In der vergangenen Woche hatten Anwälte vor dem Amtsgericht in Dortmund noch argumentiert, dass ihre Mandant:innen nur vor Gericht stünden, weil diese Neonazis seien und keine Klimaaktivisten. „Sonst säßen sie nicht auf der Anklagebank, sondern im Studio von Markus Lanz“, argumentierte einer der Rechts-Anwälte. Doch er irrte (mal wieder): Denn seit geraumer Zeit versuchen Polizei und Staatsanwaltschaft, Klimaaktivist:innen wegen Nötigung zu verfolgen. Früher wurde dies häufig als Ordnungswidrigkeit gewertet. Allein aus einer Aktion von „Extinction Rebellion“ am 13. Juni 2021 auf der Bundesstraße 1 resultieren 72 (!) Strafverfahren.
Nicht angemeldeter Protest fordert eine schnelle Verkehrswende
Die Beschuldigten könnten kaum unterschiedlicher sein, der Vorwurf ist aber derselbe: Während in der vergangenen Woche das Amtsgericht Neonazis der gemeinschaftlichen Nötigung schuldig sprach – sie hatten den Kirchturm der Reinoldikirche besetzt und dabei zudem Hausfriedensbruch begangen – stehen derzeit auch zahlreiche Klima-Aktivist:innen von „Extinction Rebellion“, die unangemeldete Versammlungen auf Dortmunder Straßen gemacht hatten, vor Gericht.
Am 13. Juni demonstrierten ca. 80 Aktivist:innen von „Extinction Rebellion“ mehr als vier Stunden friedlich für Klimagerechtigkeit und den zügigeren Ausbau des Radschnellwegs Ruhr (RS1). Allerdings – und darauf begründet die Strafverfolgung – im Rahmen einer nicht angemeldeten Versammlung.
Daraufhin wurden von der Dortmunder Polizei und Staatsanwaltschaft insgesamt 72 Einzelverfahren eingeleitet. Dem Angeklagten wird (gemeinschaftliche) Nötigung vorgeworfen. In der Vergangenheit sind vergleichbare Versammlungen von Polizei und Justiz häufig als Ordnungswidrigkeiten gewertet worden. Seit etwa einem Jahr werden Klimaaktivist:innen in Nordrhein-Westfalen – so zumindest die Lesart von „Extinction Rebellion“ – „vermehrt und teilweise willkürlich Straftaten vorgeworfen“.
Klimaaktivist: „Hier sitzt die falsche Person auf der Anklagebank“
Den Tatbestand der Nötigung bezweifelt der Angeklagte: „Es tut mir leid, wenn einzelne Autofahrende durch unsere Aktionen gestört werden, aber die Störung ist notwendig, um die Klimakrise und die ökologische Krise auf die Tagesordnung zu bringen. Dennoch konnte der Verkehr auf der B1, zwar langsam, aber stetig, über Umwege weiterlaufen“, verteidigte sich Dominik Lange.
„Das Bundesverfassungsgerichtsurteil letztes Jahr hat gezeigt, dass die Klimapolitik der Bundesregierung nicht ausreichend ist und die Freiheit der zukünftigen Generation stark einschränkt. Ich sehe den Tatvorwurf der Nötigung aus diesen Gründen nicht gegeben“, argumentierte er, als er sich selbst vor Gericht vertrat.
Dabei nutzte er die „Bühne“, um vor allem auf die Ziele der Klimabewegung und die Notwendigkeit des Handelns einzugehen, aber eher selten, um auf den eigentlichen Vorwurf einzugehen. Zudem machte er deutlich, dass angemeldete Fahrraddemos und Unterschriftensammlungen alleine nicht ausreichen. Denn die Zukunft und die Freiheit der nächsten Generationen würden jetzt verspielt.
Klare Position: „Ich übertrete bewusst Gesetze und Normen“
„Hier sitzt die falsche Person auf der Anklagebank“, sagte er mit Blick auf Regierungen und Industrie, die seine Zukunft gefährdeten: „Wenn meine Zukunft gefährdet wird, werde ich nicht achselzuckend daneben stehen“, betonte Lange in seiner Verteidigung.
„Das stärkste Mittel ist der zivile Ungehorsam. Ich übertrete bewusst Gesetze und Normen – dafür nehme ich bewusst Konsequenzen in Kauf“, betonte der 28-jährige Klimaaktivist. „Es geht nicht darum, Einzelne am Autofahren zu hindern, sondern um das tödliche Weiterso“, sagte er mit Blick auf die Ziele der Demo – die Verkehrswende zu beschleunigen.
