Abschied vom Bezirksbürgermeisteramt: Im Kampf mit Vorurteilen, alltäglichen Problemen und strategischen Plänen

Bezirksbürgermeister , Nordstadt, Ludwig Jörder
Auch Nordstadt-Bezirksbürgermeister Dr. Ludwig Jörder hört in diesen Tagen auf. Archivfoto: Klaus Hartmann

Die letzten Tage und Wochen des scheidenden Bezirksbürgermeisters der Innenstadt-Nord, Dr. Ludwig Jörder (SPD) sind – was Dienstpflichten angeht – sehr ruhig. Bereits Ende Oktober hat er die Einladung zur nächsten Sitzung der Bezirksvertretung am 11. November verschickt. Bekommen hat er sie selbst aber nicht mehr  – eingeladen sind die neu gewählten Mitglieder. Dann wird auch seine Nachfolge bestimmt. Jörder hatte sich gegen eine erneute Kandidatur entschieden. Eigentlich wollte er schon 2014 nicht Bezirksbürgermeister werden. Durch mehrere Zufälle kam er an sein Amt – und gewann dann Gefallen daran…

„Nach einer kleinen Eingewöhnungsphase hat es mir sehr viel Spaß gemacht“

Alterspräsidentin Gerda Horitzky dankte Siegfried Böcker.
2014 verabschiedete BV-Alterspräsidentin Gerda Horitzky den scheidenden Bezirksbürgermeister Siegfried Böcker.

Gleich zwei Zufälle brachten ihm die wichtige ehrenamtliche Aufgabe ein: „Kurzfristig fehlte auf der BV-Liste durch einen beruflichen Zuzug einer“, erinnert sich Jörder. Er wurde auf Listenplatz 7 für die SPD aufgestellt. Als dann der Amtsinhaber Siegfried Böcker schwer erkrankte, musste die SPD sich neu orientieren. „Mehrere hätten gekonnt, wollten aber nicht. Ich wurde so der einzige Bezirksbürgermeister, der auf Platz 7 seiner Partei kandidiert hat“, sagt er amüsiert. 

Heute zumindest amüsiert ihn das. „Damals habe ich mich schwergetan mit der Entscheidung. Nach einer kleinen Eingewöhnungsphase hat es mir aber sehr viel Spaß gemacht“, betont der frühere Geschäftsführer der Westfalenhallen. Noch eine Amtszeit wollte er dennoch nicht anstreben:  Schließlich sei er 74 Jahre alt. 

Hätten die Wähler*innen ihm das Vertrauen geschenkt, wäre er am Ende der nächsten Amtszeit 79 gewesen. Daher entschied er sich gegen eine erneute Kandidatur. Wahrscheinlich war es die richtige Entscheidung. Denn Thomas Oppermann, den die SPD als seinen Nachfolger ins Rennen geschickt hat, wird Jörders Nachfolge nach dem überraschenden Wahlsieg der Grünen nicht antreten können. Oppermann wird nun voraussichtlich nur erster Stellvertreter.

Viele ganz große Projekte im Norden auf den Weg gebracht und teils schon realisiert

Luftaufnahme des entstehenden Logistik-Parks auf der Westfalenhütte. Quelle: Garbe Logistik

Auf die mit sechs Jahren ungewöhnlich lange Amtsperiode schaut Jörder gerne zurück: „Ich war doch erstaunt, dass man das ein oder andere beeinflussen und mitentscheiden kann und Entscheidungen prägen“, sagt er mit Blick auf die eigentlich überschaubaren Zuständigkeiten der Bezirksvertretung.

„Wir können viele Dinge fördern und Leuten helfen. Wir haben einen starken Schwerpunkt auf die Unterstützung von Schulen und Kitas gelegt und im Rahmen der Möglichkeiten relativ gut die Anliegen aus dem Bildungsbereich mit entschieden und auch Weichen gestellt“, so Jörder. 

In den sechs Jahren wurden viele ganz große Projekte im Norden auf den Weg gebracht und teils auch schon realisiert. Das mache den Unterschied aus: Früher habe man Pläne diskutiert, die dann realisiert wurden oder eben nicht. Doch jetzt seien alle großen Vorhaben auf dem Weg, sagt er mit Blick auf das Neubaugebiet Stahlwerkstraße auf der Westfalenhütte, die Entwicklung der Speicherstraße im Hafen oder auch die künftigen Entwicklungen auf der Bahnhofsnordseite. 

„Das sind sehr massive Strukturverbesserungen, auch wenn davon am Hauptbahnhof noch am wenigsten erkennbar ist“, so Jörder. Aber auch die Entwicklungen auf der ehemaligen HSP-Fläche seien für die Nordstadt wichtig. Schließlich gebe es im Hafen-Quartier enge Verbindungen zum Unionviertel: „Smart Rhino hat auch Auswirkungen und wird die Nordstadt stärken. Mal schauen, wann die H-Bahn kommt. Je enger die verkehrlichen Verbindungen, desto größer ist der Effekt für den Norden“, glaubt der scheidende Bezirksbürgermeister. 

