auf die deutsche Geschichte fast schon ein Wunder, dass es das nach dem Holocaust überhaupt wieder geben konnte. Überlebende, die dem Nazi-Terror entkamen, gründeten die Kultusgemeinde neu.

Rabbiner Avigdor Moshe Nosikov beim Anlegen der Tefillin in der Synagoge.
Rabbiner Avigdor Moshe Nosikov beim Anlegen der Tefillin in der Synagoge. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

In den vergangenen fast zwei Jahren wurde sie erneut zur Anlaufstelle für Menschen auf der Flucht. Menschen aus der Ukraine, die vor Krieg und Vertreibung durch Putins Großmachtsphantasien flohen. 

Auch Nosikov gehört dazu. Er ist allerdings Russe und war zuletzt mehr als zwölf Jahre als Rabbiner in der Region Woronesch tätig. Als Reaktion auf den Angriffskrieg hatte der Geistliche seine russische Heimat verlassen – gemeinsam mit seiner Frau und seinen drei Kindern. „Das ist nicht mehr das Russland, in dem ich leben und wo ich meine Kinder aufwachsen sehen wollte“, sagt er mit großem Bedauern. 

Mehr möchte er zu dem Thema nicht sagen – auch wegen seiner Gemeinde, der er keine Probleme bereiten will. Der Rabbiner war direkt im März 2022 mit seiner Familie ins Ausland gegangen. Viele Möglichkeiten gab es nicht mehr, als alle Flüge nach Westen gestrichen wurden. „Ich bin nach Baku in Aserbaidschan gegangen – dahin konnte man noch Flüge bekommen.“ Das Reisen ist für ihn auch heute noch möglich – die Familie hat einen israelischen Pass.

40 Prozent der Jüdinnen und Juden haben ihre Wurzeln in der Ukraine

Bald wurde klar, dass es eine schnelle „Rückkehr zur Normalität“ nicht geben würde. „Ich habe angefangen mit Jüdischen Gemeinden über eine Anstellung zu sprechen. In den USA, in Finnland und im Baltikum. Aber die besten Gespräche hatte ich mit Dortmund.“ Die erneute Umstellung fiel der Familie schwer. Aber hier war alles gut organisiert. „Wir sind hier schnell heimisch geworden“, sagt der Rabbiner – mittlerweile in recht flüssigem Deutsch. 

Trotz der Auflagen wurden auf Demos in Dortmund auch verbotene Parolen wie diese gezeigt: „From the River to the Sea“ spricht Israel das Existenzrecht ab. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Seine Dortmunder Gemeinde hat sich sehr intensiv für die Menschen in und aus der Ukraine eingesetzt. Nicht zuletzt, weil rund 40 Prozent der Jüdinnen und Juden ihre Wurzeln in der Ukraine haben.

Rund 200 Menschen sind zudem während des Krieges neu in die Gemeinde gekommen. Ein sicherer Hafen – für manche auf Zeit, für manche vielleicht für immer. Doch das Leben ist für Menschen jüdischen Glaubens nicht einfach. Immer häufiger schlägt ihnen Antisemitismus offen entgegen. 

Seit dem brutalen Überfall der Hamas auf das israelische Kernland mit tausenden Toten und Verletzten sowie den Entführungen hat sich die Lage noch weiter verschärft. Der Kampf der Israelis gegen die Hamas in Gaza mobilisiert Muslime weltweit. Sicherheit war in den Jüdischen Gemeinden schon immer ein Thema.

„Die Lage ist seit Oktober noch wesentlich angespannter. Der permanente Hass, der jüdischen Menschen bundesweit entgegenschlägt, färbt natürlich ab“, sagt Leonid Chraga mit Blick auf die dauerhafte Polizeipräsenz und die verschärften Sicherheitsmaßnahmen.

Israel war jahrzehntelang der „Sichere Hafen“ – das Gefühl ist zerstört

„Ich habe absolutes Verständnis für die Menschen, die sich Gedanken um Freunde und Verwandte in Gaza machen, das ist absolut menschlich. Aber die Grenze ist da, wo Sorge und Mitgefühl in Hass umschlägt. Das hat nichts mit Mitgefühl mit der Zivilbevölkerung in Gaza zu tun, dass ist reiner Judenhass“, ist Chraga wütend und enttäuscht. Wenn der Rabbiner dann auf die Vorkommnisse in Dagestan schaut – ein Mob stürmte dort den Flughafen, um eine Maschine aus Israel zu besetzen – sieht er sich bestätigt, dass er dort vorerst keine Zukunft mehr hat. „Früher hat Russland den Antisemitismus bekämpft. Doch seit dem Ukraine-Krieg gibt es keine Garantie mehr, dass Russland weiter Jüdinnen und Juden vor dem Hass schützt.“

Rabbiner Avigdor Moshe Nosikov hat Russland verlassen.
Rabbiner Avigdor Moshe Nosikov hat Russland nach dem Beginn des Angriffs auf die Ukraine verlassen. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Nicht nur deshalb hatte die Gemeinde zahlreiche Hilfsaktionen für die Menschen aus der Ukraine gestartet und sie sehr intensiv bei ihrem Neustart in Dortmund begleitet. Jetzt mussten sie wieder Hilfsaktionen organisieren.

Zwar sind aus Israel keine Flüchtlinge gekommen, doch Hilfe für die Binnenvertriebenen haben sie dennoch organisiert. Mehr als 300.000 Israelis sind aus Israel vor weiteren Angriffen aus dem Gazastreifen und dem Libanon geflohen. Das ist – anders als in den meisten Medien – in den jüdischen Gemeinden ein großes Thema. 

