Entfremdung zwischen Politik und Wähler*innen: Wie Sahra Wagenknecht die Menschen wieder erreichen will

Neujahrsempfang Linke-Piraten 2020
Dr. Sahra Wagenknecht sprach beim Neujahrsempfang der Dortmunder Ratsfraktion der Linken & Piraten vor allem über soziale Themen und die Entfremdung zwischen Politik und Wähler*innen. Fotos: Klaus Hartmann

Von Claus Stille

Der Neujahrsempfang der Dortmunder Ratsfraktion Die Linke & Piraten fand im Wichernhaus statt. Prominenter Gast war Dr. Sahra Wagenknecht (MdB, Die Linke). Die Politikerin sprach über viele wichtige gesellschaftliche, vor allem soziale Themen. Sie kritisierte zudem den „Überwachungskapitalismus“, westliche Kriege, die statt Menschenrechte nur Tod und Zerstörung gebracht hätten und skandalisierte das viel zu hohe Rüstungsbudget. Und die augenscheinliche Bedrohung Russlands mit Manövern an den Grenzen zu dem Land.

Utz Kowalewski: Die „sogenannte Herzkammer der Sozialdemokratie könnte kippen“.

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Utz Kowalewski prognostiziert einen Infarkt in der Herzkammer der Sozialdemokratie.

Utz Kowalewski, Chef der Fraktion Die Linke & Piraten im Dortmunder Rat, kam auf die ungewöhnliche Situation in Thüringen nicht explizit zu sprechen. Aber die Situation in Dortmund sei auch ungewöhnlich.

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Hier arbeite zwar niemand mit den Rechten zusammen, aber zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gebe es die Situation, dass die „sogenannte Herzkammer der Sozialdemokratie kippen könnte“. 

Erstmals könnte ein Oberbürgermeister gewählt werden, der nicht aus den Reihen der SPD kommt. CDU und Grüne hätten sich nicht auf einen gemeinsamen OB-Kandidaten einigen können. Die CDU trete mit einem „Kandidaten aus der Provinz, aus der 17.000-Seelengemeinde Altena, an. 

Die Grünen schickten ihre Schuldezernentin ins Rennen. Die Kampfansagen an die SPD stünden. Kowalewski vor vollem Saal: „Die Linke legt sich die Karten in Bezug auf die Frage einer Oberbürgermeisterkandidatur jetzt erst am 22. Februar.“ Für ihre Arbeit und ihr Engagement dankte Utz Kowalewski den Mitarbeiter*innen der Fraktionsgeschäftsstelle.

Kann man betreffs der Thüringer Ereignisse von einer halben Staatskrise sprechen?

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Sahra Wagenknecht und Moderator Thomas Engel.

Als prominenter Gast des Neujahrsempfangs war Dr. Sahra Wagenknecht (seit 2009 MdB, Die Linke) eigens aus Berlin angereist. Sie teilte sich die Bühne mit Thomas Engel, einem Dortmunder Journalisten, welcher moderierte.

Einen Tag zuvor sei sie noch in Hamburg im Wahlkampf gewesen, um zu motivieren, sagte Dr. Wagenknecht. Sie hoffe, „dass nach dem Desaster von Thüringen, vielen noch einmal bewusst geworden ist, dass es so wichtig wäre auch in Hamburg jetzt ein Signal nach Links auszusenden“.

Ob man nun angesichts der Ereignisse in Thüringen von einer halben Staatskrise sprechen könne, wollte Moderator Engel von der Politikerin wissen. Den Rückzug etwa von Annegret Kramp-Karrenbauer vom Amt der CDU-Vorsitzenden wollte Wagenknecht nicht nur auf die Ereignisse in Thüringen zurückführen. Kramp-Karrenbauer sei „schon vorher unten durch“ gewesen.

Wagenknecht sieht den Aufstieg der AfD als Versagen der regierenden Parteien

Was in Thüringen passiert ist, sei ihrer Meinung nach ein gezielter Versuch gewesen. „Das ganze Gequatsche, wir sind da reingelegt worden und wir wussten ja gar nicht, wie uns geschieht, und der böse Höcke …“, hält sie für unglaubwürdig. 

