NEUE SERIE: „Dortmund Rechtsaußen“ (Teil 1 von 10):

Die Geschichte des Neo-Nazismus in Dortmund 

Neonazi-Aufmarsch zum Nationalen Antikriegstag in Dorstfeld 2007 - einer der Anlässe für den Aktionsplan. Archivbild: Alex Völkel
Neonazi-Aufmarsch zum Nationalen Antikriegstag in Dortmund-Dorstfeld 2007. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

VORWORT bzw. Hintergrund zur Serie

Das Projekt „U-Turn – Wege aus dem Rechtsextremismus und der Gewalt“ hat sich zum Ziel gesetzt, all diejenigen zu unterstützen, die mit rechtsextremem Gedankengut konfrontiert sind. Das Projekt berät dabei einerseits Personen, welche die rechtsextreme Szene verlassen möchten und andererseits Jugendliche, die gefährdet sind sich der rechtsextremen Szene anzuschließen.

Darüber hinaus können Menschen, die in ihrem (Arbeits-) Alltag mit rechtsextremen Personen bzw. Gedankengut konfrontiert sind bzw. in deren Umfeld sich rechtsextreme Personen aufhalten, bei U-Turn Unterstützung erfahren. Zudem bietet das Team Workshops und Fortbildungen rund um das Thema Rechtsextremismus an, um (pädagogische) Fachkräfte im Umgang mit rechtsextremen oder rechtsaffinen Personen zu schulen.

Die Stadt Dortmund wurde in den letzten Jahrzehnten wiederholt mit rechtsextremen Gewalttaten konfrontiert, die zum Teil bis hin zum Mord führten. Daher ist neben der Beratungstätigkeit auch die Aufklärung über die Strukturen der rechtsextremen Szene notwendig und Teil des Schutzes prospektiver Opfer rechtsextremen Terrors. Aus diesem Grund informiert die vorliegende Broschüre, die wir auf nordstadtblogger.de als Serie veröffentlichen –  über Strukturen und aktuelle Entwicklungen des organisierten Neonazismus.

Die einzelnen Beiträge befassen sich mit der Geschichte des Rechtsextremismus in Dortmund, es werden Strategien der Szene vorgestellt und über die Verbindungen zum Kampfsport, dem RechtsRock-Milieu und der Hooliganszene aufgeklärt. Ein weiterer Artikel befasst sich mit strukturellen Voraussetzungen, die einen Sozialraum zu einem potenziellen Radikalisierungs-Hotspot für rechtsextreme Agitation machen können.

Die institutionelle Rechtsextremismus-Prävention kann sich indes nicht damit begnügen, sich lediglich mit offen neonazistischen Gruppierungen auseinanderzusetzen. In den Blick geraten sollten darüber hinaus auch diejenigen rechts- affinen Strömungen, die unter demokratischem Deckmantel rassistische und antisemitische Ressentiments verbreiten oder zumindest anschlussfähig für Menschen mit antidemokratischen Weltbildern sind.

In Dortmund gilt dies für das verschwörungsideologische Milieu rund um Querdenken sowie den Kreisverband der Alternative für Deutschland, deren Strukturen jeweils in einem Artikel betrachtet werden.


Die Geschichte des Neo-Nazismus in Dortmund (von 1982 bis heute)

Im Dezember 2020 wurde endgültig bestätigt, was bereits seit Monaten in Dortmund als Gerücht kursierte: Der Neonazi-Kader Michael Brück von der Partei Die Rechte verlässt das Ruhrgebiet in Richtung Chemnitz und tritt weder sein Ratsmandat noch seinen Sitz in der Bezirksvertretung Huckarde an. Die Entscheidung wurde vermutlich maßgeblich durch die Wahlschlappe bei der Kommunalwahl im selben Jahr beeinflusst.

Michael Brück (Die Rechte) redet im Rat - im Hintergrund die Bürgermeister*innen Manfred Sauer, Ullrich Sierau und Birgit Jörder.
Michael Brück (Die Rechte) redet im Rat – im Hintergrund die Bürgermeister*innen Manfred Sauer, Ullrich Sierau und Birgit Jörder. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Das Wahldesaster und der Umzug eines führenden Parteifunktionärs stellen allerdings lediglich Höhepunkte einer Reihe von Geschehnissen dar, die den stetigen Verfall einer lokalen Nazi-Struktur nahelegen, die gemeinhin als Hochburg des Rechtsextremismus in Westdeutschland gilt.

Bereits in den Monaten zuvor hatte die Partei ihr Nachrichtenportal eingestellt und eine Kameradschaft ihre Auflösung bekannt gegeben. Zudem setzten der örtlichen Neonazi-Szene zahlreiche Haftstrafen von führenden Aktivisten zu.  

Die skizzierten anhaltenden negativen Entwicklungen und Auflösungserscheinungen der Dortmunder Neonazi-Szene führten bereits bei einigen Beobachter_innen zu der optimistischen Einschätzung, ein allgemeiner Niedergang des Dortmunder Neonazismus sei nur noch eine Frage der Zeit. Ein Rückblick auf die letzten knapp 40 Jahre des organisierten Rechtsextremismus kann wichtige Hinweise dafür geben, inwiefern eine solche Prognose stichhaltig ist.

Die Borussenfront und die FAP (1982-1995)

Wenn über die Anfänge der Dortmunder Neonazi-Szene gesprochen wird, dann wird zumeist die Gründung der rechtsextremen Hooligan-Gruppe Borussenfront am Karfreitag 1982 als Ausgangspunkt genannt. Eng verknüpft mit den Namen Borussenfront ist der Name ihres Anführers Siegfried Borchardt, eine der Konstanten in der Dortmunder Neonazi-Szene von 1982 bis heute.

Auch der Gründer der Borussenfront, Siegfried "SS-Siggi" Borchardt, nahm teil.
„Keine Gewalt ist auch keine Lösung“ steht auf dem T-Shirt des Gründers der Borussenfront, Siegfried „SS-Siggi“ Borchardt. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Die Borussenfront war in ihrer Anfangszeit dafür gefürchtet, nach BVB-Heimspielen Hetzjagden auf türkischstämmige Personen und andere Minderheiten in der Nordstadt zu initiieren. Borchardt war allerdings nicht nur rassistischer Hooligan, sondern hatte durchaus politische Ambitionen.

Er war Mitglied in der 1983 verbotenen Aktionsfront Nationaler Sozialisten (ANS) sowie Kreisleiter des Komitees zur Vorbereitung der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag Adolf Hitlers (KAH). 

