„Alles Nutten, oder was?“ – Ehemaliger Chef der „Sitte“ diskutiert in Petri-Kirche über die Situation von Prostituierten

Die Linienstraße mit ihren Bordellen - hier ist Prostitution erlaubt.
Die Linienstraße mit ihren Bordellen – hier ist Prostitution erlaubt, die Betriebe sind angemeldet.

Von Heike Becker-Sander

Heiner Minzel wirkt immer noch so dynamisch, als würde er gleich zur nächsten Razzia im Milieu starten. Dass er inzwischen 70 Jahre geworden ist, mag man kaum glauben. „Schon seit April“, erklärt er gänzlich uneitel. Heiner Minzel war bis zu seiner Pensionierung Chef der Dortmunder Sitte und hat die Veränderungen im Rotlichtmilieu unserer Stadt hautnah miterlebt und auch die neuen Ansätze im Kampf gegen illegale Prostitution und Menschenhandel seit den neunziger Jahren mit initiiert und unterstützt.

Mitternachtsmission Dortmund lädt auch Bordellbesitzer und „Freier“ ein

Holger Minzel im Interview bei Nordstadtblogger.de. Fotos: Alex Völkel
Der ehemalige Chef der Sitte, Heiner Minzel, im Interview in der Nordstadtblogger-Redaktion. Fotos: Alex Völkel

Der immer noch aktive Kampfsportler ist am kommenden Mittwoch, 26. September, einer der prominenten Podiumsgäste, die unter dem provokanten Thema „Alles Nutten, oder was?“ über die Situation von Prostituierten in unserer Gesellschaft diskutieren.

Einlader ist die Dortmunder Mitternachtsmission, die in diesem Jahr ihr 100jähriges Bestehen feiert. In der Evangelischen Stadtkirche St. Petri soll an diesem 26. September unter anderem der Frage nachgegangen werden, ob Huren „Mülleimer der Gesellschaft“ sind. Auf dem Podium werden neben Heiner Minzel auch VertreterInnen von Kirche und Mitternachtsmission, eine Insiderin aus der Linienstraße, ein Bordellbesitzer und ein Kunde von Prostituierten sitzen. Beginn ist um 19.30 Uhr.

Mit dem 70jährigen früheren Leiter des „KK12“ (damals noch Milieukriminalität) ist nicht nur ein profunder Kenner der Rotlichtszene auf dem Podium vertreten. Heiner Minzel gehörte gemeinsam mit der Mitternachtsmission zu den Initiatoren des ersten „Runden Tisches“, der seit Mitte der 90er Jahre Standards für die Arbeit von  Prostituierten in Dortmund festlegte und es letztendlich schaffte, sowohl Huren und Bordellbetreiber als auch Vertreter des Ordnungsamtes, der Polizei und sozialer Einrichtungen an einen Tisch zu bringen.

Aus ersten Anfängen entstand das „Dortmunder Modell“, das inzwischen zahlreichen Städten als Vorbild im Kampf gegen Menschenhandel und illegale Prostitution dient und die Rechte der Frauen schützt, die „anschaffen“ gehen.

Rabiate Menschenhändler mischten plötzlich das Milieu in Dortmund auf

Minzel brachte alle Akteure - nicht nur aus der Linienstraße - an einen Tisch.
Heiner Minzel brachte alle Akteure – nicht nur aus der Linienstraße – an den „Runden Tisch“.

Der „Runde Tisch“ war die Antwort auf die plötzlich geänderte Situation rund um Linienstraße und Straßenstrich und die paar bekannten Clubs. „Nach der Wende, kamen plötzlich verstärkt Frauen aus den östlichen Ländern hierher“, erinnert sich Minzel. „Vorher hatten wir eigentlich alles im Blick, man kannte sich im Milieu. Die Polizei und ihre Anordnungen wurden respektiert.“

Doch dann reisten mit den Frauen aus Bulgarien, Polen und Russland auch skrupellose Menschenhändler und Zuhälter ein, die mit brutalen Mitteln die Frauen zur Prostitution zwangen und dann abkassierten. „Die illegalen Bordelle sind damals wie Pilze aus dem Boden geschossen“, erzählt der gebürtige Ostwestfale.

Wo immer es möglich war, wurde käuflicher Sex angeboten. „Das führte zu grotesken Situationen“, so Minzel. „In der obersten Etage war eine Zahnarztpraxis, zwei Stockwerke drunter ein illegaler Puff.“ Selbst Apartments in bürgerlichen Wohnhäusern dienten als Arbeitsplatz für Prostituierte.