Neujahrsempfang Linke-Piraten 2020
Der Neujahrsempfang der Linken fand im Wichernhaus in der Nordstadt statt.

Nein, darüber sei doch zuvor schon auf Fraktionssitzungen und auf Twitter diskutiert worden. Es sei einfach ein Test gewesen, auszuprobieren, ob das geht, „ob das öffentlich akzeptiert wird“. Zum Glück habe es einen so klaren Aufschrei in der Öffentlichkeit gegeben.

Man müsse doch vielmehr darüber diskutieren, wie es überhaupt zu solchen Konstellationen wie in Thüringen gekommen sei, gab Dr. Wagenknecht zu bedenken. Dass so viele AfD wählten, sei doch nicht vom Himmel gefallen. Das habe damit zu tun, dass Menschen sich von der Politik im Stich gelassen fühlten. 

Ein Ergebnis von Politikversagen der Regierenden sei das. Man habe halt seit Jahren eine Politik, die die Ungleichheit im Lande immer weiter vergrößere. Die GroKo schaue zu, wie die Altersarmut wachse und sei seit zwei Jahren nicht imstande „eine mickrige Grundrente zustande zu kriegen“.

Die Diskrepanz zwischen „abgehobenen Debatten“ und der Lebensrealität der Bürger*innen

Warum, wollte Thomas Engel wissen, wählten dann nicht mehr Menschen Die Linke? Einerseits fänden die Leute, antwortete Sahra Wagenknecht, wenn sie AfD wählen, könnten sie die Etablierten stärker ärgern.

Betreffs ihrer eigenen Partei gestand Wagenknecht aber auch Fehler ein. Immer wieder müsse man sich nämlich hinterfragen: „Sprechen wir die Sprache der Leute, erreichen wir sie mit dem, wie wir diskutieren?“ Führe man nicht auch teilweise „abgehobene Debatten, die an der Lebensrealität vieler Menschen vorbeigehen“?

Mittlerweile habe die Linke gute Werte bei Akademikern und Studierenden. Das sei nicht schlecht. „Aber es ist ein richtiges Problem, wenn wir die Ärmeren nicht mehr erreichen“, gab Wagenknecht zu bedenken. Den Leidtragenden des Neoliberalismus müsse ihre Partei eine Stimme geben.

Umwelt- und Klimaschutz in einer Wegwerf-Gesellschaft?

Sahra Wagenknecht sprach u.a. über Umwelt-, Klima und Lebensmittelpreispolitik, kritisierte Globalisierungsauswüchse und fragwürdigen „Frei“-Handel sowie benannte Probleme des Strukturwandels. Und sie empörte sich über die unsägliche Schuldenbremse. 

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Wagenknecht:  „Es gibt keinen umweltverträglichen Konsum in einer Wirtschaftsordnung, die auf Verschleiß und Wegwerfproduktion setzt.“

Wagenknecht trat für staatliche Investitionsprogramme sowie für eine vernünftige Bezahlung in der Pflege ein. Dr. Wagenknecht sagte, es müssten Regeln geschaffen werden, „dass wir anders produzieren“. „Es gibt keinen umweltverträglichen Konsum in einer Wirtschaftsordnung, die auf Verschleiß und Wegwerfproduktion setzt“, meinte die Politikerin.

Wagenknecht fand auf Nachfrage des Moderators, dass man in der Gesellschaft freilich ein Mehr an Solidarisierung bräuchte. In Frankreich etwa sei das eher der Fall, selbst dann, wenn man unter einem Generalstreik selber leide. Hierzulande sei es zu oft der Fall, dass Menschen gegeneinander ausgespielt würden und so Solidarität und eine Gemeinschaft mit anderen in der Gesellschaft verhindert werde.

Wäre ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) eine Lösung, wollte Thomas Engel wissen. Das verneinte Sahra Wagenknecht ausdrücklich. Ein BGE hält sie für falsch. Hartz IV sei freilich unwürdig und mache Menschen krank. Es sei ein unsägliches System, dass unter Gerhard Schröder eingeführt wurde, um einen Niedriglohnsektor zu schaffen. 

