Jury in Verlegenheit: Kann der Nelly-Sachs-Preis 2019 der Stadt Dortmund an eine Israel-Kritikerin gehen?

Der Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund geht an die Autorin Kamila Shamsie.  Foto: Mark Pringle/ Berlin Verlag
Der Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund sollte an die Autorin Kamila Shamsie gehen. Foto: Mark Pringle (Berlin Verlag)

Die pakistanisch-britische Autorin Kamila Shamsie soll(te) in diesem Jahr den Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund erhalten. Dies hatte eine prominent besetzte Jury am 6. September 2019 entschieden. Doch sie würdigte „nur“ das Werk der Autorin, nicht ihr anderes Wirken in der Öffentlichkeit. In der Vergangenheit hat sie die israelkritische Kampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) unterstützt. Daher soll die Preisvergabe nun überdacht werden.

Die Autorin hat auf Nachfrage ihre Unterstützung für den BDS bekräftigt

„In der Vorbereitung der Jury ergaben sich keinerlei Hinweise auf Aussagen, die mit BDS in Verbindung stehen“, teilt die Stadt auf Nachfrage mit, die erst durch die Kritik an der Entscheidung über diese Seite der Autorin erfuhr. Die Autorin hat auf Nachfrage der Stadt mittlerweile persönlich Stellung bezogen und ihre Unterstützung für BDS bekräftigt. Die BDS-Kampagne hat das Ziel, Israel wirtschaftlich, politisch und kulturell zu isolieren.

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Die neunköpfige Jury des Nelly-Sachs-Preises wird vor dem Hintergrund dieser veränderten Ausgangs- und Informationslage in den nächsten Tagen erneut zusammentreten, um ihre Entscheidung im Rahmen eines satzungsgemäßen Verfahrens überdenken, so die Stadt in einer knappen Reaktion auf die massive Kritik.

Der Nelly-Sachs-Preis ist mit 15.000 Euro dotiert. In Anlehnung an den Geburtstag der in Berlin geborenen jüdischen Autorin Nelly Sachs soll(te) der Preis am 8. Dezember 2019 in einem Festakt im Dortmunder Rathaus verliehen werden. Kamila Shamsie hatte die Nachricht erfreut entgegengenommen und beabsichtigt, zur Verleihung nach Dortmund zu kommen.

Die PreisträgerInnen sollen für Toleranz, Respekt und Versöhnung stehen

Der jüdisch-israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld (mi.) erhielt 2005 den Nelly-Sachs-Preis von OB Dr. Gerd Langemeyer überreicht - im Beisein des Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel (re.)
Der jüdisch-israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld (mi.) erhielt 2005 den Nelly-Sachs-Preis von OB Dr. Gerd Langemeyer überreicht – im Beisein des Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel (re.)

Ob es jetzt dazu kommt, ist mehr als fraglich. Es ist davon auszugehen, dass die Jury ihre Entscheidung revidiert.

Denn mit dem nach Nelly Sachs benannten Literaturpreis ehrt und fördert die Stadt Dortmund alle zwei Jahre Persönlichkeiten, die herausragende schöpferische Leistungen auf dem Gebiet des literarischen und geistigen Lebens hervorbringen und zur Verbesserung der kulturellen Beziehungen zwischen den Völkern beitragen.

Erste Preisträgerin war 1961 die Namensgeberin Nelly Sachs. Später ging der Preis u.a. an Nadine Gordimer (1985), Milan Kundera (1987), Christa Wolf (1999), Per Olov Enquist (2003), Aharon Appelfeld (2005), Rafik Schami (2007), Abbas Khider (2013) und Marie N’Diaye (2015). Der Preis wird seit 2015 alternierend an Männer und Frauen vergeben.

„Die Preisträgerinnen und Preisträger stehen für Toleranz, Respekt und Versöhnung und leben diese Werte in einer globalisierten Gesellschaft, in der sie sich für ein friedliches Zusammenleben einsetzen“, hieß es in der ursprünglichen Mitteilung zur Preisverleihung. Auf eine bekennende BDS-Unterstützerin passt diese Charakterisierung jedoch nicht.

