„Stift 4.0 – Alles digital, oder was?“ – Ausbildungssysteme auf dem Prüfstand, um Hightech-Fachkräfte für morgen zu sichern

ExpertInnen für Industrie 4.0. V.l.n.r.: Volker Grigo, Ralf Marx, Heidemarie Schöpke, Heike Krämer, Martina Würker

Digitalisierung und zunehmende Vernetzung von Daten erzeugen Umbrüche in den Arbeitswelten. Berufsbilder und wirtschaftliche Interaktionsformen ändern sich. Ein Ausbildungssystem, das darauf nicht reagiert, wird irgendwann ohne Fachkräfte dastehen. Was also tun, hier in Dortmund, vor Ort? Wie wäre ein „Stift 4.0“ konkret vorstellbar? Eine Debatte darüber unter Fachleuten hat die Dortmunder Arbeitsagentur angeregt.

Angekommen in der Arbeitswelt 4.0 – Was bedeutet dies für die Ausbildung zur Fachkraft?

Blick auf die Ofendecke der Koksofenbatterie I. Der sogenannte Füllwagen fuhr zunächst unter den Kohlenturm und nahm dort die Kohle auf, um sie anschließend in die einzelnen Ofenkammern fallen zu lassen. Manuell wurden die Fülllöcher dann von den Kokern verschlossen und mit einer lehmartigen Masse abgedichtet. Foto: Archiv Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur, ca. 1992
Schwerindustrie im Ruhrgebiet, hier Kokerei Hansa. Bilder der Vergangenheit. Foto: Stiftung

Einst war die Dampfmaschine, dann folgte der mechanische Webstuhl. Und in ihrem Gefolge wütete der Manchester-Kapitalismus, mit Kinderarbeit bis zu 16 Stunden am Tag. Wird heute Industrie 1.0 genannt. – Irgendwann danach kam Charlie Chaplin dem Fordismus nicht wirklich in die Quere. Trotz dessen hässlicher wie freudloser Fließbänder, deren Produktivität wie Stumpfsinn eine Industrie 2.0 bezeichnete.

In den 70er Jahren dagegen begleiteten friedens- und naturorientierte Bewegungen die Entwicklung und sukzessive Einführung der Mikroelektronik in eine Industrie, die als 3.0 immer weniger mit Dino-Techniken Marke Manchester zu tun hat.

Der nächste Meilenstein in der Entwicklung von Produktivkräften scheint im 21. Jahrhundert dagegen in einen offenen Cyber-Raum digital-technologischer Prozesse zu führen, weltumspannend als globale Vernetzung, wo potentiell alle mit allen unterwegs sein können: 4.0 ist angesagt.

Industrie oder Arbeitswelten 4.0 sind in aller Munde. Was bedeutet die Digitalisierung und Vernetzung technologischer Prozesse für die Ausbildung in den Betrieben? Denn die sei immerhin neben dem Studium das entscheidende Agens zur Generierung von Fachkräften, so Martina Würker, Vorsitzende der Geschäftsführung der Arbeitsagentur Dortmund. Und an denen mangelt es bekanntlich.

Welche konkreten Herausforderungen gibt es in dem Dortmund des Strukturwandels?

Zum zweiten Mal haben Arbeitsagentur und Jobcenter eine Ausbildungsplatztour organisiert. Fotos: Michael Schneider/JC DO
Mit einem Verständnis auf dieser Digitalisierungsebene wird es in vielen Berufen nicht mehr getan sein. Foto: Michael Schneider/JC DO.

Eine große Spannbreite von Fragestellungen sei damit eröffnet, so die Arbeitsagentur-Chefin. Welche besonderen Kompetenzen benötigen Auszubildende wie AusbilderInnen vor dem Hintergrund der Digitalisierungsdynamik? Welche Auswirkungen hat die zunehmende Durchdringung einzelner Berufsfelder durch Kommunikations- und Informationstechnologie für das bisherige Ausbildungssystem?

Fakt ist: Von den immerhin 350 Ausbildungsberufen in der Bundesrepublik wurden in den letzten zwölf Jahren immerhin 200 novelliert, 80 neue kamen hinzu. Und in Dortmund wie der Region hat sich bekanntlich ein Strukturwandel von der klassischen Industrie hin zum – alternativ priorisierten – Dienstleistungssektor vollzogen, in dem Digitalisierungsprozesse besonders schnell greifen. Daher, so Würker, stelle sich die Frage, was in Dortmund passieren müsse, um den neuen Herausforderungen zu begegnen?

