Dortmund nach Bergbau und Stahl – Stipendium für Judith Kuckart als „Stadtbeschreiberin“ des Strukturwandels

Dortmund wächst und prosperiert - so sieht es zumindest die Stadtspitze.
Dortmund wächst und prosperiert, so sieht es die Stadtspitze. Doch da war doch was? – Fragen für die neue Stadtbeschreiberin.

Sie hat als Kind teils in Dortmund-Hörde gelebt. Unter schwierigen Verhältnissen, wie sie heute sagt. Und: „Es war eine sehr schmutzige und sehr schöne Kindheit.“ – Judith Kuckart ist Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“. Der merkwürdig klingende Begriff zeugt von einer Idee: da soll niemand aus dem Rathaus heraus die Pflichten von Chronist*innen erfüllen, so wie an einem Hofe. Sondern die Stipendiatin begibt sich – in der Praxis literarisch-künstlerischen Ausdrucks – auf Spurensuche. Wühlt mit ihren vielfältigen Mitteln gleichsam im unübersehbaren Stoff wohlgelittener „Transformation des Urbanen“: in einer „typischen“ Industriestadt im Ruhrgebiet, der plötzlich jener Boden fehlte, auf dem sie einst wuchs – in Dortmund. Einer Stadt, hin zu nicht überall verdaulichen Tugenden aus der Not. In der Wissen, HighTech, Dienstleistungen und ihre Medien – Globalisierung und Digitalisierung – die neuen Götter sind. Mit welchen Folgen? Bei wem? Und wie? Konkret?

Idee zur Initiative entstand 2017 auf Tagung des Deutschen PEN-Zentrums in Dortmund

PENAls vor fast drei Jahren rund 200 Autor*innen des Deutschen PEN-Zentrums in Dortmund tagten, kam eine Idee auf. Zukünftig sollte vor Ort regelmäßig ein befristetes Stipendium für eine Stadtschreiberin oder einen Stadtschreiber vergeben werden. Für eine bestimmte Zeit wird die betreffende Person – des Wortes in deutscher Sprache zwingend mächtig – kostenlos in Dortmund zeitlich befristet wohnen und arbeiten.

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Neu war sie freilich nicht, die Idee. Schon 1974 gab es in der Bundesrepublik den ersten sog. Stadtschreiber als Literaturpreis in Bergen-Enkheim (später nach Frankfurt a.M. eingemeindet). Andere Städte folgten. 2017 schließlich wurde die Schriftstellerin Gila Lustiger für ein Jahr die erste der illustren Zunft im Ruhrgebiet.

Jetzt Dortmund. Oberbürgermeister Ullrich Sierau war seinerzeit vom Konzept angetan. Stellte Unterstützung in Aussicht, ohne zusagen zu können. Jedenfalls nur vorbehaltlich des obligatorischen Durchlaufs durch die kommunalen Polit-Gremien. – Am Ende kam statt Schreiber*in – wie in anderen Städten – ein Dortmunder Spezifikum heraus: mit dem/der „Beschreiber*in“. Die unter den Vorzeichen des allfälligen Strukturwandels wachsende Stadt hält eben was auf sich.

Beschreiben statt Schreiben – subtile Semantik mit Wissenschaften für sich im Gepäck

(v.l.:) Jörg Stüdemann, Isabel Pfarre (Kulturbüro, stellv.), Judith Kuckart, Hendrikje Spengler (Kulturbüro, Leitung), Bezirksbürgermeisterin Birgit Jörder, Hartmut Salmen (Literaturhaus). Foto: Thomas Engel

Tiefer historisch betrachtet, ist ein Stadt-Schreiber eine eher popelige Figur. Zwar relativ gebildet, sofern er literat ist (an Frauen, egal wie klug, war auf dem Posten eh nicht zu denken), verschriftlicht der gute Mann lediglich auf Anweisung, was andere sagen oder tun – oder schweigt pflichtbewusst. Ein Hofberichterstatter par excellence, letztlich der Mann’sche Untertan. Was blieb ihm auch anderes übrig?

Diese Rolle hat Dortmund seinen künftigen Stadtschreiber*innen offenbar nicht zugedacht. Und dies versuchen die kommunalen Spitzenakteure unter Einfügung der Silbe „be“ explizit kenntlich zu machen. Es resultiert eine über sechs Monate geförderte Person, die nicht einfach schreibt, sondern „beschreibt“, nämlich die Stadt. Hier in den Zeiten der Umwälzung, hin zum Neuen, um die Vergangenheit jenseits der Museen endgültig aus der Gegenwart zu verbannen.

Der semantische Kunstgriff kommt – wissenschaftstheoretisch betrachtet – allerdings etwas chimärisch rüber. Denn nur unter Zurückweisung neopositivistischer und anverwandter Prämissen tun sich in deskriptiven Aussagen versteckte normative Komponenten auf, um die es hier auch geht. Und doch wieder nicht. – Alles klar soweit? – „Man muss nicht für alle Leute schreiben“, sagt Judith Kuckart, die von der Jury unter Vorsitz von Bürgermeisterin Birgit Jörder schlussendlich auserkorene Erst-Stipendiatin.

