Der sechste Verhandlungstag im Fall Mouhamed Lamine Dramé:

Neue Erkenntnisse zu tödlichem Polizeieinsatz – Zivilbeamte als Zeugen vor dem Landgericht

Der sechste Verhandlungstag im Fall des getöteten Mouhamed Lamine Dramé vor dem Landgericht Dortmund. Foto: Karsten Wickern

Zum ersten Mal sagten am heutigen Verhandlungstag Polizeibeamte im Prozess gegen ihre eigenen Kolleg:innen im Fall des getöteten sechzehnjährigen Senegalesen Mouhamed Lamine Dramé aus. Die geladenen Zeugen waren als zivile Einsatzkräfte vor Ort und sollten aufklärend wirken. Sie sagten aus, keine vorherige Ankündigung der eingesetzten Mittel wahrgenommen zu haben.

Zeugen schilderten strukturiert den Tathergang vom 8. August 2022

Nacheinander sagten zwei Beamte der Wache Nord, die am Einsatzgeschehen als zivile Kräfte beteiligt waren, vor dem Dortmunder Landgericht als Zeugen aus. Beide schilderten den Tathergang aus ihrer Perspektive. Die Aussagen der Polizisten waren ausgesprochen gut strukturiert und ausführlich. Hinzu kam die Tatsache, dass der Vorsitzende Richter Thomas Kelm erstmals die Beweismittel auf einem großen Monitor zeigte, was das Tatgeschehen aus Sicht der Beamten nachvollziehbarer für die Öffentlichkeit machte. ___STEADY_PAYWALL___

Auch die Nebenkläger Sidy (2.v.l.) und Lasanna Dramé (r.) nahmen am Prozesstag teil. Foto: Karsten Wickern

Die beiden Zivilpolizisten waren am 8. August 2022 im Keuning-Park an der Leopoldstraße auf Fahrrädern eingesetzt mit dem Ziel, gegen die dortige Drogenkriminalität vorzugehen. Am Nachmittag seien sie von der Dienstgruppenleiterin zum späteren Tatort in der Holsteiner Straße beordert worden, um Aufklärungsarbeit zu leisten. Dort angekommen sollten sich die Beamten erst einmal einen Überblick über die Örtlichkeiten verschaffen und feststellen, wo genau sich der 16-Jährige Mouhamed Lamine Dramé aufhielt.

Die Beamten gaben an, zunächst den Innenhof der Jugendpflegeeinrichtung durch den großen Torbogen betreten und eine Zeugin in ein Gespräch verwickelt zu haben. Gleichzeitig hätten sie wahrgenommen, dass zwei Personen vor der Nische am Kirchenschiff augenscheinlich auf eine weitere Person einredeten, die für sie jedoch nicht einsehbar war. Die beiden Personen – mutmaßlich Betreuer:innen der Wohngruppe – seien sodann zu ihnen gekommen und hätten angegeben, dass ein Jugendlicher in der Nische säße, ein großes Küchenmesser auf den Bauch gerichtet, womöglich mit suizidalen Absichten. Sie erklärten zudem, dass der Geflüchtete kein Deutsch verstehe, aber wahrscheinlich Spanisch und Französisch spreche.

Zivilpolizist begab sich in das unmittelbare Umfeld des späteren Opfers

Ein weiterer Kollege sei dann erstmals in einem großen Bogen zu dem geparkten Fahrzeug der Pflegeeinrichtung gegangen, um Einsicht zu erlangen, berichtete der erste Zeuge. Auch dieser habe Mouhamed Lamine Dramé vornübergebeugt, mit einem Küchenmesser in der linken Hand, das er gegen seinen Bauch richtete, vorgefunden. Auf seine „Hey!“-Rufe, Winken und Pfiffe habe der Jugendliche nicht reagiert.

Hinter dem Zaun befindet sich der Tatort auf dem Kirchengelände in der Holsteiner Straße. Foto: Paulina Bermúdez

Also näherte sich der Zivilbeamte dem Jugendlichen, der sich in einer psychischen Ausnahmesituation befand. Der Zeuge gab an, Mouhamed zunächst auf Spanisch angesprochen zu haben. Er fragte unter anderem: „Hola hablas español?“ (z.D.: „Hallo, sprichst du Spanisch?“) und „Estás bien?“ (z.D.: „Geht es dir gut?“). Der 16-Jährige habe aber keinerlei Reaktion auf die Ansprache gezeigt, habe weiterhin abwesend auf einen Fleck am Boden gestarrt.

Also entschied sich der Zivilbeamte, den Standort zu wechseln und näher an Mouhamed Lamine Dramé heranzutreten, um Sichtkontakt herzustellen. So habe er eine Position schräg vor ihm eingenommen, habe dort einige wenige Minuten verweilt. Doch der Jugendliche reagierte weiterhin nicht, er habe sich ratlos gefühlt, sagte der Zeuge. Die Stimme des Polizisten zittert ein wenig, er spannt die Kiefermuskeln sichtlich an. Auch die angeklagte Beamtin, die das „Distanzelektroimpulsgerät“ („Taser“) eingesetzt haben soll, ringt immer wieder mit sich, sie blinzelt die Tränen weg.