Konkret ging es um den seiner Meinung nach viel zu langsamen Ausbau des Radschnellwegs RS1. „Die Verkehrswende ist ein wichtiger Baustein zur Klimaneutralität. Aber obwohl der Radverkehr dafür wichtig ist, geht der Bau äußerst schleppend voran“, so Lange. Die Politik fokussiere sich weiter auf das Auto. Der unangemeldete Protest auf der B1 sei „also durchaus geeignet, auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. Die Zweck-Mittel-Relation fällt positiv aus.“
Die bewusste Gesetzesübertretung kam vor Gericht nicht gut an
Das Gericht allerdings wollte den Exkursen und Ausführungen nicht endlos folgen – obwohl man dem Aktivisten durchaus viel Spielraum gewährte und dieser die Verhandlung so auf rund vier Stunden zog. „Ihr Ziele sind sehr ehrbar und ich teile sie auch in den größten Teilen“, versuchte die Amtsanwältin eine Brücke zu bauen. Doch das gewählte Mittel sei das falsche. Seinen Protest habe er auch ausdrücken können, ohne mehr als vier Stunden den Straßenverkehr auf der B1 in Richtung Bochum zu blockieren – wenn auch an einem Sonntag.
Auch die bewusste Übertretung der Gesetze kam bei der Richterin nicht gut an. „Sie wussten, dass sie es nicht durften.“ Gebetsmühlenartig versuchten sie, dem Angeklagten die juristische Auslegung des Gewaltbegriffs und der damit verknüpften „Verwerflichkeit“ zu erklären. Denn die über Jahrzehnte weiterentwickelte juristische Auslegung sieht mittlerweile schon eine „Gewalt“ daran, wenn ich nur die Straße blockiere. Dort ist dann von der „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ die Rede (mehr dazu am Ende des Artikels im „Hintergrund“).
Die juristische „Verwerflichkeit“ liegt zudem nicht in den politischen Zielen, sondern schon dann vor, wenn eine große Gruppe von Menschen von dieser Nötigung – sprich im Stau zu stehen oder einen Umweg fahren zu müssen – betroffen sind. „Nicht das Ziel ist verwerflich, sondern die Mittel, die Sie in Anspruch genommen haben“, hielt man Lange entgegen. Auch der Ort stand nicht in Rede – natürlich habe er auf der B1 auch eine Kundgebung anmelden können. Doch das tat die Gruppe nun absichtlich nicht.
Weil er eine Verhandlung wollte, vervierfachte sich die Strafforderung
Der Angeklagte lehnte mehrfach ab, das Verfahren gegen Zahlung einer Geldstrafe einzustellen. Viele weitere der 72 Beschuldigten hatten dies bereits getan, um weitere Kosten und Aufwand zu vermeiden. Lange hingegen plädierte auf einen „gerechtfertigten Notstand“ durch den Klimawandel und die Starkregenereignisse. Sie stellten eine „gegenwertige Gefahr dar – und nicht erst in naher oder ferner Zukunft“.
Doch seine Weigerung, der Einstellung des Verfahrens nicht zuzustimmen, kam ihm letztendlich teuer bzw. teurer zu stehen. Obwohl er bisher nicht vorbelastet war, erhöhte die Amtsanwältin nach der vierstündigen Verhandlung ihre Strafforderung. Statt 30 Tagessätzen zu 15 Euro forderte sie nun 60 Tagessätze zu 30 Euro – also 1800 statt 450 Euro Geldbuße.
Der Strafbefehl über 450 Euro sei „tat- und schuldangemessen“ gewesen. Doch er habe ja der Geldstrafe nicht zugestimmt. Da er „nichts unversucht gelassen habe(n), das Verfahren aufzublähen“, forderte sie nun eine deutliche Erhöhung der Strafe.
Die Richterin folgte dem nur in Teilen und verurteilte Dominik Lange zu 50 Tagessätzen zu je 15 Euro. Dazu muss er die Kosten des Verfahrens und die eigenen Auslagen tragen. Als „Skandalurteil“ bewertete der Klimaaktivist die Entscheidung noch im Gerichtssaal. Er wird gegen das Urteil in Berufung gehen.
Doppelt so hohe Strafe für den Klimaaktivisten im Vergleich mit Neonazis
„Bürger:innen, die sich für eine lebenswerte Zukunft einsetzen, werden kriminalisiert, während die Verursacher aus Politik und fossile Wirtschaftsbosse keine Konsequenzen zu befürchten haben. Das Urteil und insbesondere die Höhe der Geldstrafe ist inakzeptabel“, erklärte der Angeklagte.
Die Urteile sollen offenbar Signalwirkung erzeugen – dies hat offenbar auch ein Richter in einem anderen Verfahren offen ausgesprochen. Dort wurde eine Aktivistin sogar zu Tagessätzen von 90 Euro verurteilt, obwohl dies deutlich über ihrer Einkommenssituation liegt.
