Ein Jahr nach den tödlichen Schüssen auf Mouhamed Lamine Dramé:

Blumen, Kerzen, Wut und Trauer: Aktivist:innen und Trauergäste rufen nach Gerechtigkeit

Tatort in der Missundestraße: vor dem gelben Plakat legte der Solidaritätskreis Blumen und Kerzen nieder. Foto: Julius Obhues

Genau vor einem Jahr wurde Mouhamed Lamine Dramé, ein 16-jähriger suizidgefährdeter Geflüchteter aus dem Senegal, von der Dortmunder Polizei in der Nordstadt erschossen. Am Jahrestag (8. August 2023) trafen sich der Solidaritätskreis und der Freundeskreis Mouhamed in Tatortnähe zu separaten Gedenkfeiern, um den getöteten Jungen zu ehren und an die Tat zu erinnern.

Der Solikreis ruft zum Gedenken und Erinnern auf

Am Kurt-Piehl-Platz, zwei Straßen vom Tatort entfernt, traf sich der Solidaritätskreis. Der Mitbegründer des Bündnisses und das Gesicht der #Justice4Mouhamed-Bewegung ist William Dountio. Er wies die Besucher:innen der Gedenkfeier auf das offene Mikrofon hin: „Jeder, der seine Gedanken zu Ehren Mouhameds äußern möchte, hat hier die Möglichkeit das zu tun.“

Neben Kaffee, Kuchen, Kerzen und T-Shirts, die gegen eine kleine Spende erhältlich waren, gab es auch eine Ausstellung, die der Solikreis mitgebracht hatte. Hier wurden diverse Zeitungsartikel zu getöteten Migrant:innen ausgehangen – eine klare visuelle Kommunikation zum Thema Polizeigewalt.

Familie Dramé erhielt bis heute keine Entschuldigung vom deutschen Staat

Der Solidaritätskreis verteilt am Jahrestag der Tötung Plakate und Flyer zum Gedenken Mouhamed Dramés Foto: Stella Roga

Das Bündnis widmet sich der Erinnerungsarbeit: „Wir treffen uns jeden ersten Montag im Monat und gedenken Mouhamed beim Essen. Selbst wenn ich vergesse der Familie Dramé von diesem monatlichen Zusammenkommen Bilder zu schicken, erinnern sie mich sofort daran“, erzählt der Sozialarbeiter und Aktivist Dountio.

Er steht mit der im Senegal lebenden Familie des Ermordeten in engem Kontakt und teilt deren Gedanken und Wünsche mit.

Laut Dountio hat die Familie seit einem Jahr keine Entschuldigung vom deutschen Staat erhalten. Keiner hätte sich bei ihnen gemeldet, sich gerechtfertigt oder sich erkundigt, wie es ihnen geht.

Am wichtigsten ist der Familie offenbar, dass ihr getöteter Sohn Mouhamed zum Symbol wird: „Ein Symbol für jeden, der hier in Deutschland lebt und sich vor dem Rassismus des Staates fürchtet und für jeden, der sich nicht auf die Straße traut.“

Klare Forderungen und Anteilnahme von der Bezirksbürgermeisterin der Nordstadt

Die Gedenkfeier des Solidaritätskreises wurde von Live-Acts begleitet, denn „die Familie hat sich eine lebendige Gedenkfeier gewünscht“, sagt Dountio. Trotz der bunten Ausrichtung und der musikalischen Begleitung war die Stimmung vor Ort geprägt von verlorenem Vertrauen und von Trauer. Im Vorbeilaufen sind Gesprächsfetzen der Gedenkenden zu hören: „Ich habe es mit angesehen, ich habe die Schüsse gesehen.“

Bezirksbürgermeisterin Hannah Rosenbaum wünscht sich konsequente Verbesserungen in der Polizeiausbildung. Seit dem Vorfall im letzten Jahr hätten sich die Techniken der Ordnungshüter nicht ausreichend geändert, sagte sie im Gespräch mit nordstadtblogger.de.

„Zwei Stunden mehr in der Ausbildung wurden hinzugefügt, um Polizist:innen für Einsätze mit psychisch Erkrankten zu sensibilisieren. Das kann nicht alles an Reaktion sein“, so Rosenbaum. „Es sollte sich mehr mit rassismus-sensiblen Inhalten beschäftigt werden. Vor allem sollte auch der Einsatz von bestimmten Techniken überdacht werden.“

Der schmale Grat zwischen „hart aber wahr“ und unverblümter Unsensibilität

Die verkauften Kerzen und Blumen wurden vom Solidaritätskreis und den Trauergästen gegen 16.30 Uhr an den Tatort in der Missundestraße gebracht. Dort fand auch das Demonstrationskonzert des MLPD-nahen Freundeskreises statt. Das Gedenken dort begann um 16 Uhr mit einer Nachinszenierung des Mordes.

