Zwei Beratungsstellen mit drei Berater:innen für ganz NRW zuständig

„Faire Integration“ kämpft gegen prekäre Beschäftigung, Ausbeutung und Menschenhandel

Zu Gast bei „Faire Integration“ (v.li.): Aydogan Gül, Volkan Baran, Christiane Tenbensel und Mousa Othman.
Besuch bei „Faire Integration“ (v.li.): Aydogan Gül, Volkan Baran, Christiane Tenbensel und Mousa Othman. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Entwickelt sich Deutschland immer mehr zu einem Land des prekären Arbeitsmarktes für internationale Arbeitnehmer:innen? Die Antwort der Beschäftigten des Projekt „Faire Integration“ fällt eindeutig aus. Die Erfahrungen der gewerkschaftsnahen Beratungsstruktur zeigen: Es gibt erheblichen Nachbesserungsbedarf: Leiharbeit, Kündigung, ausbleibende Lohnzahlung, falsche Abrechnung oder fehlende Anmeldung bei der Sozialversicherung sind nur einige der Probleme, mit denen die Berater:innen konfrontiert werden.

Beratungsstellen von „Faire Integration“ sind in allen Bundesländer vertreten

Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Migration und Integration sind prägende Faktoren unserer Gesellschaft. Aber auch der Umgang und die politische Gestaltung davon, wie die internationalen Arbeitnehmer:innen hier in Deutschland ankommen, wie sie angeworben werden und wie hier mit ihnen umgegangen wird, ist prägend für unsere Gesellschaft. ___STEADY_PAYWALL___

Gerechte Bezahlung, Einhaltung von gesetzlich vorgeschriebenem Mindestlohn, Arbeits- und Ruhezeiten sowie schlicht die Anmeldung bei der Sozialversicherung, all das sollte selbstverständlich sein, ist es aber nicht. Davon konnte sich auch der Dortmunder SPD-Landtagsabgeordnete Volkan Baran beim Besuch der Dortmunder Einrichtung von „Faire Integration“ im DGB-Haus ein Bild machen.

Die Beratungsstellen von „Faire Integration“ sind in allen 16 Bundesländer vertreten. Das Beratungsangebot umfasst arbeits- und sozialrechtliche Fragestellungen, die direkt mit dem Beschäftigungsverhältnis zusammenhängen, z.B.: Lohn, Arbeitszeit, Urlaub, Kündigung, Krankenversicherung usw.. Die Beratung ist kostenlos, kann anonym stattfinden und wird in verschiedenen Sprachen angeboten.

„Deutschland entwickelt sich immer mehr zu einem Land des prekären Arbeitsmarktes“

Christiane Tenbensel, Mousa Othman und Aydogan Gül bieten in zwei Beratungsstellen in Nordrhein-Westfalen kostenlose, arbeitsrechtliche Beratung für Arbeitnehmer:innen aus Drittstaaten an. Sie bilden quasi die Ergänzung zur Beratungsstelle „Faire Mobilität“ für EU-Bürger:innen. Sie haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen – sie ziehen sich durch alle Branchen, wenn es auch Konzentrationen im Bereich Pflege und Paketzustellung gibt.

Aydogan Gül ist Fachberater bei „Faire Integration".
Aydogan Gül ist Fachberater bei „Faire Integration“. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

„Deutschland entwickelt sich immer mehr zu einem Land des prekären Arbeitsmarktes für internationale Arbeitnehmer“, fasst Aydogan Gül die Erfahrungen der Beratungsstelle zusammen. Seine Kollegin Christiane Tenbensel wird konkret: „Von 2019 bis 2021 hatte das Projekt ca. 2.000 Beratungsfälle in NRW. Aber viele, die unsere Hilfe benötigen, finden den Weg in die Beratung noch nicht.“

Dabei stehen die Berater:innen eigentlich vor unlösbaren Problemen: Zu dritt sind sie im Prinzip für hunderttausende Beschäftigte zuständig. Die Probleme und Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert werden, sind vielfältig: Drittstaatler:innen – also Menschen von außerhalb der EU – die schon lange hier leben sind ebenso Hilfesuchende wie Geflüchtete und Asylsuchende, erklärt Mousa Othman. 