Sprache formt Denken: sich selbst und die Welt durchs Schreiben erkennen – oder?

Die Autorin Judith Kuckart wird erste Stadtbeschreiberin in Dortmund. Foto: Burkhard Peter
Die Autorin Judith Kuckart, Berlin, März 2019 (Archiv)

Mit Wahrnehmungen beschäftige sie sich – die sie in eine Geschichte bringt, bedeutet sie anlässlich ihrer offiziellen Vorstellung im literaturhaus.dortmund am Neuen Graben. Da soll kein Thema sein, an dem sie sich abarbeitet – das wäre die Schreiberin für andere, Vorgegebenes erfüllend. Nein, sie sucht etwas, was sie im Schreiben selbst findet. Aus dieser Sicht (Linguistik: Sapir-Whorf) formt Sprache Denken und Erkenntnis – und nicht etwa das Denken die Sprache.

War da was mit Huhn und Ei? – Judith Kuckart weiß im Suchen um etwas, erklärt sie auf Nachfrage. Sicher: sonst hätte sie kein Suchmuster. Kann es freilich nicht konkret bestimmen, andernfalls hätte sie es ja bereits gefunden und bräuchte nicht weiter suchen.

Wichtig sei es, beim Schreiben nicht eine Meinung zu haben, ist ihr Punkt und zugleich Plazet für strukturell motivierte Offenheit. Sondern etwas sichtbar zu machen; Stichwort: Deskriptivität, einfach mal unbedarft hinschauen. Aber: „Und das ist eben immer auch eine politische Geschichte“, präsentiert die profilierte Autorin für’s allzu naive Gemüt das dicke Ende; Stichwort: Normativität. Die Dinge liegen quasi nie exklusiv unimodal vor, sondern wandeln widersprüchlich in Zwischentönen.

Judith Kuckart: vielfach ausgezeichnete Autorin, Tänzerin, Choreografin, Regisseurin

Kulturdezernent Jörg Stüdemann kann sich über das bevorstehende Debüt einer solchen Dortmunder Stadtbeschreiberin nur freuen – natürlich nicht allein, weil sie eine Frau sei. Wo der Literaturbereich häufig von Männern dominiert würde. Und ganz abgesehen davon, dass er als einsames Geschäft sowieso – im Gegensatz zu den örtlichen Kulturkollektiv-Veranstaltungen (Oper, Schauspiel etc.) – schlecht finanziert sei.

Sondern auch, weil die Wahl über die rein literarische Repräsentation hinausginge. Was wiederum an Judith Kuckart selbst liegt. Die Literatur-Stipendiatin ist eben nicht nur Autorin (zuletzt mit dem Roman „Kein Sturm, nur Wetter“, Juli 2019), sondern von Haus aus eigentlich gelernte Tänzerin. Und mehr.

Ausgebildet an der Folkwang-Schule in Essen, studiert sie später Literatur- und Theaterwissenschaft in Köln und Berlin, wirkt als Choreografin und Regisseurin, steht mithin für Performance. Und für Partizipation: Kunstschaffen durch und mit Menschen.

Der Stoff, aus dem Literatur entsteht: Begegnung realer Menschen wie Du und ich

Phoenix-See, Dortmund-Hörde. Quelle Wiki

Das zeugt von einem vielseitigen Handwerkszeug, mit dem sie sich auf besagte Suche begibt, im Ringen um Ausdruck, Geschichten erzählend, ihr je eigenes Aneinanderreihen von Perlen, akribisch gesichtet, vermitteln zu können.

Sie würde dabei nicht einsam um den Phoenix-See laufen, um dann mit Literarischem aufzuwarten. Nein, da gäbe es persönliche Kontakte in Hörde, die zu weiteren führten, bedeutet die Stipendiatin.

Diese Begegnungen bilden gleichsam den stofflichen Fundus vielbeschworener wie umstrittener Mimesis, hier: darstellender Hervorbringung im Werk. Sie funktioniert – frei nach Ernst Bloch – als Mäeutik: es ist Geburtshilfe für’s Noch-Nicht, was da unterschwellig in der Latenz dräut. Sich herausbildet durch Kommunikation, auch übers gesellschaftlich gesetzte No-Go hinweg. Abseits chicer Cafés am Phoenix-See etwa: auf den Treppenstufen nebenan. Usf.

Was macht der Strukturwandel mit den Menschen in Dortmund?

Es geht in dem Stadtbeschreibungsprojekt um die Umwälzungen in Dortmund. Einer Stadt, die groß wurde mit der Montanindustrie, vor allem durch Bergbau und Stahlerzeugung. Mit einem schmerzhaften, aber unumgänglichen Strukturwandel, der die Kommune, die Intersubjektivität, die Menschen, ihre Gewohnheiten verändert, teils vergewaltigt hat.