Nordspange und Vollanschluss Westfaliastraße: Verkehrliche Anbindung bleibt Thema

Das Container-Terminal Dortmund (CTD) platzt aus allen Nähten. Der Hafenbahnhof soll Entlastung bringen.
Das Container-Terminal Dortmund (CTD) platzt aus allen Nähten. Der Hafenbahnhof bringt Entlastung – aber auch zusätzlichen Verkehr. Archivbilder (4): Alex Völkel

„In der Politik beschäftigst du dich oft mit Sachen, deren Realisierung du jedenfalls nicht mehr in der Politik mitmachst und die dich vielleicht auch nicht mehr persönlich betreffen“, sagt er mit Blick auf die teils sehr langen Zeiträume von solchen Großprojekten. Vor allem die Verkehrsvorhaben hätten eine teils jahrzehntealte Vorgeschichte. 

„Hinter der Nordspange stehen ja auch Themen, die zig Jahre alt sind. Hier geht es aber so vorwärts, dass man nicht dran zweifelt, dass es passiert.“ Es gebe positive Veränderungen, sodass mittlerweile selbst der  Vollanschluss Westfaliastraße realistischer erscheint. Die relativ hohen Kosten sollten dennoch realisiert werden. Nicht (nur) mit Blick auf die Bedeutung der Logistik, sondern vor allem auch mit Blick auf die benachteiligten Anwohner*innen.

Daher sei der Vollanschluss wichtig, der der Nordstadt, aber vor allem auch den Menschen in Huckarde helfe. Die Verkehrsanbindungen von Hafen und Container-Terminal sollten von Westen und nach Westen erfolgen – dafür sei die OWIIIa ja mal gebaut worden. Die Zugänglichkeit nach Osten sei natürlich auch ein Thema – das wäre die Nordspange. „Hoffentlich“, so Jörder.

Bezirksvertreter*innen beschäftigen sich oft mit einzelnen Problemen und Nöten

Doch die Weichen für die ganz großen Themen würden in Rat und Verwaltung gestellt, bei denen man als Bezirksbürgermeister im Vorfeld aber häufiger informell konsultiert werde. 

„In der BV beschäftigen wir uns vor allem mit einzelnen Sorgen und Nöten. Daher ist es bitter, wenn man hört, dass die Politiker sich nicht kümmern würden. Das ist totaler Unfug“, sagt Jörder mit Blick auf Äußerungen im Internet, die auch von Kandidat*innen neuer Parteien befeuert würden. 

„Wir sind ja ständig mit irgendwelchen Problemen konfrontiert, die einzeln besprochen werden oder in nachbarschaftlichen Treffen. Diese sind sehr wichtig, weil nicht nur die BV, sondern auch viele andere dabei sind – zum Beispiel Ordnungsamt, Polizei, EDG und andere“, verdeutlicht der 74-Jährige. 

Sauberkeit und Sicherheit, aber auch Lärm und die sich daraus ergebenden Probleme seien den Menschen da am wichtigsten. Gefolgt von Parkproblemen oder auch Drogenhandel im direkten Wohnumfeld.

Ziel: Aus dem Stadtteil des Ankommens auch einen Stadtteil des Bleibens machen 

Die Beratungsstelle "Willkommen Europa" in der Bornstraße 64.

Als größte Herausforderung sieht der scheidende Bezirksbürgermeister aber die Zuwanderung und die damit verbundene Fluktuation. Die Nordstadt müsse seit Jahrzehnten massiv hohe Integrationsleistungen für die Gesamtstadt vollbringen – und mache das auch sehr erfolgreich. „Es ist immer schön, wenn die Stadt uns lobt und die gesamtstädtische Bedeutung hervorhebt.“ 

Doch das dürfe aber nicht den Blick darauf verstellen, dass viele Menschen der Nordstadt aus verschiedenen Gründen den Rücken kehrten – auch aus Migrant*innen-Familien. Viele von ihnen verlassen – wenn sie sie sich beruflich und sozial etabliert haben – die Nordstadt und ziehen in andere Stadtteile. 

Das gilt insbesondere auch für Familien. Sie erhoffen sich bessere schulische Perspektiven. „Ob das berechtigt ist, ist eine andere Frage. Unsere Grundschulen leisten Gewaltiges – auch in der individuellen Förderung. Doch der Wechsel auf die Schule ist oft ein Grund zum Umzug“, weiß Jörder. Ziel müsse daher weiter sein, aus dem Stadtteil des Ankommens auch einen Stadtteil des Bleibens zu machen.

Imageproblem der Nordstadt verstärkt Probleme – Menschen brauchen guten Wohnraum

Zwei Haftbefehle konnten bei dem Schwerpunkteinsatz vollstreckt werden.
Überregionale Medien berichten über angebliche und reale Probleme, produzieren aber zumeist Zerrbilder.

