Entschuldigen Sie! Eine kurze Frage: Merken Sie denn nicht, dass sie da mit Nazis auf der Straße marschieren?

Wutbürger*innen, Esoteriker*innen, fundamentalistische Christ*innen, Antikapitalist*innen und rechte Trittbrettfahrer*inen: in der Querdenken-Bewegung kommen sie alle zusammen. Foto: Leopold Achilles / Archiv

Von Gina Thiel

Querdenker und positiv? Tatsächlich beschreibt der Begriff ursprünglich eine positive Eigenschaft: über den eigenen Tellerrand blicken, die eingespurten Bahnen verlassen und auch mal die Scheuklappen absetzen. Die Beschreibung bekommt vor den aktuellen Bildern aus Kassel oder auch denen aus der Vergangenheit leider einen fahlen Beigeschmack. Wir erinnern uns: September 2020, Querdenker-Demo in Berlin, die einem Aufmarsch der rechten Szene glich und ihren traurigen Höhepunkt in der versuchten Erstürmung des Reichstages fand. Drei Minuten waren es. Symbolische drei Minuten, die uns mit Sorge auf die Querdenker-Bewegung blicken lassen sollte? Ja, meint Dr. Harald Lamprecht, Beauftragter für Weltanschauungsfragen der evangelischen Kirche in Sachsen. Er war zu Gast bei der Veranstaltung „Ver-Querdenker – Neue Mischszene am rechten Rand“ des evangelischen Arbeitskreises und Christ*innen gegen Rechts am 22. März.

Eine Bewegung, die ohne Verschwörungstheorien keine Argumentationsgrundlage hat – da ist doch was faul.

Die führenden Neonazis - Sascha Krolzig und Michael Brück - verteilten Grundgesetze. Eine gezielte Provokation, da das Verteilen von was auch immer aus Infektionsschutzrechtlichen Gründen untersagt wurde. Die Beschlagnahme der Grundgesetze schlachteten die Neonazis natürlich medial aus.
Nenonazis Sascha Krolzig und Michael Brück versuchen, eine Kundgebung der Impfgegner zu instrumentalisieren. Archivfoto: Alex Völkel

Dr. Harald Lamprecht, Beauftragter für Weltanschauungsfragen der evangelischen Kirche in Sachsen beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Rechtsextremismus und Rechtspopulismus. Er blickt mit Sorge auf die Querdenkerbewegung und warnt deutlich, dass man beobachten könnte, dass viele Menschen aus bürgerlichen Verhältnissen auf die Straße gehen, aber keinerlei Distanz zu rechten Gruppierungen zeigen.

„Wenn ihre Demo von Rechten beworben, angemeldet oder unterwandert wird.“ Dabei gäbe es auch nicht wenig Spielraum für Ausreden oder Herausreden, wenn man alle Willkommen heißt, ob Hooligan oder Nazi. „Da wird das explizit formuliert, was man mit dem Begriff als rechtsoffen bezeichnet“. Man möchte fast meinen, damit sei eine Antwort auf die Eingangsfrage gefunden.

Man muss allerdings klar herausstellen: Nicht jeder Querdenker ist auch ein Nazi. Die Querdenkerbewegung ist eine Sammelbewegung, die es zu schaffen scheint, Menschen aus beinah allen gesellschaftlichen Schichten zu vereinigen. Wer sind nun diese Querdenker?  Dr. Harald Lamprecht meint, fünf verschiedene Gruppen erkannt zu haben:

Dr. Harald Lamprecht ordnet  Querdenker*innen fünf verschiedene Typen zu

Typ 1 – „Die Verärgerten“: Dieser Typ symbolisiert den/die ganz normale Otto/Anna-Normal-Bürger*in. Sie sind verärgert über die Maßnahmen, genervt von der Maske und davon, nicht in den Urlaub fahren zu können. Viele von ihnen treffen Aussagen wie: „Corona ist nur ein Schnupfen“ und die strengen Maßnahmen der Regierung werden gern mit aufgegriffenen Verschwörungstheorien begründet.