Einsatz von Reizgas soll die statische Situation erst dynamisch gemacht haben

Vergangene Woche hatte eine Betreuerin der Jugendwohngruppe ausgesagt. Sie berichtete, dass Mouhamed Lamine Dramé kurz zuvor, als ihn ein Sozialarbeiter mithilfe einer Übersetzer-App ansprach, durchaus eine Regung gezeigt habe und das Messer leicht senkte. Sie äußerte, die Ansprache durch den Zivilbeamten sei „zu kurz“ gewesen.

Für die Brüder des Getöteten sind die Schilderungen des Tathergangs nur schwer erträglich. Foto: Karsten Wickern

Noch während sich der Zivilbeamte in der Nische unweit des Jugendlichen befand, habe er wahrgenommen, dass die Anordnung erfolgte, das Reizgas einzusetzen. Sein Kollege habe ihm dann zugerufen, er solle sich zurückziehen. Als er sich hinter dem Einsatzleiter einordnete, sei das Großpfefferspray eingesetzt worden, das sich über dem Kopf des Opfers ergoss. Es folgte ein kurzer Moment der Stille, doch dann habe Mouhamed Lamine Dramé aufgeschaut – in Richtung der Beamtin, die das Pfefferspray eingesetzt hatte.

„Zügig“ sei Dramé daraufhin in Richtung der Beamt:innen gegangen, wobei der Zeuge nur den Kopf des Opfers für einen kurzen Moment hinter dem geparkten Auto der Einrichtung sehen konnte. „Dann konnte ich Knallgeräusche wahrnehmen“, sagte der Zeuge. Den Schützen habe er erst nach der Schussabgabe wahrgenommen, dieser habe sich zu dem Zeitpunkt rund acht Meter von dem Opfer entfernt befunden. Bäuchlings sei Mouhamed Lamine Dramé auf Höhe des geparkten Autos auf den Boden gefallen. Der Einsatzleiter und sein Kollege in Zivil hätten versucht ihn zu fixieren.

Der mutmaßlich suizidale Jugendliche soll sich „quasi“ in einer „Sackgasse“ befunden haben

Der Zivilbeamte erklärte auf Nachfrage der Nebenklage, dass die „stabile“, statische Lage sich erst verändert habe, als das Reizgas das Opfer traf. Normalerweise erhoffe man sich von dem Einsatz des Pfeffersprays, dass die getroffene Person sich darauf konzentriere und abgelenkt sei, wodurch dann eine Festnahme erfolgen könne, so der Polizist.

Richter Thomas Kelm leitet den Prozess. Foto: Karsten Wickern

Der Verteidiger des Schützen fragte den Zeugen nach den örtlichen Gegebenheiten. Zu klären schien, ob Mouhamed Lamine Dramé eine andere Fluchtmöglichkeit, als die an den Beamt:innen vorbei, gehabt hätte. Die Bilder des Tatorts zeigten, dass die rechteckige Nische an zwei angrenzenden Seiten von der hohen Kirchenmauer umgeben ist. Die andere lange Seite ist ein hoher Zaun mit stählernen Spitzen.

Die einzige Auswegmöglichkeit stellt die vierte Seite – die Öffnung zum Innenhof – dar, wo sich mutmaßlich aber die Polizeibeamt:innen befanden. „Wie eine Sackgasse?“, fragte Richter Kelm. Der Zeuge entgegnete: „Quasi.“

Wie bedrohlich war Mouhamed? Zeuge kehrte dem Jugendlichen beim Weggehen den Rücken zu

Rechtsanwältin Lisa Grüter und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes vertreten die Familie Dramé. Foto: Karsten Wickern

Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes, der gemeinsam mit Rechtsanwältin Lisa Grüter die Familie Dramé vertritt, wies auf die empfohlene Distanz zu mit Messern bewaffneten Menschen hin, die Polizist:innen in der Ausbildung erlernen. Dieser Abstand von sieben Metern solle eingehalten werden, da innerhalb des Radius‘ unter Umständen keine Eigensicherung mehr erfolgen könne.

Der Polizeibeamte erklärte, sich auf Augenhöhe Dramés begeben zu haben, als er sich vor ihm befand. „Sie geben doch jegliche polizeilichen Möglichkeiten auf, sich selbst zu schützen, wenn sie sich vorn herüber beugen,“ stellte Rechtsanwältin Grüter in Bezug auf die Frage der Bedrohlichkeit Dramés fest.

Nicht das konkrete Verhalten des Jugendlichen sei bedrohlich gewesen, sondern der Umstand, dass er ein Messer in der Hand hielt, so der Polizist. Er ergänzte, primär sei die Eigengefährdung – die Bedrohung Dramés für sich selbst – gewesen.

Staatsanwältin Gülkiz Yazir fragte weiter, wie sich der Zivilbeamte nach dem Versuch der Blickkontaktaufnahme von dem Jugendlichen entfernt habe. Dieser erwiderte, Dramé beim Gehen den Rücken zugewandt zu haben. Außerdem fragte die Staatsanwältin den Zeugen mehrfach, ob er mit einer der angeklagten Personen liiert gewesen sei. Der Polizist verneinte dies.