Wagenknecht:Deutschland ist ein besonders bildungsungerechtes Land.“

Auch das Thema Bildungsgerechtigkeit kam zur Sprache. Dazu sagte Wagenknecht, wir hätten „mit Deutschland ein besonders bildungsungerechtes Land“. Es sei eigentlich ein ständiger Skandal, dass wir eine Situation hätten, „wo die Perspektiven eines Kindes in extremer Weise davon abhängen, was die Eltern sind“.

Ohnehin sei das dreigliedrige Schulsystem von Übel. Weil soziale Selektion befördert werde. Aber in den letzten zwanzig Jahren habe man sogar noch ein „richtiges Rollback erlebt“. 

Verändert habe sich, wie die Schulen ausgestattet seien. Heute sei das Bildungssystem stark unterfinanziert. Früher habe es auch eher gemischte Wohnviertel gegeben. Ärmere und reichere Familien hätten eher in gemeinsamer Nachbarschaft gelebt und die Kinder wären zusammen in eine Schule gegangen. Heute gebe es Wohngebiete, wo fast nur noch die Armen lebten. 

Und Reichenviertel. Die sich es leisten könnten, würden die Flucht ergreifen. Schulen, die am meisten strukturelle Förderung bräuchten – die in sogenannten sozialen Brennpunkten – seien in der Regel die am schlechtesten ausgestatteten. Auch gebe es heute viel mehr – sehr gut ausgestattete – Privatschulen, die sich nur die Reicheren leisten könnten. Wagenknecht plädierte für mehr Ganztagsschulen, ein längeres gemeinsames Lernen.

Frage aus dem Publikum: Sahra Wagenknecht for Bundeskanzlerin?

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Das Publikum fragte nach einer Kanzlerinnenkandidatur Wagenknechts.

Gegen Ende des Auftritts von Dr. Sahra Wagenknecht wurde ihr noch eine Frage gestellt, die aus dem Publikum heraus eingereicht worden war: Was halte sie von einer Kandidatur ihrerseits als Bundeskanzlerin? 

Die Frage brachte Sahra Wagenknecht zum Schmunzeln. Zum Einen, antwortete sie, könne man ja in Deutschland nicht für das Amt des Bundeskanzlers kandidieren, zum Anderen würde sie sich schon wünschen, dass ihre Partei einmal die Stärke bekäme, dass sie mit einem Kanzlerkandidaten in Wahlen ziehen könne.

Aber da müsse sich die Partei noch ziemlich ranhalten. Wir bräuchten auf jeden Fall zunächst einmal eine andere politische Mehrheit. Es sei ein Trauerspiel, dass die SPD sich nicht fange. 

Die Merz-Frage – kann er rechte Ränder „aufsaugen“? – löst ein Murren aus

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Eine spannende Frage hatte sich der Moderator für den Schluss aufgespart.

Manche Linke, oder Leute, die sich für links hielten, fragte Moderator Engel noch, wären froh, wenn Friedrich Merz AKK nachfolge. Weil er den rechten Rand der Christdemokraten aufsaugen könne. Ein Murren im Publikum.

Wagenknecht aber glaubte nicht, dass Merz AfD-Wähler*innen wieder zu CDU-Wähler*innen mache. Der Unmut der Leute hänge an einer bestimmten Politik und für diese stehe ja auch Merz. Selbst SPD-Leute liebäugelten ja mit ihm: dann würde die CDU sich wieder mehr von der SPD unterscheiden. Dr. Wagenknecht dazu: „Mein Gott, die SPD muss sich unterscheiden, die muss sich wieder finden!“

Dann war die gute Stunde mit Sahra Wagenknecht auch schon wieder um. Sie musste zurück nach Berlin. Am nächsten Tag stand eine Bundestagssitzung an. Die Fraktion Die Linke & Piraten ließ den Abend noch bei Speis und Trank und mit anregenden Gesprächen untereinander ausklingen.

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