Doch ein Faktor sei auch das Imageproblem der Nordstadt: „Das darf man auch nicht übersehen.“ Ob der dystopische Bericht in der ZEIT oder in den überregionalen TV-Reportagen, sie alle transportierten dieselben Stereotype. „Da gibt es viele Beispiele. Keines dieser Medien hat mit dem Bezirksbürgermeister gesprochen, bevor sie so einen Artikel schreiben“, ärgert sich Jörder und spricht vielen Nordstädter*innen damit aus der Seele.

„Manche wohnen gerne hier, aber auch nur vorübergehend. Studenten bleiben zum allergrößten Teil nicht hier. Es gibt auch Ausnahmen. Ich zum Beispiel“, sagte Jörder lachend. Doch dabei sei es wichtig, den Menschen auch attraktiven Wohnraum anbieten zu können, beispielsweise wenn sie sich verbessern oder vergrößern wollten. 

Als 1998 die „Papageien-Siedlung“ an der Immermannstraße mit 104 Wohnungen gebaut wurde, sind fast ausschließlich Leute eingezogen, die im Norden gewohnt haben, sich aber eine Verbesserung ihrer Wohnsituation gewünscht haben. Birgit und Ludwig Jörder bildeten dabei keine Ausnahme. „Das wird an der Westfalenhütte auch passieren. Es ist gut, wenn die Menschen im Norden bleiben können“, so Jörder. 

Jörder: „Viele ziehen weg, weil es eine Verdrängung von unten durch Armut gibt.“

Bezirksbürgermeister Dr. Ludwig Jörder nimmt Abschied.
Bezirksbürgermeister Dr. Ludwig Jörder nimmt Abschied.

„In der Theorie bestreitet keiner, dass in jedem Quartier eine gesunde soziale Mischung das Beste ist. Also Wohnraum für Menschen mit allen Einkommen. Das ist theoretisch unbestritten. Aber wenn wir konkret werden, hören sich manche an, als wenn ein Armenghetto das Ziel wäre“, so Jörder.  

Das Problem sei zumeist nicht der Schutz vor Verdrängung: Der Grund für ein Wegziehen durch Gentrifizierung wäre ja, wenn sich Menschen das Wohnen im Norden nicht mehr leisten könnten. „In der Nordstadt ist es aber umgekehrt. Viele ziehen weg, weil es eine Verdrängung von unten durch Armut gibt“, glaubt Jörder. Denn viele Menschen zögen aus der Nordstadt weg, weil sie sich in den anderen Stadtteilen bessere Wohnungen suchten. 

Daher erteilt er der von einigen geäußerten Forderung nach sozialem Wohnungsbau in der Nordstadt, die über die vorgeschriebene 25-Prozent-Quote hinaus geht, eine Absage. „Das müsste in der Nordstadt anders sein. Es müsste sich besser mischen und nicht da noch verstärken, wo es schon ein Überangebot gibt“, so der SPD-Politiker. Eine höhere Quote für sozialen Wohnungsbau sieht er daher in anderen Stadtbezirken – vor allem im Süden.

„Die hier gerne wohnen und bleiben möchten, sollen das auch wirklich tun. Es funktioniert ja auch an vielen Stellen. Wenn man die Vermietung ordentlich macht und sein Haus in Ordnung hält, ist eine Belegung nicht das Problem“, weiß Jörder aus den Gesprächen mit Immobilienleuten. Jörder blickt daher positiv in die Zukunft: Den Grund sieht er in den vielen guten Projekten, die auf den Weg gebracht worden seien. „Es gibt viele Menschen, die hier gerne wohnen und hinziehen wollen.“

Keine Langeweile: „Das Zeitvakuum füllt sich so schnell wie freier Platz im Schrank.“

Daher wird sich Jörder ab dem 11. November zurücklehnen, wenn er nach der Neuwahl in der Bezirksvertretung dieses wichtige Amt nicht mehr ausüben wird. Sorge vor zu viel Freizeit hat der 74-Jährige nicht. „Ich hatte das ja schon mal“, sagt er mit Blick auf seinen Ruhestand vor neun Jahren, als er als Geschäftsführer der Westfalenhallen in den Ruhestand ging. 

„Bis 2011 hatte ich sehr wenig Freizeit und ein zeitaufwendiges Ehrenamt (Anm.d.Red.: Jörder war von 1999 bis 2019 WDR-Verwaltungsrats-Vorsitzender). Die Bezirksvertretung war ja Zufall und ich habe es nicht gemacht, weil ich eine Beschäftigung suchte“, berichtet Ludwig Jörder. „Das Zeitvakuum füllt sich so schnell wie freier Platz im Schrank. Ich werde einfach alles ein bisschen gemächlicher machen.“

 

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