Nach dem Verbot der ANS trat er in die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) ein, einer bis dahin unbedeutenden Kleinstpartei in der Region Stuttgart, die ausgehend von dem ehemaligen ANS-Führer Michael Kühnen neonazistisch unterwandert wurde. Ab 1984 war Borchardt an der Gründung des Landesverbandes NRW der FAP beteiligt und kandidierte für die FAP bei den Kommunalwahlen, konnte allerdings kein Mandat erringen.

Das Logo der mittlerweile verbotenen „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei“ (FAP).
Das Logo der mittlerweile verbotenen „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei“ (FAP). Foto: Wikipedia/ gemeinfrei

Seiner politischen Karriere tat dies keinen Abbruch; ein Jahr später trat er als Spitzenkandidat der FAP zur Landtagswahl an und wurde 1988 schließlich zum Landesvorsitzenden Nordrhein-Westfalens sowie zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden der FAP ernannt.

Auch bei der Wahl zum Europaparlament 1989 wurde er als Kandidat aufgestellt. Dass die FAP bei all diesen Wahlen keine wirklichen Erfolge verbuchen konnte, spielte dabei nur eine nachrangige Rolle, denn die FAP hatte nicht die Absicht wirklich parlamentarisch tätig zu werden.

In erster Linie nutzten Kühnen und seine Kameraden den Parteienstatus, um nach dem Verbot der ANS weiterhin neonazistisch zu agieren. Sie propagierten, so der Rechtsextremismus-Experte Samuel Salzborn, einen „am Vorbild der SA angelehnten Kampf auf der Straße“ und hierfür waren die Hooligans um Borchardt bestens geeignet. Doch die stetige Gewalt gegen Minderheiten und politisch Andersdenkende wurde ihnen schließlich zum Verhängnis.

Borchardt musste in den 80ern und frühen 90ern mehrere, teils mehrjährige Haftstrafen aufgrund diverser Gewaltdelikte antreten, die FAP wurde 1995 als Vereinigung – nicht als Partei, da sie die gesetzlichen Kriterien hierfür letztlich nie erfüllt hatte – verboten. Doch trotz ihres letztendlichen Scheiterns war die FAP als Inspirationsquelle und Kaderschmiede für die weitere Entwicklung der Neonazi-Szene in Dortmund von herausragender Bedeutung. 

FAP-Verbot und das Kameradschafts-Modell (1995-2005)

Nach dem Verbot der FAP gründete Borchardt die Kameradschaft Dortmund. Das Organisationsmodell der Freien Kameradschaften wurde unter anderem von Christian Worch entwickelt und entstand Mitte der 1990er nach einer Zunahme von staatlichen Verboten und Repressionen gegenüber Neonazi-Vereinigungen.

Der Gedenkstein für von Neonazi Michael Berger ermordeten Polizisten Thomas Goretzky in Brackel. Foto: Marcus Arndt
Der Gedenkstein für von Neonazi Michael Berger ermordeten Polizisten Thomas Goretzky in Brackel. Foto: Marcus Arndtfür nordstadtblogger.de

Freie Kameradschaften verzichten deswegen auf jegliche Registrierung als Verein oder Partei und agieren als neonazistische Kleingruppen zumeist auf lokaler Ebene, auch wenn sie überregional vernetzt sind. Um die Dortmunder Kameradschaft war es Mitte bis Ende der 90er allerdings eher ruhig geworden.

Es hatte sich zwar in einer Kneipe in der Nordstadt eine neonazistische Anlaufstelle etabliert und es kam ab und an zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen politische Gegner, aber für größere Schlagzeilen konnte man vorerst nicht mehr sorgen.

Dies sollte sich schlagartig am 14. Juni 2000 ändern, als der Dortmunder Neonazi Michael Berger drei Polizisten ermordete und anschließend Suizid beging. Die Kameradschaft Dortmund bekannte sich zu dem Mörder und verteilte Aufkleber mit der Aufschrift „3:1 für Deutschland. Berger war ein Freund von uns!“. 

Mit Aufklebern wie diesen feierte die Neonazi-Szene die Morde ihre Kameraden. (Repro)
Mit Aufklebern wie diesen feierte die Neonazi-Szene die Morde ihre Kameraden. (Repro)

In den folgenden Jahren wurden größere lokale Demonstration häufig federführend von auswärtigen Neonazis organisiert, etwa durch den Norddeutschen Worch – die alten FAP- und ANS-Kontakte von Borchardt zahlten sich also weiterhin aus. Doch sukzessive drängten sich jüngere Kräfte auf, welche die alte Schule um Borchardt und Worch mit neuen Ideen und Stilformen beerbten.

Größere Demonstration sollten nun auch von Dortmunder Kadern wieder selbst organisiert werden. Die Zeit der Autonomen Nationalisten in Dortmund begann und Borchardt begrüßte sie mit offenen Armen. Die Kameradschaft Dortmund mündete so zunächst 2003 in den Autonomen Widerstand östliches Ruhrgebiet, der ab 2005 als Nationaler Widerstand Dortmund (NWDO) in Dorstfeld ein Zentrum des Rechtsextremismus in Westdeutschland etablierte. 

Die Autonomen Nationalisten des NWDO (2005-2012)

Autonome Nationalisten (AN) sind eine besondere Erscheinungsform von Kameradschaften, die sich ästhetisch an dem Stil von Antifa-Gruppierungen orientieren und in linken Milieus verbreitete Themen wie Anti-Kapitalismus, Anti-Imperialismus oder Veganismus in nationalsozialistischer Weise adaptieren.

Neonaziaufmarsch in Dortmund
Dennis Giemsch war einer der Autonomen Nationalisten der ersten Stunde in Dortmund. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Die Dortmunder Neonazis des NWDO waren durch ihren Kameradschaftsführer Dennis Giemsch autonome Nationalisten der ersten Stunde, da dieser bereits bei der Entwicklung des AN-Konzepts in Berlin mitwirkte und eine Reihe von Ideen aus der Hauptstadt ins Ruhrgebiet transferierte. Giemsch war zudem als Informatikstudent in der Lage, verschiedene web-basierte Projekte einzubringen, darunter einen neonazistischen Online-Versand (Resistore), einen Server sowie einen Webdienst. 

Dortmund wurde mehr und mehr zum Anziehungspunkt für autonome Nationalist_innen aus den umliegenden Städten, die nach Dorstfeld zogen und Wohngemeinschaften in der Hoffnung gründeten, eine national befreite Zone zu etablieren.

Dorstfeld sollte zu einem Stadtteil werden, in dem Neonazis das Sagen haben und der zugleich einen Rückzugs- und Mobilisierungsraum für neonazistische Kräfte und einen Angstraum für politische Gegner_innen darstellt. Außerdem mieteten Neonazis an der Rheinischen Straße ab Ende 2002 verschiedene Ladenlokale an, die als Treffpunkte fungierten und in denen rechtsextreme Kleidung und Musik erworben werden konnte.

