Geschichte erlebbar machen: FH-Doktorandin erforscht Methoden, um fotografisch die Erinnerungskultur zu stärken

In ihrer Masterarbeit an der FH Dortmund hat sich Lucrezia Zanardi bereits mit Etty Hillesum beschäftigt. Ihre Werke wurden unter anderem im Dortmunder U ausgestellt. Foto: Lucrezia Zanardi

Archiv – das klingt nach Keller, nach langen Regalen, nach staubigen Kartons mit altem Papier oder historischen Artefakten. Lucrezia Zanardi ist das zu wenig. Für ihre Promotion an der Fachhochschule Dortmund forscht sie zu Konzepten, um Archive mit fotografischen Mitteln neu erfahrbar zu machen. Ihr Credo: die bestmögliche Erhaltung der Dokumente und Artefakte bei bestmöglicher Benutzung. Ihre Protagonistinnen sind zwei von den Nazis ermordete jüdische Frauen.

Zanardi möchte mittels Fotografie, Geschichte nachvollziehbar und erlebbar machen

Etty Hillesum in den 1930er Jahren. Fotograf unbekannt / Quelle Wikipedia Gemeinfrei

Etty Hillesum, die niederländisch-jüdische Intellektuelle, starb im November 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau. Ihr Tagebuch mit ihren Gedanken zur menschlichen und spirituellen Entwicklung unter den Bedingungen von Krieg und Verfolgung begleitet Lucrezia Zanardi seit dem 13. Lebensjahr. Für ihren Masterabschluss in Fotografie an der FH Dortmund hat sie ehemalige Wohnorte von Etty Hillesum aufgesucht, fotografiert und die heutigen Bewohner*innen kennengelernt.

Ihre Recherchen aber begannen im Archiv des Jüdischen Historischen Museums in Amsterdam und mit einer Enttäuschung. „Bei der Betrachtung der fragilen Papiere und Tagebuchseiten von Etty Hillesum spürte ich eine Lücke – eine Diskrepanz zwischen dem, was ich vor mir sah und den Emotionen, die ich beim Lesen der Tagebücher hatte“, erinnert sie sich. Es fehlten Möglichkeiten, um die Orte der Ereignisse und die Beziehungen zu den Menschen nachvollziehbar und erlebbar zu machen.

Für ihre Promotion an der FH Dortmund in Kooperation mit der Radboud Universität (Nijmegen) sucht Lucrezia Zanardi nun mithilfe der Fotografie nach neuen Wegen für die Wissensweitergabe in Archiven. „Mitunter ermöglichen Fotografien einen direkteren Zugang zu historischen Dokumenten und Artefakten, die wir nicht einfach anfassen können“, sagt die Doktorandin. „Bilder können unsere Erfahrung ergänzen.“

Visuelle Interaktion mit den Schicksalen zweier jüdischer Frauen im Nationalsozialismus

Lucrezia Zanardi entwickelt eine künstlerische Forschung über Archive und die Erarbeitung von Archivierungsprozessen durch fotografische Mittel. Foto: „Etty Hillesum Huis“-Stiftung

Neben Etty Hillesum hat sie sich für die Doktorarbeit eine zweite Protagonistin gesucht: Edith Stein, die deutsche Philosophin und Frauenrechtlerin jüdischer Herkunft wurde 1942 ebenfalls in Auschwitz-Birkenau umgebracht. Beide Frauen waren sich im Lager Westerbork begegnet. Etty Hillesum schreibt darüber in ihrem Tagebuch. 

„Ich möchte eine visuelle Interaktion mit den Lebenswegen beider Frauen schaffen und dabei untersuchen, wie unser Umgang mit historischen Personen und Ereignissen methodisch mit fotografischen Mitteln erweitert werden kann“, sagt Lucrezia Zanardi. 

Ihre Fotografien sind keine nüchternen Dokumentationen, die nur Realität abbilden. Es sind Ausschnitte, Fragmente, Arrangements. Sie erzeugen beim Betrachten Emotionen. Es gehe nicht nur um die Archivierung von Objekten, sondern darum, wie wir Erinnerung erarbeiten und uns auf die Vergangenheit bezögen, erklärt die Doktorandin.

Zanardis Arbeit fließt in die niederländische „Etty Hillesum Huis“-Stiftung ein

Parallel zu ihrer Doktorarbeit bringt Lucrezia Zanardi ihre Erkenntnisse in die niederländische „Etty Hillesum Huis“-Stiftung ein. Die Stifter wollen das Geburtshaus der jüdischen Intellektuellen zu einem Institut für Bildung, Forschung, Kunst & Kultur machen und sammeln dafür gerade Geld mittels Crowdfunding. 

„Historische Orte bilden den Kontext für Dokumente aus den Archiven“, sagt die Doktorandin. Das Geburtshaus werde als einer von diesen Orten bald neu belebt. Dabei gehe es nicht nur um die Präsentation von Leben und Werk, sondern um Erinnerungskultur und einen kontinuierlichen Dialog.

Historischer Hintergrund zu Etty Hillesums Tagebüchern

Sie begann ihr Tagebuch am 9. März 1941, im durch Deutsche besetzten Amsterdam auf Anraten ihres Psychologen Julius Spier, bei dem sie gerade eine Therapie begonnen hatte. Die Tagebücher Hillesums dokumentieren eine tiefe innere Wandlung und manifestieren ihr literarisches Talent. 

Am 7. September 1943 wurde Etty Hillesum nach Auschwitz deportiert. Vor ihrer Abreise übergab sie ihre Tagebücher Freunden, in der Hoffnung, dass sie eines Tages veröffentlicht werden könnten. Eine Auswahl wurde 1981 erstmals publiziert. Heute sind ihre Worte in mehr als siebzehn Sprachen übersetzt worden.

 

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