Neues Buch „Fliessende Grenzen“ beleuchtet die Rolle von Emschergenossenschaft und Lippeverband in der NS-Zeit

Zur Zeit des Nationalsozialismus arrangierte sich die Konzernspitze mit dem Regime und räumte ökonomischen Interessen den Vorrang vor ideologischem Widerstand ein. Fotos: EGLV

Emschergenossenschaft und Lippeverband haben ihre Vergangenheit aufarbeiten lassen. Die beiden Wasserwirtschaftsverbände Emschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV) haben ihre Rolle während der Zeit des Nationalsozialismus erforschen lassen und erste Erkenntnisse im vergangenen Jahr der Öffentlichkeit vorgestellt. Ausführliche Ergebnisse der Forschungen werden nun in dem Buch „Fliessende Grenzen – Abwasserpolitik zwischen Demokratie und Diktatur“ veröffentlicht.

Verbände waren Teil des verbrecherischen nationalsozialistischen Systems

Vor der Kulisse des Emscher-Turms (li.) und der Essener Skyline präsentierten Christopher Kirchberg, Prof. Dr. Constantin Goschler, Dr. Emanuel Grün, Raimund Echterhoff, Prof. Dr. Uli Paetzel und Dr. Eva Balz das Buch „Fließende Grenzen“.

Vorgestellt wurde das 180 Seiten starke Buch jetzt in Essen in Anwesenheit aller drei Vorstandsmitglieder von Emschergenossenschaft und Lippeverband sowie der beteiligten Historiker*innen der Ruhr-Universität Bochum. ___STEADY_PAYWALL___

Kloake, Kanalsystem und Klärbecken – heute nehmen wir es kaum noch wahr, aber Abwasser ist beständiger Teil unseres Alltags. Ohne seine Bewirtschaftung würden moderne Gesellschaften zusammenbrechen. Wie aber verhalten sich Institutionen, die derlei grundlegende Strukturen verantworten, in so unterschiedlichen politischen Systemen wie Demokratie und Diktatur?

Seit 120 Jahren sorgen die beiden Abwasserverbände für ein reibungsloses Abwassermanagement im Ruhrgebiet. Mit Blick auf den Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit zeigen Eva Balz und Christopher Kirchberg in ihrem Buch auf, wie eine vermeintlich unpolitische Institution mit politischen Veränderungen umging, indem sie sich als unentbehrlicher Infrastrukturdienstleister inszenierte und damit an einem Herrschaftssystem wie dem Nationalsozialismus nicht nur teilhatte, sondern es auch stabilisierte.

Historische Verantwortung: Verbände bekennen sich klar zur demokratischen Grundordnung 

„Die Geschichte unserer Verbände während der Zeit des Nationalsozialismus hat gezeigt, dass vornehmlich technische Infrastrukturen wie die Abwasserwirtschaft im Ruhrgebiet alles andere als unpolitisch waren und sind. Sie sind immer Teil der Gesellschaft und des aktuellen politischen Systems. Die Art und Weise, auf die beide Wasserverbände ihren Aufgaben auch im Nationalsozialismus nachgingen, trug leider maßgeblich zu dessen Erhalt – und Erfolg – bei“, resümiert Prof. Dr. Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender von Emschergenossenschaft und Lippeverband.

Auch heute seien die öffentlich-rechtlichen Verbände trotz parteipolitischer Neutralitätspflicht nicht gänzlich unpolitisch: „Wir als Emschergenossenschaft und Lippeverband haben eine Verantwortung in der Region und diese nehmen wir wahr. Wir bekennen uns klar zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, sagt Paetzel und bezieht sich auf das Diktum des Philosophen Adorno, dass alles getan werden müsse, dass Auschwitz sich nicht wiederhole.

Dr. Emanuel Grün, Technischer Vorstand bei den Verbänden, sagt: „Obwohl die technisch geprägten Aufgaben in der Wahrnehmung von EGLV häufig dominieren, muss uns immer bewusst sein, dass dahinter Menschen stehen. Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass wir als Vorstand auch für die Vermittlung humanistischer Werte Verantwortung übernehmen können.“

Damit es sich nie wiederholt: Politische Bildung als fester Bestandteil der Ausbildung