Neonazi-Aufmarsch zum Nationalen Antikriegstag in Dorstfeld 2007 - einer der Anlässe für den Aktionsplan. Archivbild: Alex Völkel
Neonazi-Aufmarsch zum Nationalen Antikriegstag in Dorstfeld 2007. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Nicht unwesentlich zum Ruf der hiesigen Kameradschaftsszene als Hotspot des Rechtsextremismus in Westdeutschland trug zudem der ab 2005 jährlich ausgerichtete Nationale Antikriegstag bei. Die Aufmärsche „gegen imperialistische Kriegstreiberei und Aggressionskriege“ gehörten in Hochzeiten mit über tausend Teilnehmer_innen zu den größten rechtsextremen Veranstaltungen in Deutschland; es wurde bundesweit mobilisiert und es nahmen nationalistische Delegationen aus verschiedenen europäischen Ländern teil. 

Doch nicht nur auf infrastruktureller Ebene mit diversen Ladenlokalen und Nazi-Wohngemeinschaften sowie auf organisationaler Ebene durch unzählige (Groß-)Demonstrationen und Kundgebungen besaß die Dortmunder Neonazi-Szene Vorbildcharakter für rechtsextreme Akteur_innen im Ruhrgebiet und darüber hinaus, sondern ebenfalls durch eine Vielzahl von militanten Aktionen gegen politische Gegner_innen.

Dortmund war in dieser Zeit eine Hochburg der rechtsextremen Gewalt. Es wurden regelmäßig Migrant_innen gejagt und es kam häufig zu bewaffneten Übergriffen auf politisch Andersdenkende. Im Rahmen von Demonstrationen wurden antifaschistische Gegendemonstrant_innen angegriffen, es kam zu Sachbeschädigungen an den Parteibüros der Linken und der Grünen und es wurden unzähligen Gewalttatdelikten gegen Besucher_innen von alternativen Treffpunkten verübt.

"Kein Vergeben - Kein vergessen" ist das Motto der Antifa zur Erinnerung an die Ermordung von Thomas "Schmuddel" Schulz.
„Kein Vergeben – Kein vergessen“ ist das Motto der Antifa zur Erinnerung an die Ermordung von Thomas „Schmuddel“ Schulz.

Alleine die linke Szene-Kneipe Hirsch-Q wurde im Zeitraum von April 2006 bis Februar 2008 zum Ziel von zehn rechtsextremen Gewalttaten und Sachbeschädigungen. Auch in den Folgejahren kam es zu verheerenden Angriffen auf den Pub.

Im Dezember 2010 versuchten etwa ein Dutzend rechter Skinheads der Skinhead-Front Dorstfeld in die Kneipe einzudringen. Bei dem Übergriff traten sie einer am Boden liegenden Person mehrfach mit Springerstiefeln gegen den Kopf und eine_r der Täter_innen stach mit einem Messer in den Oberschenkel sowie in den Arm des Opfers.

Besonders vier Fälle von Gewalttaten durch Dortmunder Neonazis sorgten dabei für bundesweite Schlagzeilen. Am Ostermontag 2005 wurde der Punker Thomas Schulz von dem damals 17-jährigen Mitglied der Skindhead-Front Sven K. durch einen Messerstich ins Herz getötet.

Nach der tödlichen Messerattacke auf den Punker Thomas Schulz verbreiteten Neonazis Aufkleber mit dem Motto: Antifaschismus ist ein Ritt auf Messers Schneide. Archivbild: Völkel
Nach der tödlichen Messerattacke auf den Punker Thomas Schulz verbreiteten Neonazis Aufkleber mit dem Motto: Antifaschismus ist ein Ritt auf Messers Schneide. Archivbild: Völkel Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Wie bereits bei den Polizisten-Morden durch Berger huldigte die Neonazi-Szene dem Täter und verbreitete im Stadtgebiet Plakate mit der Aufschrift „Antifaschismus ist ein Ritt auf Messers Schneide“.

Auf ihrer Internetseite veröffentlichte sie ein Pamphlet, in dem sie sich angriffslustig zeigte und die Parole für die nächsten Jahre ausgab: „Die Machtfrage wurde gestellt und wurde für uns befriedigend beantwortet: Dortmund ist unsere Stadt!“.

Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße ermordet. Archivfoto: Alex Völkel
Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße ermordet. Archivfoto: Alex Völkel Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Ein Jahr später, am 4. April 2006, wurde Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk auf der Mallinckrodtstraße durch Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) aus rassistischen Motiven erschossen. Eine Verbindung zur Dortmunder Neonazi-Szene konnte im NSU-Prozess zwar nicht einwandfrei bewiesen werden, doch es gibt zahlreiche Indizien, die für eine heimliche Komplizenschaft sprechen. 

Im Jahr 2009 erschütterten schließlich zwei Meldungen die ganze Stadt: Am 1. Mai attackierten 300 bis 400 mit Steinen, Flaschen und Holzlatten bewaffnete Neonazis die Teilnehmer_innen einer Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in der Dortmunder Innenstadt. Unter dem gewalttätigen Neonazi-Mob, der von Kadern des Nationalen Widerstandes Dortmund angeführt wurde, befand sich auch Stephan Ernst, der geständige Mörder des früheren Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.

Im selben Jahr sorgte zudem für viel Aufsehen, dass die Familie E. nach monatelangem Terror aus Dorstfeld floh, nachdem sie sich couragiert gegen die dort wohnenden Neonazis engagiert hatten. Die Musikdozentin Barbara E. prangerte in der Öffentlichkeit deutlich an, sich im allseits geforderten Kampf gegen den Rechtsextremismus im Stich gelassen gefühlt zu haben. 

Mit dem Fall Familie E. hatte die Dortmunder Kameradschaftsszene ihren Anspruch untermauert: Dortmund sei ihre Stadt, Dorstfeld zumindest ihr Gebiet, und wer diesen Anspruch in Frage stelle, müsse mit Konsequenzen rechnen.

Das ehemalige Hauptquartier des Nationalen Widerstandes (Foto) ist endgültig Geschichte.
Das ehemalige Hauptquartier des Nationalen Widerstandes (Foto) ist endgültig Geschichte. Foto: Klaus Hartmann für Nordstadtblogger.de

Die Politik, die demokratische Zivilgesellschaft sowie die Polizeibehörden waren schon lange gefordert, den rechtsextremen Bestrebungen Einhalt zu gebieten.