Mehrere Gemeindemitglieder sind gleich nach den Angriffen nach Israel zurückgekehrt, um als Reservisten ihren Armeedienst wieder aufzunehmen. „Sie haben verstanden, dass sie helfen müssen, um das heilige Land zu schützen“, betont der Rabbiner. Denn Israel als „Sicherer Hafen“ ist Teil des kollektiven Traumas. Israel war seit 1948 der Garant, dass es keinen zweiten Holocaust mehr geben wird.

Dieses Sicherheitsgefühl hat massiv gelitten. Auch Rabbiner Nosikov hatte überlegt, wieder nach Israel zu gehen. Er ist Freiwilliger beim Roten Davidstern – der Schwesterorganisation des Roten Kreuzes. Doch die Antwort, die er von der Hilfsorganisation bekam, war deutlich: „Der Dienst für die Gemeinde in Deutschland ist wichtiger als die ehrenamtliche Hilfe in Israel.“

Wachsender Antisemitismus und zunehmende Bedrohungen für jüdisches Leben

Abgesehen von der politischen Großwetterlage, die zu seinem Weggang aus Russland geführt hat, fühlt sich Avigdor Nosikov in Dortmund sehr wohl. „Als ich in Russland gelebt habe, haben alle meine Kollegen aus der Rabbinerkonferenz gesagt, dass es kein richtiges jüdisches Leben in Deutschland gibt. Ich habe erlebt, dass das falsch ist“, sagt Nosikov nicht ohne Stolz. „Die Gemeinden hier sind sehr aktiv, auch die Gemeindemitglieder. Es gibt viel Potenzial für echtes jüdisches Leben. Ich war positiv überrascht.“ 

Geschäftsführer Leonid Chraga im Gespräch mit dem Polizeischutz - Alltag für die Jüdische Gemeinde.
Geschäftsführer Leonid Chraga im Gespräch mit dem Polizeischutz – Alltag für die Jüdische Gemeinde. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Doch jetzt gibt es viele dunkle Wolken: „Jetzt gehen wir in eine schwere Zeit“, sagt er angesichts des wachsenden Antisemitismus und der zunehmenden Bedrohungen für jüdisches Leben – nicht nur in Deutschland.

„Wir müssen das Beste aus jeder Situation machen. Die größte Aufgabe der Gemeinde ist jetzt, dass sich unsere Menschen sicher fühlen“, betont der Rabbiner. Das größte Ziel von Terrorismus sei nicht, alle Jüdinnen und Juden zu töten. „Diese Möglichkeit haben sie nicht. Aber sie wollen möglichst alle in Angst versetzen. Aber wir lassen sie das Ziel nicht erreichen“, ist Nosikov zuversichtlich. 

Dabei fühlt sich die Gemeinde auch nicht von Stadt, Polizei und Staat allein gelassen. „Sie machen alles, um uns ein Sicherheitsgefühl zu geben. 110 Prozent Sicherheit bei allem, was mit der Gemeinde zu tun hat.“ Daher will die Gemeinde sich auch nicht einschüchtern lassen und wird nicht auf ihre öffentliche Chanukka-Feier am Phoenixsee anlässlich des Jüdischen Lichterfestes verzichten.

 „Wer sich jetzt nicht solidarisch zeigt und Ausflüchte sucht, braucht nicht zu kommen“

Nach dem Entzünden der ersten Kerze auf dem Platz der alten Synagoge wurde ein zweiter Leuchter auf dem Friedensplatz entzündet. Karsten Wickern | Nordstadtblogger

„Wir werden alles dafür tun, dass es stattfindet und die Kulturinsel voll sein wird. Wenn nicht jetzt, wann dann?“, fragt Geschäftsführer Leonid Chraga rhetorisch. „Wer sich jetzt nicht solidarisch zeigt und Ausflüchte sucht, braucht nicht zu kommen. Aber wir werden da sein und unser Fest durchführen. Natürlich werden wir wachsam sein. Aber es nicht stattfinden zu lassen, wäre ein Geschenk für die Hamas.“

Einen Vorgeschmack gab es bereits am Donnerstagabend, als zum Auftakt des Lichterfests zum zweiten Mal auf dem Vordach der Oper der Chanukka-Leuchter entzündet wurde. Somit ist die jüdische Gemeinde zumindest für einen Abend an den Platz der Alten Synagoge zurückgekehrt.

Das Lichterfest ist ein Fest der Freude – auch und gerade in schweren Zeiten. Karsten Wickern | Nordstadtblogger

Auch der Rabbiner hofft, dass es ein Umdenken in den westlichen Ländern gibt und Israel nicht länger an den Pranger gestellt wird: „Jeder Mensch, der in Frieden und Freiheit leben will, muss verstehen, dass der Krieg in Gaza den Weg für Antisemiten bereitet hat und den Hass legitimiert“, so Nosikov.

„Doch wenn man gegen Antisemitismus nichts macht, kommt das Problem auch zu ihnen. Heute sind es die Juden, morgen die Christen oder die LGBTI-Community. Oder die Frauen, die zu kurze Kleidung tragen“, mahnt der Rabbiner. „Es geht gegen unsere Werte. Das ist nur der erste Krieg, wenn nichts gegen den Hass gegen Juden getan wird. Das ist ein Krieg gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung.“ 

Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

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