Zweiter Zivilbeamter diente als Sicherung für seinen Kollegen, der Dramé auf Spanisch ansprach

Der zweite Zivilbeamte erklärte, sich den Einsatz lang zwischen dem geparkten Auto und der Kirchenmauer aufgehalten zu haben – gleich um die Ecke hockte Dramé, er konnte in einem kurzen Moment seinen Schuh sehen. Während sein Kollege einen Ansprechversuch wagte, habe er die Hand an der Waffe gehabt, um im Zweifelsfall einzuschreiten, denn seine Hauptfunktion sei es gewesen, den Kollegen abzusichern.

Mouhamed Lamine Dramé wurde 16 Jahre alt.

Dann sei der Pfefferspray-Einsatz erfolgt. Mouhamed Lamine Dramé habe sich „schnell“ aus der Nische heraus bewegt, währenddessen habe auch er lediglich Sicht auf den Kopf und die Schultern gehabt. Dann habe er „mehrere Knallgeräusche“ gehört und den Einsatz eines „Tasers“ gesehen. Als der Geschädigte zu Boden fiel, sei auch er dorthin geeilt, um dem Einsatzleiter bei der Fixierung zu helfen. Dieser habe kurzzeitig auf der Schulter des Opfers gekniet, da Dramé Gegenwehr geleistet habe.

Erst dann habe der Zeuge realisiert, dass der 16-Jährige von mehreren Schüssen getroffen worden war – er konnte den Streifschuss am Ellenbogen und die Wunde im Gesicht sehen. Er berichtete, zu dem Zeitpunkt nicht gewusst zu haben, wo sich das Messer befand, weshalb die Beamten den Niedergeschossenen nach der Fixierung bewegten. Das Küchenmesser lag unter Mouhamed Lamine Dramé. Der Zeuge erzählte zudem, dass der Jugendliche auch auf der Trage und im Rettungswagen erheblichen Widerstand geleistet habe.

Das von fünf Kugeln getroffene Opfer soll sich gegen die polizeiliche Festnahme gewehrt haben

Oberstaatsanwalt Carsten Dombert fragte, ob Mouhamed Lamine Dramé Widerstand gegen die Vollstreckungsbeamt:innen geleistet habe. „Im Prinzip war das eine Widerstandshandlung, gleichzeitig war es aber undefinierbar“, antwortete der Zeuge. Der Jugendliche habe versucht sich aufzurichten, die Arme und Füße wild bewegt und dabei „ungezielt“ gewirkt.

Oberstaatsanwalt Carsten Dombert und Staatsanwältin Gülkiz Yazir. Foto: Karsten Wickern

Dombert warf ein, dass dies geschehen sein könnte, weil Dramé kurz zuvor von fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole getroffen wurde und unter Schmerzen litt. Der Zeuge erwiderte: „Ja, es ist denkbar, dass er in der Situation Schmerzen hatte. Für uns war die Hauptproblematik, dass wir nicht wussten, wo das Messer ist.“

Polizeiwissenschaftler Feltes fragte, ob es sich seiner Meinung nach um einen gelungenen Einsatz handele. „Es ist schwierig, von einem gelungenen Einsatz zu sprechen, wenn eine Person dabei stirbt“, bewertete der Zeuge. Allerdings sei das Ziel gewesen, die Gefahr abzuwenden, und niemand sei durch das Küchenmesser verletzt worden.

Die Zeugen sagten aus, die Einsatzmittel seien zuvor nicht angekündigt worden

Feltes fragte zudem, ob er irgendeine Kenntnis darüber hatte, wie lange sich der Senegalese bereits in der Nische befand, dies verneinte der Zeuge. Der Polizeiwissenschaftler merkte an, dass wenn jemand bereits mehrere Stunden dort sitze, es sich ja keinesfalls um eine akute Gefahr handeln könne.

Erstmals äußerten sich Kollegen der Angeklagten vor Gericht. Foto: Karsten Wickern

„SEK, Verhandlungsgruppe oder ein Dolmetscher. Wenn ich sie richtig verstanden habe, war in der Situation nach ihrer Wahrnehmung all dies keine Option, weil die zeitliche Komponente im Vordergrund stand?“, fragte Verteidiger Lars Brögeler. Der Zeuge bejahte die Frage.

Beide Polizisten sagten aus, der Einsatzleiter habe den Einsatz des Pfeffersprays angeordnet. Beide nahmen „Knallgeräusche“ in unterschiedlichen Tonlagen war, merkten aber erst später, dass Dramé von Schüssen getroffen worden war.

Vor dem Einsatz aller polizeilichen Mittel hätten sie keine Ankündigung wahrgenommen, so die Zivilbeamten. Dieser Umstand könnte von strafrechtlicher Relevanz sein, da dann beispielsweise der Einsatz des Pfeffersprays ohne vorherige Ankündigung oder einen vorangegangen Angriff Dramés rechtswidrig gewesen wäre.


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