Um die Brechung dessen durch Kunst, andere Sichtweisen, und überhaupt darum, Multiperspektivität – jenseits politischer Interessen oder empirischer Studien – greifbarer zu machen. Darum, die durch den Strukturwandel basalen, sozioökonomischen Veränderungen in ihren vielfältigen Erscheinungsformen einzufangen.

Bis hin zu den Weisen, wie sie einschlagen: in Biographien, Einstellungssystemen und Lebensentwürfen der in der Stadt lebenden Menschen, und je einzigartig. Dies wird den inhaltlichen Kern von Judith Kuckarts Schaffen als „Stadtbeschreiberin“ in den kommenden Monaten darstellen. Den Symptomen Ausdruck geben – in Wort und Gebärde, Performance oder Lesung: sie der Sinnhaftigkeit oder dem Abstrusen oder (was wahrscheinlicher ist) Zwischenwelten zu überantworten.

Statt Chronisten-Pflichten: gewollte Beförderung von vielfältigen Diskursen in einem Wahlkampfjahr

Verwaltungsvorstand der Stadt Dortmund, Stadtdirektor Jörg Stüdemann
Kulturdezernent Jörg Stüdemann. Foto: Klaus Hartmann (Archiv)

Geplant hat die geförderte Künstlerin von Mai bis Oktober so viel, dass einem angst und bange werden kann: vom Erzähltheater in Dortmund-Hörde, einer Romanidee mit einem essentiellen Erzählstrang vor Ort, über eine Art Tagebuch – halb fremd, halb erinnernd – bis zur Zusammenarbeit mit Dortmunder Schulen – nach dem Motto: Schock Deine Eltern nicht nur, indem Du liest, sondern auch schreibst (nämlich einen sog. Schulhausroman).

Zumal, wie Kulturdezernent Jörg Stüdemann betont: es steht ein aufregendes Jahr bevor. Im Herbst wird in der Kommune gewählt, allerlei Debatten sind zu erwarten. Der künstlerisch-literarische Reflex übers Geschehen soll hier befruchtend wirken, eine „Wachheit für Diskurse“ schaffen.

Aus all diesen Gründen erwartet die Stadt nicht etwa die Arbeit einer Chronistin. Jörg Stüdemann stellt klar: „Das soll nicht verstanden werden, als gäbe es hier Auftragsarbeiten zu erledigen, sondern [es ist] eigentlich der Wunsch, sich mit den Transformationen und Veränderungen unseres städtischen Lebens … auseinanderzusetzen.“

„Es werden nicht jeden Abend die Gedichte aus dem Stall gekehrt“

Wie Judith Kuckart dies konkret anstellt, bleibt infolgedessen ihr überlassen. Darüber sind sich alle einig. Das Stipendium (1.800 Euro monatlich = oberstes Drittel in der Bundesrepublik) sei nicht damit verbunden, dass hinterher etwas abgenommen würde, ergänzt Stüdemann konsequent. Heißt: Niemand wird antreten und gemachte Hausaufgaben vorweisen müssen.

Denn, so gibt er zu verstehen: in dem Projekt, da werden gebildete Leute am Werk sein, die sich ausgewiesen haben. Denen dergleichen Fesseln anzulegen, ist in den Augen des Stadtdirektors und Kämmerers schlicht unangemessen. – Es wird in der Stadtspitze nicht nur nicht nach Effektivitäts- oder gar Effizienzkriterien gemessen. Überhaupt wird so nicht gemessen werden. Solcherlei Rechnungen funktionieren hier nicht. Punkt.

„Es werden nicht jeden Abend die Gedichte aus dem Stall gekehrt“, sorgt Judith Kuckart gleichermaßen vor. Sie, die lange Jahre ihrer Kindheit in Hörde verbracht hat, bewirbt sich nach eigener Auskunft grundsätzlich um keine Stellen. Hat sie auch nicht nötig, siehe Veröffentlichungsliste. Nur, weil es Dortmund war – ja, da gab’s ’ne Ausnahme.

Weitere Informationen:

  • Zur Jury gehörten Bürgermeisterin Birgit Jörder (Vorsitz), PEN Deutschland-Generalsekretär Heinrich Peuckmann, Literaturkritikerin Dr. Karin Yesilada, Literaturkritikerin Andrea Gerk, Dr. Astrid Blome (für die Stadt- und Landesbibliothek Dortmund), Prof. Dr. Gerold Sedlmayr (TU Dortmund). Beisitzer ohne Stimmrecht waren Stadtdirektor Jörg Stüdemann, Autorin Ivette Vivien Kunkel (Literaturhaus Dortmund) sowie Isabel Pfarre (Kulturbüro der Stadt Dortmund). Der Kulturausschuss der Stadt hatte die Entscheidung der Jury in seiner Sitzung am 3. Dezember 2019 bestätigt.

 

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