Aus diesem Grunde hat der diesjährige Business Talk der Arbeitsagentur Dortmund das schwierige Thema in den Fokus genommen. Um fachübergreifend Erfahrungen zu vermitteln und Ideen auszutauschen. – Aus der Forschungsperspektive erläutert Dr. Heike Krämer, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), die Näherungen an eine der hier imminenten Fragestellungen: Welche Auswirkungen hat 4.0 auf die „Fachkräftequalifikation und die Kompetenzen für die digitalisierte Arbeit von morgen“, so der Titel eines vom BIBB und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) getragenen Verbundprojektes.

Studie: Wie wirken Digitalisierungsprozesse auf Qualifikationsanforderungen in verschiedenen Berufen?

Berufsbezeichnungen, die es in nicht allzu ferner Zukunft vermutlich nicht mehr geben wird.
Berufsbezeichnungen, die es in nicht allzu ferner Zukunft vermutlich nicht mehr geben wird.

Die Forschungsinitiative untersucht an 14 ausgewählten Referenzberufen (wie etwa Fachkraft für Agrarservice, MediengestalterInnen in Digital und Print oder AnlagenmechanikerInnen für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik) systematisch den Einfluss fortschreitender Digitalisierung auf Arbeitsprozesse, Tätigkeiten und Qualifikationsbedarfe.

Ziel der Untersuchung ist es, quantitative und qualitative Auswirkungen von Digitalisierungs- und Vernetzungsprozessen auf berufsspezifische Qualifikationsanforderungen frühzeitig zu erkennen.

Gelingt dies, können wirtschafts- und bildungspolitische Handlungsempfehlungen ausgesprochen werden: zu Ausbildungsordnungen, zur Weiterbildung von AusbilderInnen und zur Bestimmung unerlässlicher medialer Kompetenzen von Auszubildenden.

Was jetzt schon deutlich sei, erklärt Krämer: Es verböten sich pauschale Antworten auf die Frage nach den Auswirkungen der Digitalisierung in den Berufen. Vielmehr seien einzelne Berufsgruppen differenziert zu betrachten, so die Expertin für Medienberufe vom BIBB. Denn Digitalisierung und Automatisierung griffen in einigen Berufszweigen wie etwa dem kaufmännischen deutlich schneller als in anderen.

Solange kein futuristischer Digi-Robo ein Waschbecken einbaut – geht ohne das Handwerk nichts

Die Dortmunder Kammer hat den Smartphone-Videowettbewerb „Mein Job ist mein Ding“ für Auszubildende gestartet.
Wird auch morgen noch gebraucht: das Handwerk, mit oder ohne Smartphone.

Ralf Marx, stv. Kreishandwerksmeister der Kreishandwerkerschaft Dortmund/Lünen, und Leiter eines Unternehmens aus dem Bereich Sanitär- und Heizungstechnik, kann dies aus der Praxis bestätigen. Am Handwerk, erklärt Marx, ginge die Digitalisierung zwar nicht vorbei, wenn etwa mit dem Kunden abgerechnet, etwas geplant oder eine Anlage partiell digital gesteuert würde.

Allein, die Umsetzung der Arbeiten sei eben ohne die HandwerkerInnen, die das Waschbecken montierten, nicht möglich. Daher blieben in diesem Berufsbereich klassische Weisen der Arbeitsorganisation wie etwa die Qualifikationshierarchie von Lehrlingen, GesellInnen hin zu den MeisterInnen – bis auf Weiteres – notwendig erhalten. Von wegen „Stift 4.0“. Meint: Bis die Robotik keine selbstständig arbeitenden Einheiten präsentiert, die im Badezimmer die gewünschten Vorrichtungen anbringen können, bleibt hier alles beim Alten.

Aktuell bestünde dagegen für das Handwerk ein dringlicheres Problem darin, so Marx, qualifizierten Nachwuchs auszubilden. Wer wirklich gut sei, ginge nämlich später ins Studium. Gesucht würde daher sozusagen „der gute Monteur, der keinen Bock hat, zu lernen“, pointiert der Handwerksmeister mit leicht ironischem, fast resigniertem Unterton.

Martina Würker differenziert: Es gäbe ein gesellschaftliches Commitment im Umgang mit solchen Jugendlichen, die beispielsweise Lese- oder Schreibschwächen hätten. Hier böten die neuen Techniken vielleicht eine Chance, diese deshalb nicht vom Arbeitsleben auszuschließen. Indem sie beispielsweise etwas über eine App ins Smartphone sprächen, statt zu schreiben.

Fortschreitende Digitalisierung wird die Arbeitswelten von Grund auf und umkehrungslos verändern

Anlagen, Vernetzung, Supra-Informationen.