Ein bedeutender Schlag gegen die rechtsextreme Szene schien schließlich durch das Verbot des NWDO im August 2012 durch das nordrhein-westfälische Innenministerium gelungen. Einhergehend mit dem Verbot durchsuchten Sicherheitskräfte verschiedene Treffpunkte und Wohnungen von Dortmunder Neonazis.

Bei der Razzia des Nationalen Zentrums an der Rheinischen Straße, das von 2009 bis 2012 als zentrale Anlaufstelle und Schulungs- und Versammlungsort der Dortmunder Nazis fungierte, wurden NS-Devotionalien, Propagandamaterial sowie 147 Waffen oder waffenähnliche Gegenstände gefunden.

Das Verbot beeinträchtigte die Neonazis allerdings nur kurz. Sie waren vorbereitet und so brauchten sie nicht lange, um sich neu zu strukturieren und ihre Aktivitäten wieder aufnehmen zu können.

NWDO-Verbot und Parteigründung: Die Rechte (ab 2012)

Wenige Monate vor dem NWDO-Verbot, im Mai 2012, wurde die Partei Die Rechte durch Christian Worch gegründet. Worch betrieb zu diesem Zeitpunkt bereits seit 35 Jahren neonazistische Politik. Er bewegte sich seit dem Ende der 1970er im Umfeld des mittlerweile verstorbenen Neonazi-Aktivisten Michael Kühnen, den er als seinen Führer bezeichnet.

Neonazi Christian Worch hat die Partei Die Rechte gegründet.
Neonazi Christian Worch hat die Partei Die Rechte gegründet. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Er war mit Borchardt und Kühnen in der Aktionsfront Nationaler Sozialisten aktiv und nach deren Verbot in der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP), zu deren stellvertretenden Vorsitzenden er zeitweise avancierte. Nach dem Verbot der FAP 1995 engagierte er sich schließlich als parteiungebundener Aktivist, wobei er insbesondere das von ihm und anderen propagierte Konzept der Freien Kameradschaften mit eigenen Aufmärschen und Aktionen prägte.

Mit der Parteigründung von Die Rechte strebte Worch eine Alternative zur NPD an, mit deren politischem Kurs er zu diesem Zeitpunkt nicht einverstanden war. Die Führungsriege der Partei bildeten hauptsächlich ehemalige Mitglieder der Deutschen Volksunion (DVU), die unzufrieden mit der Fusionierung ihrer Partei mit der NPD im Jahr zuvor waren und auf ein neues parlamentarisches Betätigungsfeld hofften.

Doch in den ersten Monaten sah wenig danach aus, dass die Partei ernsthaft in Konkurrenz zu der NPD um das rechtsextreme Wählerpotenzial treten können würde. Die Resonanz im neonazistischen Spektrum war verhalten und eine wirkliche Euphorie konnte die junge Partei nicht entfachen. Dies änderte sich erst, als das Innenministerium NRW die drei aktivsten Kameradschaften nach dem Vereinsgesetz verbot: neben dem NWDO auch die Kameradschaft Aachener Land sowie die Kameradschaft Hamm.

Nachdem die drei Kameradschaften aufgrund ihrer ‚Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus‘ verboten wurden, wurde der Landesverband NRW von Die Rechte gegründet und die autonomen Nationalisten wurden zu Parteimitgliedern. Die Partei fungierte dabei in erster Linie als Deckmantel für die Weiterführung der Strukturen und Aktivitäten der Kameradschaften.

Der Dortmunder Kreisverband

Im Oktober 2012 wurde der Kreisverband Dortmund gegründet, dem ein Großteil der ehemaligen Führungskader der Kameradschaften aus Dortmund und Hamm beigetreten sind. Der Dortmunder Kreisverband kristallisierte sich mehr und mehr als ideologisches Zentrum der gesamten Partei heraus und ist bis heute der mit Abstand aktivste von allen Kreisverbänden.

Neonaziaufmarsch in Dortmund
Neonaziaufmarsch im August 2013 in Dortmund. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Erster Vorsitzender wurde Siegfried Borchardt, der allerdings mehr als prominentes Maskottchen fungierte, wohingegen Stil und Auftreten der Partei von Beginn an eindeutig durch die ehemalige NWDO-Garde geprägt wurde. Bereits bei den ersten Demonstrationen zeigte sich, dass der Parteienstatus nur genutzt werden sollte, um weiterhin neonazistische Propaganda auf die Straße bringen zu können.

Bei einem Aufmarsch im Rahmen des Wahlkampfes vor der Bundestagswahl 2013 grölten die Demonstrierenden entsprechend die bekannten Sprechchöre: „Alles für Volk, Rasse und Nation“ oder „Nationaler Sozialismus jetzt“. Wer eine strategische Abmilderung nationalsozialistischer Äußerungen im Zuge der Konsolidierung der Partei erwartet hatte, wurde getäuscht. Die rechten Parteimitglieder traten selbstbewusst auf und bekannten sich freimütig zum Nationalsozialismus. Auf dem Fronttransparent der Demonstration war in Anspielung auf das 25-Punkte-Programm der NSDAP zu lesen: „25 Punkte gegen eure Verbote.“

Das magere Wahlergebnis bei der Bundestagswahl – keine 200 Stimmen in den beiden Wahlkreisen in Dortmund, nur 2245 Stimmen in ganz NRW – spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Der Antritt zur Wahl war ohnehin nur ein Mittel zu dem Zweck, den Parteienstatus zu festigen und einem erneuten Verbot keine Grundlage zu bieten. Bei der Kommunalwahl 2014 lief es zudem deutlich besser.

Der missglückte Sturm auf das Rathaus

"Mit einem Schlag ins Rathaus" - mit diesem Bild kündigte Siegfried Borchardt die Aktion quasi an
„Mit einem Schlag ins Rathaus“ – mit diesem Bild kündigte Siegfried Borchardt auf seiner Seite die Aktion quasi an. Foto: privat

Mit einem Schlag ins Rathaus“ – einige Tage vor der Kommunalwahl veröffentliche Siegfried Borchardt ein Bild mit einem Konterfei von sich und dieser Aufschrift auf Facebook. Die Rechte hatte im Vorfeld einen deutlich stärkeren Wahlkampf als noch zur Bundestagswahl geführt und konnte sich dieses Mal ernsthaft Hoffnungen auf einen prestigeträchtigen Wahlerfolg machen. Es wurde ein 25-Punkte-Programm veröffentlicht, welches zwar im Namen eine offen nationalsozialistische Andeutung enthielt, sich im Kern aber gemäßigter las, als gemeinhin erwartet werden konnte.