Raimund Echterhoff, bei EGLV Vorstand für Personal und Nachhaltigkeit, sagt: „Anhand der Geschichte unserer Verbände werden wir unsere Auszubildenden für das Thema Nationalsozialismus und Fremdenfeindlichkeit sensibilisieren. Dies soll ein fester Bestandteil unserer Ausbildung sein, um den jungen Menschen die Konsequenzen scheinbar unpolitischer Handlungen im Arbeitsalltag bewusst zu machen. Das Ziel ist dabei, dass die Auszubildenden ihre eigene Rolle in aktuellen politischen Entwicklungen reflektieren.“

Im vergangenen Jahr hatten Eva Balz und Christopher Kirchberg Belege für den Einsatz von Zwangsarbeitern durch die Wasserverbände vorgestellt und die Aktenvernichtung nach Kriegsende thematisiert. Auch hatten die Nachforschungen gezeigt, dass auch bei EGLV Beschäftigte von rassistischen und politischen „Säuberungsprozessen“ betroffen waren.

„Die beiden Abwasserverbände waren Teil des menschenverachtenden Systems der Nationalsozialisten. Sie entließen Mitarbeiter jüdischen Glaubens oder sozialdemokratischer Überzeugungen und beschäftigten über ihre Auftragnehmer indirekt Zwangsarbeiter auf ihren Baustellen. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass der Vorstand und die leitenden Mitarbeiter bei EGLV überzeugte Nationalsozialisten waren“, sagt Eva Balz.

„Die Entscheidungen der Verbandsleitung folgten vor allem ökonomischen Überlegungen wie zum Beispiel beim Zwangsarbeitereinsatz: Dieser sicherten den Verbänden schließlich den Baufortschritt auch in den Kriegswirren – und das oftmals zu günstigen Konditionen – und damit ihre Daseinsberechtigung auch zur Zeit der NS-Diktatur“, fügt Christopher Kirchberg hinzu.

Ökonomie vor Ideologie: Unpolitisches Selbstverständnis führte zu Stillschweigen und Mittäterschaft

Beide Forschenden kommen in ihrem Buch zu der Erkenntnis, dass es im Handeln der Verbände nie wesentlich gewesen ist, inwiefern die Leitung sich mit den Zielen des Nationalsozialismus identifizierte. Im Vordergrund stand für EGLV stets die Frage, welche Entscheidungen ökonomisch vorteilhaft waren. 

Die Folgen des Nationalsozialismus wurden damit mindestens stillschweigend in Kauf genommen. Im Ergebnis stellt das Buch EGLV als eine Organisation vor, die sich stets als unpolitisch begriff und darstellte. Dieses Bild, so die Historiker, ist jedoch grundfalsch: 

Auch die Handlungen eines technisch geprägten Infrastrukturunternehmens, in dem vorwiegend nach ökonomischen Gesichtspunkten Entscheidungen getroffen wurden, waren politisch. Die Frage nach „Tätern“ ist so vielleicht nicht die richtige: Statt einigen schillernden Tätern und „Nazis“ tritt eine Vielzahl von Personen in den Blick, die Verantwortung am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen mittrugen.

Genossenschaft nutzte den nationalsozialistischen Gedanken der wirtschaftlichen Unabhängigkeit für sich

Seit über 100 Jahren hat die Emschergenossenschaft ihren Sitz in der Kronprinzenstraße 24 in Essen.

Im August 1935 eröffnete an der Grillostrasse im Essener Norden – dort betrieb die Emschergenossenschaft auf dem zwischenzeitlichen „Kirmesplatz“ die Kläranlage Essen-Nord – eine Gastankstelle. Hier wurden Faulgase aus den Kläranlagen der Emschergenossenschaft für den Fahrzeugantrieb vertrieben. 

Der Verband positionierte sich als Vorreiter neuer Technologien, mit denen eine Unabhängigkeit vom Weltmarkt erreicht werden kann. Diese Entwicklung muss nun im Kontext der damaligen politischen Realität betrachtet werden. Die NS-Wirtschaftspolitik strebte eine Unabhängigkeit von anderen Ländern an. Damit waren Bemühungen verbunden, möglichst viele Ressourcen selbst herzustellen oder zu ersetzen.

Mit der Gastankstelle fügte sich die Emschergenossenschaft in dieses System ein: Mit dem Faulgas sollte schließlich eine Alternative zu Benzin etabliert werden. Dieses simple Beispiel zeigt, dass die Emschergenossenschaft in der Lage war, sich in den neuen Rahmenbedingungen des Nationalsozialismus wirtschaftlich erfolgreich zu positionieren. Dabei nutzte sie den „Autarkie“-Diskurs der neuen Machthaber, um ihre Leistungsfähigkeit zu betonen und Produkte gewinnbringend zu veräußern.