Prekäre und zutiefst menschenverachtende Arbeitsbedingungen sowie Ausbeutung

Beratungen und Infomaterial gibt es bei „Faire Integration“ in vielen Sprachen.
Beratungen und Infomaterial gibt es bei „Faire Integration“ in vielen Sprachen. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Der Grund für die Hilfe ist höchst unterschiedlich: Manche werden unentgeltlich aufgrund unklarer vertraglicher Regelungen und Ansprüche, andere wegen Sprachbarrieren oder anderer kultureller Dinge beraten. Es geht um Ausbildung und Leiharbeit, Saisontätigkeiten, Sozialversicherungspflicht, Studium und Aufenthaltsstatus. 

Das klingt nach einem Kampf mit der deutschen Bürokratie. Aber es geht auch mitunter um prekäre und zutiefst menschenverachtende Arbeitsbedingungen, Ausbeutung und mitunter sogar Menschenhandel. Dabei geht es nicht (nur) um Sexarbeit. Auch und gerade in der (24-Stunden-) Pflege ist das offenbar ein immer größeres Thema. 

Zudem sind die Arbeitsbedingungen auch in anderen Branchen – zum Beispiel in Nagelstudios, Gastronomie und bei Logistikfahrer:innen – ein massives Problem. Daher haben die Berater:innen eine eigene Kampagne für Beschäftigte bei Amazon-Subunternehmen aufgelegt. Das Motto: „Auch bei Amazon hast du Rechte!“

Ziel ist, Betroffene zu stärken, dass sie ihre Rechte und Ansprüche einfordern

Beratungen und Infomaterial gibt es bei „Faire Integration“ in vielen Sprachen.
Beratungen und Infomaterial gibt es bei „Faire Integration“ in vielen Sprachen. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Ihr Ziel ist es (nicht nur), die Bedingungen zu skandalisieren, sondern die Betroffenen zu informieren und zu stärken, dass sie sich ihrer Rechte und Ansprüche bewusst sind und diese dann auch aktiv einfordern.  „Arbeits- und sozialrechtliche Fragestellungen sind unser Thema und die Beratung ist kostenlos“, erklärt Berater Aydogan Gül. 

„Wir versuchen, Konflikte und Fragestellungen außergerichtlich zu klären. Wenn das nicht gelingt, dann helfen wir auch bei der Suche und Auswahl von Rechtsanwälten“, so Gül. Zumeist geht es um Geltendmachung von Ansprüchen und Leistungen. 

Es geht dann um nicht oder vollständig gezahlte Löhne, Urlaubsgeld und Überstunden, aber auch um Abmahnungen und Kündigungen. „Wir geben Informationen, was man machen kann, wir helfen auch praktisch und manchmal begleiten wir auch. Vieles machen wir präventiv, bevor die Probleme bestehen“, erklärt der Berater von „Faire Integration Dortmund“.

Nicht nur Ungelernte, sondern auch Fachkräfte sind von Ausbeutung betroffen

Mousa Othman ist Fachberater bei „Faire Integration".
Mousa Othman ist Fachberater bei „Faire Integration“. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Oft sind es Werkverträge oder die Auseinandersetzung mit ausländischen Subunternehmen oder Verleihern, die in Deutschland für namhafte Unternehmen arbeiten. Oft leben sie in Unternehmensunterkünften. Dann sind Konflikte über die Abrechnung von Fahrten, Kost und Logis vorprogrammiert. Aber auch Haftungsfragen sind Themen. 

Dabei geht es nicht nur um Un- und Angelernte, auch Fachkräfte wie Ingenieure sind betroffen. In manchen Unternehmen geht es um hunderte Beschäftigte, die teils über Monate nur mit Taschengeld abgespeist würden. 

„Aus Angst oder Schüchternheit haben sie sich nicht getraut, ihr Geld einzufordern“, verdeutlicht Berater Mousa Othman. Oder sie bekommen nur einen Teil in Deutschland ausgezahlt, weil der Hauptteil erst im Heimatland ausgezahlt werden soll. Oder sie warten ganz auf ihr Geld, weil nur Vorschüsse ausgezahlt wurden. Auf die Hauptzahlungen warten nicht wenige vergeblich.