Eine ungute Melange von Kritiker*innen der Corona-Maßnahmen, Impfgegner*innen und Verschwörungstheoretiker*innen versammelte sich auf dem Alten Markt. Unter sie mischten sich Neonazis. Foto: Alex Völkel
Querdenker am Markt in Dortmund. Unter sie mischten sich Neonazis. Foto: Alex Völkel

Typ 2 – „Die Esoteriker“: Die gab es auch schon vor der Pandemie. Laut Lamprecht leben sie in gewisser Distanz gegenüber der wissenschaftlich begründeten Medizin und sind oft kultbegründete Impfgegner*innen. Diese nicht neue Grundstimmung trifft nun auf Verschwörungstheorien bezüglich der Pharmaindustrie. Das verdoppele ihre Schubkraft und führe in Teilen auch zu üblem Antisemitismus.

Typ 3 – „Fundamentalistische Christen“: Obwohl es diese schon vor der Corona-Pandemie gab, schließen sie sich teilweise sehr freudig der Querdenkerbewegung an. Ihnen geht es aber hauptsächlich um die Ausübung ihres Gottesdienstes. Nachdem im Rahmen der Corona-Maßnahmen auch Gottesdienste verboten wurden, sahen sie sich in ihrer Religionsausübung beraubt und schlossen sich der Querdenkerbewegung an.

Typ 4 – „Die Antikapitalisten“: Sie vertreten eine eher linke Perspektive und sehen den Lockdown als Maßnahme der Politik, um den Zusammenbruch des Finanzkapitalmarktes zu verschleiern. Auch hier sind Verschwörungstheorien gern genutzte Argumentationsgrundlage und häufig auch einzige.

Typ 5 – „Die rechten Trittbrettfahrer“: Sie sind erst seit August 2020 mit auf den Zug der Querdenkerbewegung aufgesprungen, so Lamprecht. Medizinische Fragen seien ihnen egal, es gehe hauptsächlich gegen den Staat. Alles was das bestehende Ordnungssystem destabilisiere, helfe denen, die eine neue Ordnung aufstellen wollen, macht Lamprecht deutlich. Alles und jeder, der regierungskritisch ist, wird unterstützt.

Wie umgehen mit (Ver-) Querdenkern im Abseits des Demokratieverständnisses?

Foto: Leopold Achilles

Die Querdenkerbewegung ist zu einer sehr breiten und diversen Szene geworden. Was sie alle verbindet, ist die Utopie: ein Ende der Pandemie. Dr. Harald Lamprecht hat für die Bewegung einen fast poetischen Vergleich: Es sei, als würde man versuchen, den Regen zu beseitigen, indem man den Regenschirm wegschmeiße. Der Unterschied sei jedoch, dass es dem Regentropfen egal ist, ob man einen Regenschirm habe oder nicht – das ändert nichts an der Regenintensität. Die Viren jedoch jubeln, wenn ich die Maske wegwerfe.

Die Erklärungen Lamprechts sind schlüssig, die Beispiele treffend, dennoch bleibt am Ende der Diskussionsrunde ein großes Fragezeichen. Wie genau man mit der Bewegung umgehen solle, dafür habe auch Lamprecht keine Musterlösung. Was er aber hat, ist eine Warnung: Man müsse eine differenzierte Sichtweise an den Tag legen. Man könne nicht jeden Querdenker als Nazi betiteln, das vermittele einen falschen Eindruck.

Die 20.000 Menschen, die sich am vergangenen Wochenende in Kassel zur (unerlaubten) Querdenker-Demonstration versammelt haben als Nazi-Sympathisanten zu bezeichnen, das spiele vor allem den Rechten in die Karten „damit tun wir den Nazis den größten Gefallen, weil das genau ist, was die wollen mit ihrem Engagement bei diesen Demos“, betont Lamprecht. Was alle Anhänger der Bewegung aber vereint, sei die Verweigerung der Solidarität und ein zunehmend demokratiefeindliches Klima.

Kann Religion die Lösung bringen und (wieder einmal?) Teile der Menschheit vor sich selbst retten?