Neben dem Spitzenkandidaten Borchardt wurden u.a. die ehemaligen NWDO-Kader Giemsch und Brück für die Reserveliste aufgestellt, zudem wurde für alle 40 Wahlbezirke mindestens ein Kandidat gefunden. Inhaltliche Schwerpunkte im Wahlkampf und bei unzähligen Infoständen und Wahlkampfveranstaltungen stellten die Themen Migration sowie die Rechte „deutscher“ Familien und insbesondere „deutscher“ Kinder dar.

Mitglieder und Unterstützer der Partei „Die Rechte“ begleiteten ihren Ratsvertreter Siegfried Borchardt zum Rathaus.
Mit Polizeischutz kam Borchardt zur konstituierenden Ratssitzung 2014. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

In dieser Zeit beschränkte man sich vorwiegend auf das Verbreiten populistischer Forderungen. So wurde beispielsweise die These verbreitet, soziale und ökonomische Problemlagen wären ausschließlich ursächlich auf Zuwanderung zurückzuführen und nur durch konsequente Abschiebungen könnte es dem „deutschen Volk“ endlich wieder bessergehen.

Auf neonazistische Gewalt gegen Andersdenkende wurde in der Wahlkampf-Periode weitgehend verzichtet – man schien einen Wahlerfolg nicht unnötig durch staatliche Sanktionen gefährden zu wollen. 

Die pseudo-demokratische Fassade fiel schließlich am Wahlabend mit einem großen Knall. Die Partei konnte tatsächlich mit einem Prozent der Stimmen ein Mandat erringen, wobei dies lediglich eine Umverteilung des neonazistischen Wahlpotenzials darstellte – die im Wahlkampf konkurrierende NPD verlor nämlich genau dieses eine Prozent im Vergleich zur vorherigen Kommunalwahl, konnte aber zumindest noch einen Sitz im Rat gewinnen.

Neonazi-Ausschreitungen überschatteten im Mai 2014 den Wahlabend in Dortmund.
Neonazi-Ausschreitungen überschatteten im Mai 2014 den Wahlabend in Dortmund. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Trotzdem feierten die DR-Kader den Wahlerfolg frenetisch, indem sie einheitlich in gelben T-Shirts mit der Aufschrift „Weg mit dem NWDO-Verbot“ gekleidet von Dorstfeld zum Rathaus zogen. Dort hatte bereits die Wahlparty der demokratischen Parteien begonnen. Aufgeschreckt von dem martialischen Auftreten der teilweise angetrunkenen Neonazis, die immer wieder die Parole „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus“ skandierten, stellten sich Mandatsträger_innen verschiedener demokratischen Parteien couragiert dem grölenden Nazi-Mob entgegen.

 

Die Neonazis attackierten diese unmittelbar mit Schlägen, Flaschenwürfen und Pfefferspray und zeigten so ihre gewalttätige Fratze, die sie trotz wahltaktischer Zurückhaltung in den Monaten zuvor nie abgelegt hatten. Insgesamt wurden zehn Personen bei dem Angriff verletzt, u.a. wurde einem Ratsmitglied der Piraten aus nächster Nähe eine Flasche ins Gesicht geworfen und Abgeordnete der Grünen und der Piraten wurden mit gezielten Faustschlägen niedergestreckt.

Die Dortmunder Neonazis zeigten so direkt, was sie von den Spielregeln demokratischer, parlamentarischer Prozesse halten – und dennoch zogen sie mit einem Sitz in den Stadtrat ein.

Die Rechte im Dortmunder Stadtrat: 1. Legislaturperiode (2014-2020)

Im Rat zeichnet sich eine Zusammenarbeit von Axel Thieme (NPD) und Siegfried Borchardt (Die Rechte) ab.
Im Rat zeichnet sich eine Zusammenarbeit von Axel Thieme (NPD) und Siegfried Borchardt (Die Rechte) ab. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Der ehemalige Hooligan und Straßenaktivist Siegfried Borchardt saß nun also im Stadtrat – und das war so gar nicht seine Sache. Nach nur zwei Ratssitzungen legte er sein Amt wieder nieder, offiziell aus gesundheitlichen Gründen, und Dennis Giemsch rückte für ihn nach. Doch auch dieser wirkte eher gelangweilt und brachte sich wenig ein.

Der Parteienstatus war gesichert und darum ging es vordergründig bei der Wahl. Aber ernsthaft parlamentarische Arbeit zu leisten, darauf hatten beide nur bedingt Lust. Doch bereits in dieser Zeit zeichneten sich neben der Fortführung der Kameradschaftsaktivitäten im Schutz des Parteienprivilegs zwei weitere Funktionen ab, welche die Parteiarbeit für die Dortmunder Neonazi-Szene erfüllen konnte. 

Als eine wichtige Funktion der parlamentarischen Arbeit stellte sich die Finanzierung der rechtsextremen Szene durch die staatliche Teilfinanzierung von Parteien heraus. Eine Finanzspritze sollte die Szene durch die 42.000 Euro erhalten, die jeder Fraktion im Rat für Personal- und Sachkosten zustehen.

Der neue Ratsherr Dennis Giemsch von der Partei "Die Rechte". Ratssitzung Dortmund Oktober 2014
Der neue Ratsherr Dennis Giemsch von der Partei „Die Rechte“ in der Ratssitzung im Oktober 2014. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Da weder die NPD noch Die Rechte die notwendigen Sitze zur Bildung einer Fraktion erreichten, stellte man trotz aller Feindschaft im Wahlkampf einen Antrag auf Gruppenbildung. Dieser wurde zunächst zweimal abgelehnt, bis ihm schließlich im Februar 2016 von dem Oberverwaltungsgericht Münster doch stattgegeben wurde.

Zudem standen der Fraktion Räume im Rathaus für ihre parlamentarische Tätigkeit zu, wozu es allerdings nicht kam. Stattdessen bekam sie hierfür ersatzweise Geld, so dass die beiden Parteien insgesamt 45.000 Euro jährlich an Steuergeldern erhielten.

Ein weiterer Vorteil des Parteienstatus zeigte sich schnell darin, dass Aktivitäten von Parteien tendenziell eine größere Aufmerksamkeit erhalten als jene von Kameradschaften. Die Neonazis konnten so den Resonanzraum für ihre menschenfeindliche Propaganda durch gezielte Provokationen auf nationale und sogar auf internationale Ebene erweitern.

Bereits der versuchte Rathaussturm hatte so hohe Wellen geschlagen, dass die Europa-Chefkorrespondentin der New York Times die erste Stadtratssitzung besuchte und auf der Titelseite der internationalen Ausgabe über die Dortmunder Neonazi-Szene und Borchardt berichtete.