Die Beraterinnen erleben untragbare Zustände im deutschen Pflegebereich

Christiane Tenbensel ist Fachberaterin bei „Faire Integration".
Christiane Tenbensel ist Fachberaterin bei „Faire Integration“. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

„Manche Sachen konnte man skandalisieren. Wir haben das auch im Rahmen von Pflege gemacht. Aber wenn der Ratsuchende es nicht will, sind uns die Hände gebunden. Außer bei Schwarzarbeit und anderen strafrechtlichen Dingen“, verdeutlicht Beraterin Christiane Tenbensel.

„Wir können dann auch den Zolll anonym kontaktieren, damit das nicht auf Betroffene zurückfällt. Politische Tätigkeit ist uns aber nicht erlaubt, aber wir könnten die Gewerkschaften einschalten. Aber da sind wir auf dünnem Eis“, so die Fachberaterin für den Pflegebereich.

Sie hat viele untragbare Zustände im deutschen Pflegebereich erlebt, wo ausländische Beschäftigte unter menschenunwürdigen Bedingungen leben und arbeiten mussten, wo der Arbeitgeber Zugang zur Wohnung hatte, die Post kontrollierte oder auch darüber entschied, ob die Beschäftigten medizinische Hilfe in Anspruch nehmen durften.

„Dabei sind die Arbeitsbedingungen so schlecht, dass viele krank werden“

Zu Gast bei „Faire Integration“ (v.li.): Aydogan Gül, Volkan Baran, Christiane Tenbensel und Mousa Othman.
Besuch bei „Faire Integration“ (v.li.): Aydogan Gül, Volkan Baran, Christiane Tenbensel und Mousa Othman. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Zudem sind viele Beschäftigte in Abhängigkeitsverhältnissen, weil sie sich für den Arbeitseinsatz in Deutschland in der Heimat oder bei den Arbeitsvermittlern verschuldet haben. Sie würden bewusst verschuldet – dabei geht es mitunter um fünfstellige Beträge, die  sie zurückzahlen müssen, wenn sie vorzeitig aussteigen. 

„Dabei sind die Arbeitsbedingungen so schlecht, dass viele krank werden. Andere Arbeitgeber halten sich nicht an Absprachen. Das ist wie Sklaverei“, macht Tenbensel deutlich. Oft handelt es sich dabei um eine Tätigkeit in der Pflege, wo die ausländischen Beschäftigten mitunter 24-Stunden-Schichten machen müssten, ohne qualifiziert worden zu sein. Die Beraterin vergleicht manche Zustände mit Menschenhandel. 

Der SPD-Landtagsabgeordnete Volkan Baran zeigte sich sichtlich bewegt: „Als Gewerkschafter weiß ich natürlich um die Probleme, aber es schockiert mich, das so geballt zu hören. Die arbeitsrechtlichen Vorgaben sind in Deutschland sehr gut, es hapert aber bei der Durchsetzung.“ 

Baran: „Wir sind den internationalen Fachkräften Respekt und Schutz schuldig“

Der SPD-Landtagsabgeordnete Volkan Baran fordert mehr Schutz ein.
Der SPD-Landtagsabgeordnete Volkan Baran fordert mehr Schutz ein. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

„Wir brauchen stärkere Kontrollen und mehr Aufmerksamkeit und Stellen für Projekte wie Faire Integration und Support Faire Integration, damit mehr Menschen Hilfe bei der Durchsetzung ihrer Rechte erhalten. Es kann nicht sein, dass der Mindestlohn nicht gezahlt wird, Urlaubstage und Ruhezeiten ignoriert und nicht rechtssichere Knebelverträge abgeschlossen werden“, ärgert sich Baran. 

Besonders im Bereich der Anwerbeagenturen für internationale Fachkräfte brauche es verpflichtende Kriterien, die es für Einreisewillige transparent machen, ob es sich um ein seriöses Angebot handele oder nicht. Aktuell gibt es keine Vorgaben, wer eine Agentur eröffnen darf, weshalb viele unseriöse Bewerber auf dem Markt sind.  

„Wir sind in Deutschland auf internationale Fachkräfte angewiesen, um unseren Bedarf zu decken. Deshalb sind wir ihnen Respekt und Schutz schuldig“, so der SPD-Landtagsabgeordnete.

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