Heiner Minzel: „Nächtelang haben wir nach illegalen Bordellen gesucht“

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An seinem letzten Arbeitstag am 10. Januar 2009 ging der Chef der Dortmunder Sitte noch einmal durch die Linienstraße. Archivbild: Franz Luthe

Mit dieser Situation sah sich Heiner Minzel konfrontiert als er 1995 zum Chef  der Sitte wurde. „Wir mussten damals praktisch bei Null wieder anfangen“, erzählt der 70jährige. Es sollte vor allem den illegalen Bordellbetreibern und den Zuhältern das Wasser abgegraben werden.

„Kontrollen, Kontrollen, Kontrollen, das war das Einzige, was half. Wir sind nächtelang durch die Stadt gezogen und haben nach illegalen Bordellen gesucht.“

Die Zusammenarbeit mit der Mitternachtsmission machte es möglich, die Frauen und vor allem die Minderjährigen, die die Polizei aus diesen Etablissements holte, unbürokratisch unterzubringen und zu beschützen.

Klare Position des Ex-Polizisten: Prostituierte sind keine Menschen zweiter Klasse

Ravensberger Straße, ehemaliger Straßenstrich hinter Hornbach
Der ehemalige Straßenstrich an der Ravensberger Straße ist lange Geschichte. Archivbild: Klaus Hartmann

Später halfen dann auch die Sozialbehörden und andere Einrichtungen gemeinsam, die Situation zu bewältigen. „Ohne den runden Tisch wäre das nicht möglich gewesen“, ist sich Heiner Minzel auch heute noch sicher.

Alles beruhte auf dem „guten Willen“ der einzelnen Beteiligten, gesetzliche Grundlagen gab es zu der Zeit noch nicht.  „Wir haben klare Kante gezeigt, das hat letztlich auch im Milieu überzeugt.“ Regelmäßige Kontrollen gab’s allerdings weiterhin. „Oftmals kamen die Tipps sogar aus dem Rotlichtbereich. Die haben irgendwann angefangen, sich selbst zu kontrollieren.“

Auch wenn Heiner Minzel schon einige Jahre ‘raus ist, den Kontakt zu seinem früheren Beruf und zur Mitternachtsmission hat er nicht verloren. „Das lässt einen nicht los.“ Schließlich hat ihn die polizeiliche Arbeit inmitten der Dortmunder Rotlichtszene seit dem Start seiner Karriere begleitet.

Dienstbeginn in der Nordstadt war 1972 in der alten Steinwache

In der ehemaligen Steinwache begann Heiner Minzel seinen Dienst in der Nordstadt.
In der ehemaligen Steinwache unweit der Linienstraße begann Heiner Minzel seinen Nordstadt-Dienst.

1972 habe ich als junger Oberwachtmeister am Steinplatz meine ersten Einsätze gehabt“, berichtet er. „Damals waren wir noch in der Alten Steinwache untergebracht.“

Und da gab’s auch noch die Kneipen wie die „Feuerkugel“, den „Nordpol“ oder „Addis Pinte“, in denen sich die damalige Unterwelt traf – und auf die auch die Polizei ein waches Auge hatte. Genauso wie auf Linienstraße und Straßenstrich.

Schon damals war es für Heiner Minzel wichtig, den Huren klar zu machen, dass sie Rechte hatten, kein Freiwild für die Kunden waren. Und seine Einstellung zu den Frauen im Milieu hat sich nicht verändert. „Es gibt immer noch Leute, selbst in offiziellen Gremien, die Prostituierte als Menschen zweiter Klasse sehen, das macht mich bis heute wütend.“

Gegen diese Vorurteile müsse weiter energisch angegangen werden. Sicher einer der Gründe, warum Heiner Minzel am kommenden Mittwoch auf dem Podium in der Petri-Kirche mitdiskutiert.

Weitere Informationen:

  • „Alles Nutten, oder was?“ – Podiumsdiskussion am Mittwoch, 26. September, 19.30 Uhr, in der Evangelischen St. Petri-Kirche, Westenhellweg. Es geht um die Stellung von Prostituierten in der Gesellschaft.
  • Veranstaltung anlässlich des 100jährigen Bestehens der Dortmunder Mitternachtsmission.
  • Auf dem Podium sitzen neben dem ehemaligen Leiter der Dortmunder „Sitte“, Heiner Minzel, VertreterInnen von Kirche und Mitternachtsmission, ein Bordellbetreiber, eine Insiderin aus der Linienstraße und ein Prostitutionskunde.
  • Die Moderation übernimmt Dr. Friedemann Grenz.

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