Das Urteil hat aber noch eine andere Signalwirkung: Denn der bislang nicht vorbestrafte Klimaaktivist ist zu 50 Tagessätzen für gemeinschaftliche Nötigung verurteilt worden. Die zum Tatzeitpunkt nicht vorbestraften Neonazis, wurden für die gemeinschaftliche Nötigung und den zudem begangenen Hausfriedensbruch nur zu 25 Tagessätzen verurteilt. Dort wirkte sich die überlange Verfahrensdauer strafmildernd aus. Diese Wirkung hat die Klimakrise nicht…
HINTERGRUND: Sitzblockaden
Medienrechtler Dr. Jasper Prigge – er vertritt keinen der im konkreten Fall angeklagten Klimaaktivist:innen – erklärt für Nordstadtblogger das Problem der Nötigung.
Sitzblockaden sind nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Grundsatz durch Art. 8 GG geschützte Versammlungen. Mit einer Sitzblockade geht in der Regel ein kommunikativer Zweck einher, die Teilnehmenden wollen Aufmerksamkeit für ihr Anliegen erreichen. Wenn die Sitzblockade keine unfriedlichen Elemente aufweist, kann sie daher rechtmäßig sein. Auch ein Anketten oder Unterhaken von Demonstrierenden reicht für sich genommen nicht aus, damit eine Versammlung unfriedlich wird.
Ob sich Teilnehmende einer Blockade strafbar machen, ist aber immer im Einzelfall zu beantworten. Dabei ist stets zwischen dem Interesse der Versammlung, eine größtmögliche Aufmerksamkeit zu erreichen, und den Interessen der durch die Blockade betroffenen Personen abzuwägen.
Kriterien für diese Abwägung können die Dauer der Blockade, der Umfang der Behinderung, die Ausweichmöglichkeiten des Betroffenen, usw. sein. Festzuhalten ist daher, dass nicht jede Sitzblockade eine Straftat darstellt, umgekehrt aber auch nicht immer straffrei ist. Wer also z. B. über mehrere Stunden oder durch Anketten einen Zugang zu einem Grundstück oder einen Aufzugweg einer nicht verbotenen Versammlung blockiert, kann möglicherweise strafrechtlich belangt werden.
In der Rechtsprechung war vor allem umstritten, wann eine Blockade eine Nötigung darstellen kann. Eine Nötigung setzt nach § 240 Abs. 1 StGB voraus, dass Gewalt ausgeübt oder mit einem empfindlichen Übel gedroht wird. Das Bundesverfassungsgericht hat hier entschieden, dass eine bloße Sitzblockade nicht als „Gewalt“ angesehen werden kann. Es bedürfe vielmehr eines „physischen Zwangs“, der durch bloßes Sitzen aber nicht ausgeübt werde.
Der Bundesgerichtshof hat daraufhin in seiner „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ entschieden, dass „Gewalt“ hingegen vorliegen kann, wenn durch eine Blockade ein Fahrzeug anhalten muss, sodass die dahinter stehenden Fahrzeuge ihren Weg nicht fortsetzen können. Auch eine bloße Sitzblockade kann in dieser Konstellation eine Nötigung sein.
Die Frage der Verwerflichkeit betrifft das Mittel, das eingesetzt wird. Wenn es grob sozialwidrig ist, dann ist es auch verwerflich. Es geht also nicht um das Ziel, das mit der Aktion verfolgt werden soll, sondern um den Umstand, andere Menschen daran zu hindern, die Straße zu benutzen.
Reaktionen
Jo
hier zeigt sich eine gewisse fehlstellung des staatssystems, welches eigentl. demonstration braucht um zu funktionieren – diese dann aber, wenn es wirklich um unser bürgerrecht auf natur und zukunft geht verbietet, und lieber die StVO als grundlage des rechts-systems schützt.
Die Bitte von“extinctio rebellion“ für mehr anstatt weniger Demokratie durch Bürger*innen ZUKUNFTS-Räte, würde solche unliebsamen und leider dennoch in unserer Medien-DEMOkratie meist wirkungsfreien Demo´s auf wirklich sinnvollen Gesellschafts-Diskurs notwendig politischer Entwicklung vllt erübrigen.
Die STAATSanwalrschaft Dortmund sieht hier nur das Recht auf Ordnung im öffentl. Interesse, anstatt Öffentlichkeit im Interesse des Grundgesetzes als höheres Recht.
…für mehr KULTUR&LEBEN + Klima-Allianz im KLIMABUENDNIS-DORTMUND.de
– Lasst uns Beitrag mit unserem Leben leisten für ein gesundes System . . .
Bebbi
Was für ein selbstgerechter Selbstdarsteller. Eine Verurteilung provozieren und sich dann darüber empören.