Nichtsdestotrotz: Komplexer werdende Systeme, deren Implementierung kaum auf politischen Widerstand stoßen dürfte, müssen verstanden und auf verschiedenen Ebenen gesteuert werden; dafür braucht es Fachpersonal. Und es geht nicht nur um die Einführung neuer Technologien oder Geräte, wie Volker Grigo, Leiter Vocational Training thyssenkrupp Steel Europe AG, hervorhebt.

Sondern die Wirkung verdigitalisierter und vernetzter Betriebsabläufe verändert diese nicht nur selbst, sondern diffundiert weiter in die Bestandstiefe des etablierten Wirtschaftens: Sie brächten ein grundsätzlich neues Geflecht an Beziehungen hervor, neue Interaktionsbedingungen, Kommunikationswege und Kollaborationsformen, prognostiziert Grigo.

Ein Aspekt dessen: Tradierte Berufsbilder verschwänden zugunsten fachübergreifender Kompetenzerwartungen. Damit aber seien bislang in vielen Sparten eher unterbewertete Erwerbsverläufe, erklärt der thyssenkrupp-Ausbildungsleiter, nämlich solche mit Brüchen, für Arbeitgeber weitaus interessanter geworden. Mit anderen Worten: StudienabbrecherInnen mit queren Folgebiographien dürfen sich auch in grundständigen Wirtschaftszweigen wieder Hoffnungen machen. Und den Taxiführerschein vorerst in die Schublade legen.

Prognose bis 2025: Es werden soviel Arbeitsplätze verloren gehen, wie neu hinzukommen – 1,5 Millionen

Je qualifizierter eine Tätigkeit, desto weniger kann digitalisiert werden. Quelle: IAB

Heidemarie Schöpke, Ausbildungsleiterin beim Dortmunder Pumpenhersteller WILO SE, sieht die Herausforderungen der Zukunft unter anderem darin, dass durch die Veränderung und Optimierung von Arbeitsprozessen bestimmte Bereiche durch neue Technologien ersetzt würden, sich aber zugleich neue Berufszweige eröffneten.

Anders ausgedrückt: Digitalisierung wird Menschen freisetzen, anderen wiederum eine Chance zur Berufstätigkeit mit neuen Tätigkeitsbeschreibungen bieten.

Was kommt bei dem Quid-pro-quo heraus? Die Chefin der Dortmunder Arbeitsagentur hat Zahlen. Sie verweist auf eine Schätzung aus dem Jahre 2016, die jetzt in einem Kurzbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) von April 2018 zitiert wird (S. 10).

Danach würde es in einer sich weiter digitalisierenden Arbeitswelt bis 2025 1,5 Millionen Arbeitsplätze nicht mehr geben, gleichzeitig aber etwa genauso viele entstehen.

Substituierbarkeitspotential von Berufen: Je höher die Anforderungen, desto mehr Mensch braucht‘s

Substituierungspotential von Berufen IAB 2015 - 2
Das Substituierungspotential von Berufen. Quelle: IAB

Basis solcher Prognosen sind Überlegungen und Analysen zum Substituierbarkeitspotential von Berufen, d.h. zu dem Anteil von berufsspezifischen Tätigkeiten, die heute potentiell digital ersetzt werden könnten (s.u. die Links zu den beiden IAB-Berichten).

Mit solchen Studien kann auch ein stabiler Zusammenhang zwischen den Anforderungen in einem Beruf und quasi dessen Gefährdungspotential hergestellt werden.

Und zwar ein Zusammenhang, der vielleicht beruhigen mag, weil er zeigt, dass Menschen dort, wo das Anforderungsprofil an ihre Tätigkeit hoch ist, weitaus schwieriger durch Digitalisierung zu ersetzen sind. Konkret: Je höher die Ansprüche an einen Beruf, gemessen an formalen Qualifikationsvoraussetzungen, desto eher versagen die Algorithmen.

Und: die Zunahme des Substituierungspotententials qua Digitalisierung wird mit steigenden Anforderungen kleiner. Heißt, vereinfacht: Je anspruchsvoller eine Tätigkeit ist, desto langsamer können Teilhandlungen durch einen Computer ersetzt werden.

Auch bei dessen Ausbau zu einem selbstreferentiellen System, weil ganzheitliche Erfahrungsfähigkeiten nicht nur über immer mehr Verbindungen zwischen immer mehr Datenvolumina erlernbar sind. Es gibt offenbar besondere menschliche Fähigkeiten, an denen die intelligentesten Programme scheitern, weil sie schlicht blind sind.

Weitere Informationen:

  • IAB-Forschungsbericht: Folgen der Digitalisierung für die Arbeitswelt. Substituierbarkeitspotenziale von Berufen in Deutschland, 11/2015, hier
  • IAB-Kurzbericht zur Substituierbarkeit von Berufen, April 2018, hier
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