Borchardts Nachfolger versuchte sogleich an diesen zweifelhaften Erfolg anzuknüpfen und schaffte es tatsächlich mit einer Reihe von Anfragen im Rat international für Schlagzeilen zu sorgen. So stellte Giemsch in seiner kurzen Amtszeit Anfragen über die Anzahl der Menschen jüdischen Glaubens und der HIV-Erkrankten in Dortmund, sowie über die Adressen von engagierten Lokalpolitiker_innen. 

Michael Brück (Die Rechte)
Michael Brück (Die Rechte) Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Die Marschrichtung der Neonazi-Szene und ihrer Partei für die nächsten Jahre war somit gelegt: Weiterführung der Kameradschaftstätigkeit im Schutz des Parteienprivilegs, Finanzierung der Szene durch die Ratsfraktion und Generierung von Aufmerksamkeit durch Provokationen. Im Frühjahr 2015 übernahm schließlich Michael Brück das Mandat von Giemsch – der zweite Wechsel innerhalb eines Dreivierteljahres.

Und mit Brück übernahm zum ersten Mal jemand den Posten, der in der parlamentarischen Tätigkeit voll aufging und bis zum Ende der Legislaturperiode für personelle Kontinuität sorgte. In den folgenden Jahren wurden vor allem zwei Themen von den Neonazis bedient, die seit jeher charakteristisch für rechtsextreme Akteure sind: rassistische Verteidigung des „Vaterlandes“ vor allem „(Kultur-)Fremden“ und der Antisemitismus.

Rassismus & Verteidigung des „Vaterlandes“

Über alle rassistischen Aktionen der sehr aktiven Dortmunder Kameradschaftsszene in den letzten Jahren zu berichten, würde den Rahmen dieses Artikels weit überschreiten. Stattdessen soll exemplarisch die Strategie verdeutlicht werden, mit provokanten Aktionen spektakuläre, medial verwertbare Bilder zu erzeugen und so bundesweit für Schlagzeilen zu sorgen.

Der „Stadtschutz Dortmund“ ist der Polizei ein Dorn im Auge.
Der „Stadtschutz Dortmund“ ist der Polizei ein Dorn im Auge. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Wenige Monate nach dem Angriff auf die Mandatsträger_innen am Wahlabend im Rathaus gründete sich etwa der Stadtschutz Dortmund, der seinem Selbstverständnis nach „Ghettoisierungs“-Tendenzen und ansteigende Kriminalität im Zuge von Zuwanderung bekämpfen wollte. So patrouillierten Dortmunder Neonazis einige Male durch verschiedene Stadtteile, um angeblich „Deutsche“ vor Übergriffen durch Migrant_innen zu schützen und politische Gegner_innen einzuschüchtern.

Dabei trugen sie einheitlich die gelben „Weg mit dem NWDO“-Shirts und posierten so als rechtsextreme Bürgerwehr, die das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellt und das Recht selbst in die Hand nimmt. In Anlehnung an Hitlers braune Bataillone, die SA, und das Horst-Wessel-Lied, veröffentlichte DR Bilder der Aktion unter der Überschrift „Die Straße frei den gelben Bataillonen“.

Der Stadtschutz war letztlich nicht viel mehr als ein PR-Gag, erfüllte aber seinen Zweck: Die Neonazis hatten sich wieder bundesweit ins Gespräch gebracht und eines ihrer zentralen Narrative verbreitet, demzufolge Deutschland in dem Maße durch Einwanderung „überfremdet“ sei, dass „Deutsche“ sich in der Öffentlichkeit nicht mehr sicher fühlen könnten. Deswegen müssten sie sich nun selbst verteidigen.

Mit der Besetzungsaktion in der Reinoldikirche gelang ihnen ein PR-Coup. Aber die Aktion hatten sie geklaut. Bild: Marcus Arndt
Mit der Besetzungsaktion in der Reinoldikirche gelang ihnen ein PR-Coup. Aber die Aktion hatten sie geklaut. Bild: Marcus Arndt

Eine weitere Aktion, die das gleiche rassistische Narrativ der „Überfremdung“ bediente, war die kurzzeitige Besetzung der Reinoldikirche. Im Dezember 2016 entrollten etwa ein Dutzend rechter Aktivist_innen auf dem Kirchturm ein Banner mit der Aufschrift „Islamisierung stoppen“, zündeten Pyrotechnik und riefen entsprechende Parolen, während weitere Kameraden unten an die Besucher_innen des zu dieser Zeit stattfindenden Weihnachtsmarktes Flugblätter verteilten.

Offenkundig ging es hierbei nicht um eine emanzipatorische Kritik an bestimmten religiösen Praktiken oder Inhalten, sondern um eine pauschale Abwertung alles „Fremden“, vor dem Deutschland geschützt werden müsse. Entsprechend rief der langjährige Neonazi-Kader Sven Skoda in seiner Rede das Publikum des Weihnachtsmarktes dazu auf, „das Vaterland zu verteidigen“. 

Die beiden Aktionen sind Teil einer Reihe von Versuchen, Hass und Ressentiments gegen Migrant_innen zu schüren. Dabei werden diese pauschal als kriminell, sexuell übergriffig und aggressiv dargestellt.

Das Narrativ der Bedrohung der Heimat durch „kulturfremde Eindringlinge“ wurde dabei in den letzten Jahren durch unzählige Aktivitäten verbreitet: zahlreiche Kundgebungen und Infostände zur Verhinderung von Asylheimen, Propaganda über einen angeblichen „Angstraum Nordstadt“, in dem Deutschstämmige nachts nicht mehr die Straße betreten könnten ohne ausgeraubt zu werden, Pfefferspray-Verteilaktionen an „deutsche“ Frauen, damit diese sich vor sexuellen Übergriffen durch Geflüchtete schützen können, seitenweise Berichte über Kriminalität ausschließlich von „nicht-deutschen“ Täter_innen im Nachrichtenportal DortmundEcho.

Die Liste ließe sich endlos fortsetzen, doch die Funktion des Ressentiments wird bereits deutlich: Durch die Abwertung des Anderen, des Fremden, wird eine Binnenhomogenität und Identitätsstiftung des Eigenen konstruiert. Dabei wird das Fremde als potenziell bedrohlich imaginiert, was der Legitimation von Abwertung und Gewalt dient. Die Neonazis gerieren sich dabei als Schutzmacht, als letzte Bastion und vermeintliche Retter des Abendlandes, die die „Deutschen“ vor Übergriffen schützen. 