Widerspruch zur „Grundsatzerklärung des Netzwerks zur Bekämpfung von Antisemitismus in Dortmund“

Gregor Lange, Ullrich Sierau und Klaus Wegener unterzeichneten im Beisein von Rabbiner Baruch Babaev die Erklärung.
Gregor Lange, Ullrich Sierau und Klaus Wegener unterzeichneten im Beisein von Rabbiner Baruch Babaev die Erklärung. Fotos (2): Alex Völkel

Zudem hatte sich der Rat der Stadt Dortmund im Februar 2019 klar positioniert und eine „Grundsatzerklärung des Netzwerks zur Bekämpfung von Antisemitismus in Dortmund“ beschlossen.

Darin heißt es u.a., dass „(…) Organisationen, Vereine und Personen, die etwa (…) zu antijüdischen oder antiisraelischen Boykotten aufrufen, diese unterstützen oder entsprechende Propaganda verbreiten (z.B. die Kampagne „Boycott – Divestment – Sanctions [BDS]“ keine Räumlichkeiten oder Flächen zur Verfügung gestellt werden“.

Mit den Veranstaltungsabsagen beim Evangelischen Kirchentag in Dortmund im Juni 2019 und den Ereignissen bei der Ruhrtriennale 2018 geraten die Aufrufe zu einem kulturellen Boykott Israels und einem angemessenen Umgang mit dessen BefürworterInnen auch in NRW verstärkt in den Blick. Der Nelly-Sachs-Preis eröffnet eine weitere Dimension und rückt das Thema in Dortmund auf die Agenda.

Der im Juli 2005 erfolgte „Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft zu Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS)“ gilt für das „Netzwerk zur Bekämpfung von Antisemitismus in Dortmund“ als zentraler Referenzpunkt für die derzeit aktivste anti-israelische Kampagne.

„Antisemitismus im 21. Jahrhundert & die Israel-Boykottkampagnen“ als Vortragsthema

„Die dort festgeschriebenen Forderungen stellen in ihrer Konsequenz die Existenz des jüdischen Staates in Frage. BDS wirbt für umfassende akademische, kulturelle und wirtschaftliche Boykotte, sowie für eine Dämonisierung und politische Isolation Israels. Im Zusammenhang mit BDS-Aktionen kommt es immer wieder zu antisemitischer Gewalt in Wort und Tat gegen politische GegnerInnen und PassantInnen“, heißt es dazu vom Netzwerk.

Dies soll daher in einem Vortrag thematisiert werden: Ausgehend von einer themenbezogenen Einführung in aktuelle Formen der Judenfeindschaft soll der Vortrag die Geschichte, Aktionsformen und Strategien der Boykott-Kampagnen sowie deren Aktivitäten im deutschsprachigen Raum beleuchten.

„Zentral soll der Frage nachgegangen werden, weshalb eine auf hetzerische Rhetorik und ‚moralische‘ Erpressung setzende Kampagne vor allem im linken politischen und zivilgesellschaftlichen Spektrum sowie im Kulturbetrieb in Westeuropa auf Sympathien stößt – und was wir dagegen tun können“, heißt es in der Einladung.

Referenten sind Sebastian Mohr, Politikwissenschaftler und Mitarbeiter des Internationalen Instituts für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung in Berlin und Florian Hessel (Hamburg) ist Sozialwissenschaftler und Gründungsmitglied von Bagrut e.V.

Der Vortrag findet am 7. November 2019 um 18.30 Uhr in der Auslandsgesellschaft (Steinstraße 48 | 44147 Dortmund, Großer Saal) statt.


Hinweis des Veranstalters:

Der Eintritt zu den Veranstaltungen ist frei. Die Veranstaltenden behalten sich vor, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und Personen, die rechtsextremen Parteien oder Organisationen angehören, der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit durch rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige menschenverachtende Äußerungen in Erscheinung getreten sind, den Zutritt zur Veranstaltung zu verwehren oder von dieser auszuschließen.

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Reaktionen

  1. Stadt Dortmund (Pressemitteilung)

    Kein Nelly-Sachs-Preis in diesem Jahr: Jury zieht ihre Entscheidung für Kamila Shamsie zurück

    Die Stadt Dortmund wird ihren Literaturpreis, den Nelly-Sachs-Preis, in diesem Jahr nicht vergeben. In einer Sitzung am Wochenende entschied die achtköpfige Jury, ihre am 6. September getroffene Entscheidung über die Preisvergabe an die Autorin Kamila Shamsie zu revidieren. Gleichzeitig wurde beschlossen, für das Jahr 2019 keine andere Preisträgerin zu benennen. Damit wird der Nelly-Sachs-Preis erst wieder im Jahr 2021 vergeben.