Mitmachen durch Wegschauen und Zwangsarbeiter*inneneinsatz

„Die Verbände passten sich schnell an die Bedürfnisse des NS-Systems an. Politisches Handeln war durchaus immer noch möglich. Die Verbände haben sich jedoch lediglich gegen Maßnahmen der NS-Machthaber gewehrt, die ihrer eigenen Autonomie geschadet hätten – nicht aber gegen die Diskriminierung einzelner Personen“, fassen Balz und Kirchberg zusammen.

So lässt sich am Beispiel des Chefchemikers Dr. Hermann Bach erkennen, dass es für EGLV zweckmäßiger war, sich von einem lang gedienten Mitarbeiter zu trennen als sich für ihn zu verkämpfen. Dadurch lässt sich zwar keine direkte Verantwortung für Bachs Tod 1944 in einem Sammellager in Berlin ausmachen. Allerdings stellten sich die Verbände auch nicht vor den verdienten Mitarbeiter – stattdessen wurden NS-Gesetze widerstandslos ausgeführt.

Durch Fotos und Bauakten sowie Rechnungen lässt sich belegen, dass auf diversen Baustellen der beiden Verbände mindestens 100 sogenannte Fremdarbeiter zwischen 1942 und dem Kriegsende eingesetzt wurden. Auch hier waren mehr wirtschaftliche als ideologische Motive maßgebend für den Kriegsgefangeneneinsatz auf den Baustellen von EGLV: 

Nicht das durch die Machthaber propagierte Motiv der Vernichtung durch Arbeit, sondern die einfache Verfügbarkeit der Arbeiter diente als Hauptargument für den Einsatz von holländischen, französischen, russischen und jüdischen Arbeitern, denn diese ermöglichten EGLV ihre Arbeiten planmäßig (im Sinne des Systems) zu erfüllen, was ein gewichtiges Argument für die Wahrung der Selbstständigkeit der Abwasserverbände war.

Die schnelle Anpassungsfähigkeit der Verbände lässt sich auch gut am Umgang mit Zwangsarbeiterbaracken nachvollziehen. Wurden diese zunächst zur Zeit des Krieges gekauft, um selbst Zwangsarbeiter in Baustellennähe unterzubringen, dienten sie nach dem Krieg als Büroersatz für das zerstörte Hauptgebäude von EGLV in Essen.

 

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Weitere Informationen:

Fliessende Grenzen – Abwasserpolitik zwischen Demokratie und Diktatur

Klartext Verlag, ISBN: 978-3-8375-2183-2

Das Team der Ruhr-Universität Bochum – Dr. Eva Balz und Christopher Kirchberg unter der Leitung von Prof. Dr. Constantin Goschler – hat für die Studie in zahlreichen Archiven recherchiert, u.a. im Bergbauarchiv (Bochum), bei der Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln, im Westfälischen Wirtschaftsarchiv (Dortmund), im Landesarchiv Rheinland (Duisburg), im Landesarchiv Westfalen (Münster), im Bundesarchiv (Berlin), im Bundesarchiv (Koblenz), im Geheimen Preußischen Staatsarchiv (Berlin, in den National Archives (London) sowie im eigenen Foto-Archiv von Emschergenossenschaft und Lippeverband.

Emschergenossenschaft und Lippeverband sind öffentlich-rechtliche Wasserwirtschaftsunternehmen, die effizient Aufgaben für das Gemeinwohl mit modernen Managementmethoden nachhaltig erbringen und als Leitidee des eigenen Handelns das Genossenschaftsprinzip leben.

Die Aufgaben der 1899 gegründeten Emschergenossenschaft sind unter anderem die Unterhaltung der Emscher, die Abwasserentsorgung und -reinigung sowie der Hochwasserschutz. Der 1926 gegründete Lippeverband bewirtschaftet das Flusseinzugsgebiet der Lippe im nördlichen Ruhrgebiet und baute unter anderem den Lippe-Zufluss Seseke naturnah um.

Gemeinsam haben Emschergenossenschaft und Lippeverband rund 1.700 Beschäftigte und sind Deutschlands größter Abwasserentsorger und Betreiber von Kläranlagen (rund 740 Kilometer Wasserläufe, rund 1320 Kilometer Abwasserkanäle, rund 350 Pumpwerke und fast 60 Kläranlagen).

www.eglv.de

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