Antisemitismus und Antizionismus

Neben dem Rassismus ist der Antisemitismus ein wichtiges Ideologie-Element der Neonazi-Szene. So sorgten auch in Dortmund in den letzten Jahren einige antisemitische Vorfälle für Schlagzeilen. Beispielsweise wurden auf verschiedenen Demonstrationen Parolen wie „Wer Deutschland liebt, ist Antisemit“, „Antisemiten, kann man nicht verbieten“ oder „Wer sitzt im Schrank? Anne Frank!“ skandiert.

Sascha Krolzig kassierte auch in der Berufungsverhandlung 14 Monate Haft ohne Bewährung. Fotos: Alex Völkel
Sascha Krolzig kassierte auch in der Berufungsverhandlung 14 Monate Haft ohne Bewährung. Fotos: Alex Völkel Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Zudem wurde der Bundesvorsitzende Sascha Krolzig wegen Volksverhetzung verurteilt, weil er den Vorsitzenden einer jüdischen Gemeinde als „frechen Judenfunktionär“ bezeichnet hatte. Solche eindeutigen Bekenntnisse zum Judenhass stehen bei den Dortmunder Neonazis an der Tagesordnung.

Häufig wird der antisemitische Wahn allerdings auch in nicht ganz so unverfrorener Weise artikuliert, sondern über Andeutungen und Codes. So wird an Stelle der Vernichtung der Juden die Vernichtung des jüdischen Staates Israel gefordert, wie etwa bei der neonazistischen „Europa-Erwache“-Demonstration 2018, bei der die Redner vor einem Banner sprachen, auf dem das Konterfei des ehemaligen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadineschāds und die Aufschrift „A world without zionism“ abgebildet waren.

Sascha Krolzig, Co-Bundesvorsitzender der Partei Die Rechte.
Sascha Krolzig, Co-Bundesvorsitzender der Partei Die Rechte. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Der politische Hintergrund: Ahmadineschād hatte auf einer Konferenz mit diesem Titel davon gesprochen, dass Israel von der Landkarte getilgt werden müsse. Im selben Jahr wurde zudem anlässlich des 70. Jahrestages der israelischen Staatsgründung eine Kundgebung veranstaltet, um dem Hass gegen den einzigen jüdischen Staat Ausdruck zu verleihen.

Das Motto dieses Mal: „Israel ist unser Unglück“, eine leicht modifizierte Variante des Ausspruches „Die Juden sind unser Unglück“ von Heinrich von Treitschke, welcher auf dem Titelblatt des NS-Propagandablatts „Der Stürmer“ zitiert wurde.

Immer wieder richten die heimischen Neonazis ihre Aktivitäten gegen den Staat Israel.
Immer wieder richten die heimischen Neonazis ihre Aktivitäten gegen den Staat Israel. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Der gleiche Slogan war zudem auf den Wahlplakaten zur Europawahl 2019 zu lesen. Der antisemitische Wahlkampf wurde flankiert durch die Aufstellung der notorischen Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck als Spitzenkandidatin, die zu diesem Zeitpunkt wegen verschiedener Fälle von Volksverhetzung, Verunglimpfung und Leugnung der Shoah eine mehrjährige Haftstrafe verbüßte. 

Der Antisemitismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen – als unmittelbarer Hass auf Juden, über den kommunikativen Umweg der Israelfeindschaft oder als sekundärer Antisemitismus durch die Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus und insbesondere der Shoah – ist essentieller Bestandteil der Ideologie der Dortmunder rechtsextremen Szene. Er erfüllt dabei auch die Funktion, nationalistische Bewegungen Europas über die Landesgrenzen hinweg zu vereinen.

Matthias Deyda, der Auslandsbeauftragte von Die Rechte, hat in mehreren Reden vor einem internationalen neonazistischen Publikum jüdische Personen als die „ewigen Feinde“ beschworen. „Wir haben auch noch heute denselben Feind wie vor 75 Jahren“, rief er etwa seinen neonazistischen Kameraden 2020 bei einer Gedenkveranstaltung für die Waffen-SS in Budapest zu. 

Entwicklungen 2020: Wahl-Fiasko, Haftantritte und Auflösungserscheinungen 

Das Jahr 2020 war einerseits geprägt durch die Corona-Pandemie, andererseits durch die im gleichen Jahr anstehende Kommunalwahl. Entgegen vorheriger Befürchtungen und Prognosen wurde die Kommunalwahl am 13. September zu einer herben Niederlage für die extreme Rechte in Dortmund.

Beifall spendete der Noch-AfD-Mann den Worten von Ratsmitglied Michael Brück, der ebenfalls Breitseiten gegen die AfD feuerte.
Bernd Schreyner wechselte von der AfD zur Partei „Die Rechte“ und trat nach der verlorenen Wahl wieder aus. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Trotz eines intensiven Wahlkampfes, eines relativ gemäßigten Wahlprogramms und der fehlenden Konkurrenz durch die NPD – diese verzichtete auf einen Wahlantritt, ihr Ratsvertreter Axel Thieme fand sich stattdessen auf der DR-Liste – reichte es lediglich zu einem Sitz im Rat.

Aufgrund des fehlenden Sitzes der NPD gab es nun keine Möglichkeit mehr eine Gruppe im Rat zu bilden, was mit dem Verlust der jährlich etwa 45.000 € an öffentlichen Geldern für die Parteiarbeit einherging.

Zudem verlor Die Rechte drei Sitze in den Bezirksvertretungen. Lediglich den Sitz in der BV Huckarde konnte die Partei halten, wobei sie mit 6,27 % der Stimmen beinahe noch einen zusätzlichen Sitz gewonnen hätte. Ansonsten gelang es der Partei lediglich einen Sitz in der BV Eving zu erringen.

Im Gegensatz zu den vorherigen Kommunalwahlen stellte Die Rechte mit dem ehemaligen AfD-Politiker Bernd Schreyner einen Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters auf. Dieser erhielt zwar 6274 Stimmen (2,98 %), aber dieses relativ hohe Ergebnis scheint ebenso wie bei der Wahl zu BV Huckarde nur durch das Fehlen eines Kandidierenden der AfD ermöglicht worden zu sein. 

Gegen das Urteil des Amtsgerichts hatten sowohl Christoph Drewer als auch die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. Foto: Alex Völkel
Christoph Drewer stand mehrfach vor Gericht und musste anschließend Haftstrafen absitzen. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Doch nicht nur parlamentarisch lief es alles andere als rund für die Dortmunder Kamerad_innen. Die Szene wurde durch die Inhaftierungen mehrerer führenden Kader deutlich geschwächt. Neben dem Bundesvorsitzenden Sascha Krolzig und dem Vorstandsmitglied Christoph Drewer verbüßen weitere Rechtsextremisten Haftstrafen, die teilweise durch eine Vielzahl von Gewaltdelikten für Angst und Schrecken bei politisch Andersdenkenden gesorgt hatten.