„Wichtig ist, die Menschen mit Vernunft zurückzugewinnen“, verkündet Lamprecht kämpferisch. Man müsse Verschwörungsmythen mit einem klaren „Nein“ entgegentreten, aber den Menschen mit Zuwendung. Warum? Weil diese Menschen Teil der Gesellschaft sind. Man könne sie nicht einfach auf den Mars aussiedeln, sie sind da und man muss mit ihnen umgehen.

Er verweist auf den Hirten in der Bibel, der seine Herde allein lässt und sich auf den gefährlichen Weg begibt, sein eines verlorenes Schaf zu retten. Querdenker verloren geben, sei keine Lösung „Wir sind alle Sünder und auf Vergebung angewiesen“, betont er. Man müsse die Menschen zurück auf den Pfad der Demokratie lenken und nicht dafür sorgen, sie noch weiter ins Abseits der Gesellschaft zu drängen.

Das Querdenker offensichtlich nicht merken, dass sie mit Nazis demonstrieren, dass kann Lamprecht nicht bestätigen – eher im Gegenteil. Es ist eine Mischung aus Naivität und Leugnung. Würde man sich die Nazis innerhalb der Bewegung eingestehen, müsste man aktiv handeln und sich entweder gegen die Nazis stellen und damit die eigene Bewegung schwächen oder sich klar im rechten Spektrum verorten. „Sie wollen es nicht wissen und man will sich nicht damit beschäftigten“, so Lamprechts Eindruck.

Das „Gerede von der Spaltung der Gesellschaft“ ist für Lamprecht trotzdem unangemessen. „Gesellschaft besteht aus Interessenkonflikt und Demokratie ist die Methode zur Gestaltung der Interessenkonflikte“.

 

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Reaktionen

  1. Marcos Haltenberger

    Interessant, dass #querdenker gesamtheitlich ins quasi ‚Rechte Licht‘ gerückt werden, wohin gegen die #unteilbar-Bewegung sich mit den Worten ‚.. Je mehr desto besser..‘ heraus reden darf. Es wird, wie bei vielen Themen dieser Tage, also am liebsten mit zweierlei Maß gemessen. Fakt ist jedoch, wenn die #querdenker-Bewegung sich deutlich vom rechten Rand distanzieren soll, dann gilt dies ebenfalls für #unteilbar. Dort marschierten ‚Graue Wölfe‘ (welche neben bei die größte rechtsextreme Gruppe ganz Deutschland darstellt) mit, genauso wie klerikale Faschisten, Muslimbrüder und Verfassungsfeinde wie der sogenannte Zentralrat der Muslime mit.

  2. Bianca Müller

    @Marcos Haltenberger: Guter Punkt mit den „Grauen Wölfen“. An der Stelle muss definitiv noch mehr Information für die breite Öffentlichkeit erfolgen. Ob der Zentralrat de Muslime verfassungsfeindlich ist, kann ich nicht einschätzen.

    Der Artikel verliert durch Ihre Gegenüberstellung jedoch keineswegs an Gewicht. Ich möchte nun keinen Whataboutism unterstellen, sondern verstehe den kritischen Einwand.
    Zu bedenken wäre bei Ihrer Gegenüberstellung, für was in erster Linie demonstriert wird. Es ist ein Unterschied, ob man sich einem Bündnis anschließt, das antirassistisch geprägt ist oder ob man einer Bewegung folgt, die wissenschaftsleugnerische und sozial-darwinistische Tendenzen an den Tag legt.
    Das heißt natürlich nicht, dass es bei der einen oder der anderen Bewegung einerseits Idioten und aufrührerische Gestalten gibt, die mitlaufen oder aber ungefährliche, aber sich sorgende Menschen, die an der Demonstration teilnehmen. Trotzdem sollte sich jeder Gedanken machen, „unter welcher Flagge“ er da läuft. Also, meines Erachtens ein riesengroßer Unterschied. Es muss dann natürlich auch Stellung genommen werden, wenn deutlich wird, dass bei der Versammlung „für die gute Sache“, Gruppierungen oder Individuen teilnehmen, die eigentlich/sonst „Böses im Schilde führen“.

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