    Die Jury des Nelly-Sachs-Preises nimmt dazu wie folgt Stellung:

    „Mit Ihrem Votum für die britische Schriftstellerin Kamila Shamsie als Trägerin des Nelly-Sachs-Preises 2019 hat die Jury das herausragende literarische Werk der Autorin gewürdigt. Zu diesem Zeitpunkt war den Mitgliedern der Jury trotz vorheriger Recherche nicht bekannt, dass sich die Autorin seit 2014 an den Boykottmaßnahmen gegen die israelische Regierung wegen deren Palästinapolitik beteiligt hat und weiter beteiligt.

    Der § 1 der Satzung des Nelly-Sachs-Preises bestimmt, dass auch ,Leben und Wirken‘ einer Persönlichkeit bei einer Juryentscheidung einzubeziehen sind. Aufgrund der bekannt gewordenen Sachverhalte über die Autorin Kamila Shamsie trat die Jury am 14. September nochmals zur Beratung zusammen.

    Die Jury fasste den Beschluss, ihr ursprüngliches Votum aufzuheben und die Preisvergabe an Kamila Shamsie zurückzunehmen. Die politische Positionierung von Kamila Shamsie, sich aktiv am Kulturboykott als Bestandteil der BDS-Kampagne (Boykott-Deinvestitionen-Sanktionen) gegen die israelische Regierung zu beteiligen, steht im deutlichen Widerspruch zu den Satzungszielen der Preisvergabe und zum Geist des Nelly-Sachs-Preises.

    Mit dem kulturellen Boykott werden keine Grenzen überwunden, sondern er trifft die gesamte Gesellschaft Israels ungeachtet ihrer tatsächlichen politischen und kulturellen Heterogenität. Auch das Werk von Kamila Shamsie wird auf diese Weise der israelischen Bevölkerung vorenthalten. Dies steht insgesamt im Gegensatz zum Anspruch des Nelly-Sachs-Preises, Versöhnung unter den Völkern und Kulturen zu verkünden und vorzuleben.

    Die Jury bedauert die eingetretene Situation in jeder Hinsicht.“

  2. Nelly-Sachs-Preisträger Per Olov Enquist gestorben (Pressemitteilung Kulturburo Dortmund)

    Nelly-Sachs-Preisträger Per Olov Enquist gestorben

    Der international geschätzte Schriftsteller Per Olov Enquist ist am vergangenen Samstag im Alter von 85 Jahren im schwedischen Vaxholm gestorben. Er war 2003 in Dortmund mit dem Nelly-Sachs-Preis, dem Literaturpreis der Stadt Dortmund, ausgezeichnet worden.

    „Per Olov Enquist gehörte zu den bedeutendsten Schriftstellern Skandinaviens, aber er war ein europäischer Schriftsteller. Wir sind froh, dass wir die Gelegenheit hatten, ihn auszuzeichnen“, sagt Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann.

    In der Jury-Begründung hieß es damals, Enquist sein „als Erzähler, Dramatiker und Essayist ein subtiler Kritiker der Moderne – aus dem Geiste der Aufklärung trotz aller Aufklärungs-Skepsis“. Seine Romane, deren Stoffe sich oft der jüngeren, auch selbst erlebten schwedischen Geschichte verdanken, entdeckten in der strengen, pietistischen nordischen Hinterwelt Modelle zum Begreifen der Gegenwart, verzichteten aber auf alle einfachen Erklärungen. Seine Liebe als Erzähler gehöre den gebrochenen Biografien, den zwielichtigen Figuren, den scheiternden Utopisten, in deren Namen er trotz allem festhält an den Menschheitsträumen von gesellschaftlicher Gerechtigkeit und individuellem Glück.

    Per Olov Enquist wurde 1934 in Nordschweden geboren. Nach seinem Studium der Literaturwissenschaften arbeitete er zunächst als Journalist und Feuilleton-Kolumnist. Für seine literarische Arbeit erhielt er neben dem Nelly-Sachs-Preis zahlreiche weitere Auszeichnungen, darunter den Deutschen Bücherpreis für internationale Belletristik (2002) und den österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (2009). Er schrieb Romane und Erzählungen, Theaterstücke und Essays, aber auch Kinderbücher und Drehbücher. Zu seinen bekanntesten Romanen zählt „Der Besuch des Leibarztes“ (2001).

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