Was auch immer Jo meint. Es gibt doch längst einen demokratisch legitimierten Stadtrat, der Zukunftsfragen zu beraten hat, soweit sie in städtische Zuständigkeit fallen.
JH
Lieber Bebbi,- Deine konservative Einstellung bringt unsere Gesellschaft kein Stück weiter
Weiteres Nötigungsverfahren gegen Klimaaktivisten eingestellt (PM)
Gestern (4. Mai 2022) kam es zu einer weiteren Verhandlung wegen der unangemeldeten Versammlung auf der B1 am 13.06.2021. Das Verfahren wegen Nötigung gegen den angeklagten Klimaaktivisten wurde vom Amtsgericht Dortmund in der Hauptverhandlung eingestellt.
Er wurde beschuldigt, im Juni 2021 mit Aktivist:innen von Extinction Rebellion die Bundestraße 1 blockiert und Verkehrsteilnehmer:innen genötigt zu haben, unzumutbare Umwege in Kauf zu nehmen. Das Urteil wird von der lokalen Klimabewegung begrüßt und vermittelt Zuversicht, dass es in Zukunft „für die Politiker:innen und Bürger:innen ein Kinderspiel sein sollte, auf ehrgeizige Transformationen zu drängen“, wie der Angeklagte den dritten Teil des IPCC-Berichts 2022 zu Beginn der Verhandlung zitierte.
Die Einstellung des Verfahrens bedeutet, dass die Klimabewegung das Versammlungsrecht auch in Zukunft als höchstes Gut gewogen wissen kann. Die Blockade und der anschließend ins Stocken geratene Verkehr auf der B1 seien „eine hinnehmbare Beeinträchtigung“ gewesen, begründete Richter Pawlowski den Beschluss aus der Hauptverhandlung.
Erst letzte Woche wurde ein weiterer Teilnehmer der Versammlung zu 750 Euro Geldstrafe verurteilt. Durch das Urteil vom 04.05. sieht er sich in seiner Unschuld bestätigt und wird in Berufung gehen.
„Nachdem nun schon das zweite Verfahren eingestellt worden ist, erwarten wir, dass die Richter:innen eine einheitliche Linie vertreten und auch die zukünftigen Verfahren jetzt eingestellt werden. Legitimer und wichtiger Protest von uns Bürger:innen darf nicht weiter kriminalisiert werden.“ – Beschuldigter Dominik Lange
Die Aktivist:innen forderten den sofortigen Bau des 24km langen Anteils des Radschnellwegs Ruhr (RS1) auf Dortmunder Stadtgebiet. Der RS1 ist eine wirksame, lokale und klimaschützende Maßnahme der Verkehrswende. Klimagerechte Maßnahmen werden getreu dem Motto „Global denken, lokal handeln“ von Städten, Kommunen, Ländern und Bundesregierungen noch viel zu zögerlich oder sogar gar nicht gedacht, geschweige denn umgesetzt.
Die Hundertschaft der Polizei löste die Versammlung auf und führte alle 80 Teilnehmenden ab bzw. trug sie von der Straße. Insgesamt wurden 72 Straffverfahren eingeleitet, wovon die Mehrheit (Stand 04.05.2022) zu einer Verurteilung führte.
Bebbi
JH: Und was ist an der Feststellung von Selbstgerechtigkeit und der Verweis auf bestehende demokratische Strukturen konservativ? Bringt uns nur Selbstgerechtigkeit und der Verzicht auf Demokratie weiter? Selbstermächtigende Gremien haben nur entfernt was mit Demokratie zu tun.
igDAly |JH
^^…falsche Sicht von regional-politisch, demokratisch entscheidend befähigten Bürger:innen-Zukunfts-Räten, die es nicht mehr so leicht durchgehen lassen würden, was die Politik so treibt, solange die politische Verantwortung von Bürgern an der Wahlurne endet,
lieber Bebbi;
Bürger-Räte sind schon politisch zwar anerkannt, akreditiert aber sie ändern noch nichts, ohne entsprechende Entscheidungsbefugnis an dem politischen „Weiter so“ obwohl diese Bürger, expertiert eindeutige Zeichen gesetzt haben, wozu wir als Gesellschaft bereit sind.
Alles was politisch passiert, oder auch nicht, wird immer noch nur mit wirtschafts-begründeten Machbarkeiten bzw. angeblich aus Unwählberkeit als unmöglich erklärt.
Die Wirtschaft selbst zeigt immer wieder, wieviel „mehr“ oft sehr wohl möglich ist, wobei wir unsere Politik und Zukunft nicht nur auf Wirtschaftsinteressen ausgerichtet sehen sollten.
lG:jh