Durch staatlichen Druck konnten zudem nicht nur Einzelpersonen für Straftaten belangt werden, sondern auch die Strukturen insgesamt geschwächt werden. So konnte das wesentlich durch den DR-Funktionär Alexander Deptolla organisierte Kampfsport-Event Kampf der Nibelungen in den letzten beiden Jahren aufgrund staatlicher Repressionen nicht wie geplant stattfinden. 

Parteifunktionär Alexander Deptolla ist Organisator des „Kampf der Nibelungen“. Foto: Alex Völkel
Parteifunktionär Alexander Deptolla ist Organisator des „Kampf der Nibelungen“. Foto: Alex Völkel Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Als weitere gravierende Auflösungserscheinungen des organisierten Neonazismus in Dortmund müssen die Einstellung des Nachrichtenportals DortmundEcho nach acht Jahren Aktivität sowie die Auflösung der Kameradschaft AG Dortmund-West betrachtet werden.

An Stelle des Infoportals treten Kanäle auf sozialen Medien, der Umfang und die Häufigkeit der Nachrichten haben aber im Vergleich zum DortmundEcho deutlich nachgelassen. Die AG Dortmund-West, die in den letzten Jahren für eine Vielzahl von politischen Aktionen sowie Straf- und Gewalttaten verantwortlich war, wurde in ähnlicher Konstellation als Kameradschaft Tremonia Kollektiv neuaufgebaut.

Bisher fällt sie aber hauptsächlich durch Berichte auf ihrer Homepage als durch politischen Aktivismus auf, was allerdings auch dem Umstand der Pandemie geschuldet sein kann. Der eingangs erwähnte Umzug von Michael Brück nach Chemnitz am Ende des Jahres war also nur der wahrnehmbare Höhepunkt eines für die Dortmunder Neonazis in weiten Strecken verkorksten Jahres. 

Ausblick

Das Ratsmandat von Brück übernahm Matthias Deyda, der bereits seit vielen Jahren zum Führungskreis der Dortmunder Neonazi-Szene gehört und diese häufig im In- und Ausland als Redner vertritt. Laut den Nordstadtbloggern soll er sich im Gegensatz zu Brück bei Ratssitzungen bisher weitgehend zurückgehalten und kaum zu Wort gemeldet haben.

Neonazi Matthias Deyda meldet sich bisher im Rat kaum zu Wort und stimmt häufig gemeinsam mit der AfD ab.
Neonazi Matthias Deyda meldet sich bisher im Rat kaum zu Wort und stimmt häufig gemeinsam mit der AfD ab. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Auch ansonsten lassen sich seit der Kommunalwahl bis auf einzelne Ausnahmen – bei einer neonazistischen Gedenkveranstaltung in Dresden im Februar dieses Jahres hielt Deyda etwa eine geschichtsrevisionistische Rede – bisher kaum Aktivitäten der lokalen Neonazi-Szene beobachten.

Für ein wenig Aufsehen sorgte lediglich, dass der Bürgermeisterkandidat Bernd Schreyner im Dezember 2020 gemeinsam mit sechs anderen Mitgliedern aufgrund von „unüberbrückbaren Ansichten über die Neuausrichtung nach der Kommunalwahl“ die Partei mit sofortiger Wirkung verlassen hatte. Worin diese Neuausrichtungen bestehen, ob die Parteiarbeit weiterhin ein zentrales Handlungsfeld darstellen wird oder aber wieder andere Aktionsformen Überhand nehmen, wird die Zukunft zeigen.

Denkbar ist auch, wie der Verfassungsschutz und die Polizei warnen, dass sich einzelne Personen aus Frust über die aktuellen Entwicklungen weiter radikalisieren und es zu einem Anstieg von rechtsextremer Gewalt kommt.

Ein Abgesang auf die hiesige rechtsextreme Szene erscheint jedenfalls mehr als verfrüht. Die Szene ist weiterhin bestens vernetzt und verfügt trotz rückläufiger Teilnehmenden-Zahlen bei Veranstaltungen nach wie vor über ein enormes Mobilisierungspotenzial und eine Strahlkraft weit über die Dortmunder Stadtgrenzen hinaus.

„Heldengedenken“ - ein Bild von „SS-Siggi“ vor einem Weltkriegspanzer wurde vor dem Banner hergeführt.
„Trauermarsch“ oder doch eher „Heldengedenken“ – ein Bild von „SS-Siggi“ vor einem Weltkriegspanzer wurde vor dem Banner hergeführt. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Die Kader sind seit vielen Jahren tief in rechten Milieus verwurzelt, bei exponierten Aktivisten wie Christian Worch und Siegfried Borchardt begann die politische Karriere und Sozialisation wie gezeigt bereits Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre. Worch ist noch immer im Bundesvorstand der Partei und Borchardt wurde im Februar 2021 als Kreisvorsitzender in Dortmund im Amt bestätigt.

Und auch die aktuellen aktivistischen Führungspersonen wie Deptolla, Krolzig oder Deyda sind bereits seit vielen Jahren in der rechtsextremen Szene aktiv. Zudem verfügt die lokale Nazi-Szene nach wie vor über eine intakte Infrastruktur in Dorstfeld, einem Sozialraum, in dem viele Neonazis rund um den Wilhelmsplatz in Wohngemeinschaften wohnen. 

Der Rückblick auf die letzten knapp 40 Jahre Neonazismus in Dortmund zeigt deutlich: Es gab stets Aufwärts- und Abwärtstrends, Wechsel der Organisationsformen und verschiedene aktivistische und subkulturelle Einflüsse.

Doch kontinuierlich stellten die Dortmunder Neonazis eine Gefahr für ihre politischen Gegner_innen dar, wovon nicht zuletzt die fünf Todesopfer rechtsextremer Gewalt in Dortmund seit 2000 ein unrühmliches Zeugnis ablegen. Stadt, Polizei und Zivilgesellschaft tun gut daran, die weiteren Entwicklung wachsam zu beobachten, rechtsextreme Akteur_innen in ihrem destruktiven Wirken einzuschränken und zu verhindern, dass sich weitere Personen der Szene anschließen.

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Reaktionen

  1. Stefan Stolze

    Ein wenig einseitig seit ihr ja schon . Ich vermisse erfolgreiche Integrations Arbeit. Berichtet doch mal über Misserfolge der Eingliederung in diese Gesellschaft . Hörde , Nordstadt usw sind doch eher eine Misserfolgs Geschichte !

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