Der Freundeskreis inszeniert die Tötung an Mouhamed auditiv nach. Foto: Julius Obhues

„Wir werden den Tathergang mit einer Inszenierung nachspielen“, hieß es in der Einladung des Freundeskreises. Schon im Vorfeld des Jahrestages stieß dieses Vorhaben auf Unverständnis von Kritiker:innen: „Könnte das nicht retraumatisierend sein?“ fragten sich einige der Gedenkenden. Befürchtet wurde ein theatralisches Schauspiel, in dem der Mord nachgespielt wird.

Am Jahrestag wurde der Tathergang vom Freundeskreis dann letztendlich vorgelesen und von Soundeffekten, sprich Schüssen und Krankenwagensirenen, begleitet. Nach Aussagen der Sprecherin des Freundeskreises, Klara Kossack, sollte das dem „würdevollen Gedenken dienen“.

„Es soll auch unter die Haut gehen und nochmal deutlich machen, dass es Mord war“, erklärt Kossack. Der „Freundeskreis Mouhamed“ ist Teil des „Freundeskreis für Flüchtlingssolidarität“, welcher wiederum eng mit der MLPD zusammenarbeitet. Durch diese Verbindung polarisiert das Bündnis bereits seit seiner Gründung und sieht sich Vorwürfen ausgesetzt, den Fall Mouhamed politisch zu instrumentalisieren.

Videobotschaft der Familie Dramé – die parallele Gedenkfeier im Senegal

Daher wurde auf die Video-Botschaft von Mouhameds Bruder Sidy Dramé verwiesen, welche bei beiden Gedenkfeiern gezeigt wurde. Sie wurde am Morgen des Jahrestages bei einer Gedenkfeier im Familienkreis im Senegal aufgenommen und in der Nordstadt mit Übersetzung gezeigt.

Darin zeigt sich Sidy Dramé im Namen seiner Familie dankbar für Jeden, der hier in Deutschland für seinen verstorbenen Bruder kämpft. Der Freundeskreis sah darin einen Beweis, dass auch ihr Aktivismus von der Familie des Opfers begrüßt wird.

Der Bruder des Verstorbenen betont im Video mehrfach die Trauer, die auf seiner Familie und insbesondere auf seiner Mutter lastet. Verdeutlicht wird auch die tiefe Enttäuschung, die Familie Dramé dem deutschen Staat gegenüber verspürt.

„Rest in Power“ – der Kampf für Gerechtigkeit geht weiter

Die Gedenkenden des Solidaritätskreises schmücken den Tatort mit Blumen Foto: Julius Obhues

Beide Bündnisse treffen um 16.48 Uhr  – dem Zeitpunkt der Schüsse – vor dem Tatort zusammen und halten eine Schweigeminute für den erschossenen Mouhamed ab. Das Ganze findet keine fünf Meter entfernt vom „Freund und Helfer“ samt Polizei-Bulli statt, der die friedliche Gedenkfeier begleitet.

Am Jahrestag werden Flyer verteilt und viele intensive Gespräche geführt. Bei einer Flyerverteilung auf dem Nordmarkt gab es eine Auseinandersetzung zwischen dem Solidaritätskreis und dem städtischen Ordnungsamt, welche mit einer Ingewahrsamnahme und einer Beschlagnahmung von Flyern endete. (Wir berichten noch)

Beide Bündnisse laden zu ihren konkurrierenden Demonstrationen am kommenden Samstag (12. August 2023) um 14 Uhr ein. Der Solidaritätskreis will seine Demo auf der Südseite des Hauptbahnhofs beginnen, der Freundeskreis auf dem Kurt-Piehl-Platz in der Nordstadt.

„Wir dürfen nicht vergessen“ ist die Botschaft, die hier konsequent von beiden Seiten vertreten wird. Die Verhandlung vor dem Landgericht Dortmund erwarten die meisten Gedenkenden mit gemischten Gefühlen. Allerdings ist der Kampf für sie erst dann vorbei, wenn Mouhamed Gerechtigkeit erfährt.

 

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Reaktionen

  1. Ulrich Sander

    Ich fasse es nicht! Werbeflyer für die Veranstaltungen zur Erinnerung an Mouhameds Tod dürfen auf dem Nordmarkt nicht verteilt werden. Wer es dennoch tut, wird gefesselt und stundenlang weggesperrt. Von Ordnungshütern der Stadt. Dies ist tatsächlich geschehen am Dienstag 8.8. Was sagt die Stadtspitze dazu? Wer ist verantwortlich? Kommt zur Demo am kommenden Samstag!

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