SERIE Nordstadt-Geschichte(n): Der städtische Börsensaal war einst die Tanzschule des Nordens

"Zur Börse" an der Ecke Viehmark- /Steinstraße, 1912 (Sammlung Klaus Winter)
„Zur Börse“ an der Ecke Viehmarkt- /Steinstraße, 1912 (Sammlung Klaus Winter)

Von Klaus Winter

Auf dem Gelände des heutigen Keuning-Parks wurden 1885 gleich zwei neue zentrale städtische Einrichtungen in Betrieb genommen: Im Frühjahr wurde der an die Steinstraße grenzende Viehmarkt eröffnet, im Herbst der sich nördlich an diesen anschließende Schlachthof. Beide Einrichtungen beschäftigten zahlreiche Arbeiter und verursachten einen lebhaften Verkehr. Da lag es auf der Hand, dass die Stadt hier auch einen Ort schuf, an dem man sich entspannen und stärken konnte: eine Wirtschaft.

Wilhelm Schreiber wurde erster Pächter der Wirtschaft am Viehmarkt

Schankraum mit Theke und Billard, 1920/25 (Sammlung Klaus Winter)
Schankraum mit Theke und Billard, 1920/25 (Sammlung Klaus Winter)

Die neue Wirtschaft wurde unter dem Namen „Zum Viehmarkt“ ebenfalls 1885 eröffnet. Sie lag der Polizeistation „Steinwache“ direkt gegenüber, hatte aber die postalische Anschrift Viehmarktstraße 1, denn sie lag direkt an der Einmündung der heute nicht mehr existierenden Viehmarktstraße in die Steinstraße.

Erster Pächter wurde der Wirt J. Wilhelm Schreiber. Er hatte vorher an der Bornstraße bereits eine Wirtschaft geführt.

Aus „Zum Viehmarkt“ wurde bald „Zur Börse“

Das Festessen zur Schlachthof-Eröffnung am 30. September fand nicht an Schreibers neuer Wirkungsstätte statt sondern in der traditionsreichen Lokalität von Kühn an der Wissstraße. Schreiber konnte nur Eintrittskarten für die Feierlichkeit verkaufen.

Der Wirtschaftsname „Zum Viehmarkt“ wurde schon nach wenigen Jahren in „Zur Börse“ geändert. Denn am 4. Oktober 1888 wurde hier die Getreidebörse Dortmund ins Leben gerufen. Das war ein Ereignis von überregionaler Bedeutung.

Die Stadt erhoffte sich von der Getreidebörse wichtige Impulse

Restaurant Zur Börse, Inh. Johann Rohrbach, 1920/25 (Sammlung Klaus Winter)
Restaurant Zur Börse, Inh. Johann Rohrbach, 1920/25 (Sammlung Klaus Winter)

Bis zu dem Zeitpunkt war die westfälische Getreidebörse in Hagen ansässig gewesen. Von der Verlegung nach Dortmund versprach man sich in der Stadt aufgrund der daraus resultierenden neuen Kontakte und des zunehmenden Geschäftsverkehrs einen kräftigen Impuls.

Anders als bei der Eröffnung des Schlachthofs fand das Festessen zur Eröffnung der Getreidebörse mit immerhin 250 Teilnehmern nun bei Schreiber statt. Die wöchentlichen Börsenveranstaltungen, die bis zu Beginn der 1930er Jahre durchgeführt wurden, sicherten ihm regelmäßige Einnahmen.

An Börse-freien Tage wurde konzertiert

Mit einer Veranstaltung pro Woche war die Wirtschaft „Zur Börse“ natürlich nicht ausgelastet. In der Börse-freien Zeit musste Schreiber sein Lokal mit dem großen Saal auf andere Weise füllen, um sein Auskommen zu haben.

Die damals sehr beliebten Konzerte waren eine Möglichkeit, Publikum anzuziehen. Unter anderem feierte der neu gegründete Männergesangverein „Nördlicher Sängerbund“ im Oktober 1886 im Börsensaal sein erstes „Kränzchen“ in Form eines Vokal- und Instrumentalkonzerts.

Der Börsensaal um 1920 (Stadtarchiv)
Der Börsensaal um 1920 (Stadtarchiv)

Radfahrer übten und feierten im Börsensaal

Der Dortmunder Radfahrer-Verein, gegründet 1880, traf sich wöchentlich im Saal, um seine „Fahrabende“ abzuhalten. Das Radfahren im Saal stellte die Mitglieder vor besondere Herausforderungen. Der Verein nutzte den Saal aber nicht nur für das Kunstradfahren sondern auch für Familienfeste.

Werbeanzeige für Tanzstunden (Dortmunder Zeitung, 11.05.1895)
Werbeanzeige für Tanzstunden (Dortmunder Zeitung, 11.05.1895)

Der Betrieb in der „Börse“ entwickelte sich augenscheinlich gut. Wirt Schreiber verlängerte im Januar 1896 seinen Pachtvertrag mit der Stadt Dortmund um weitere zehn Jahre. Und er bot seinen Gästen im selben Jahr unter anderem eine Kaninchenzuchtausstellung und das Stiftungsfest des Dortmunder Turnvereins Germania.

Tanzen wurde in der Börse groß geschrieben!

Zu den immer wiederkehrenden Veranstaltungen gehörte der Tanz. Schon 1886 konzertierte hier die Turn-Club-Kapelle und bot dabei „Gelegenheits-Tanz“.

Reklameanzeigen mit Hinweisen auf Tanzmöglichkeiten waren immer wieder in der Tagespresse zu finden. Es hat beinahe den Anschein, als ob ganz Dortmund sich zum Tanzen im Saal der Wirtschaft an der Viehmarktstraße traf.

Ballveranstaltungen im Börsensaal waren ein großes Vergnügen

Dabei fällt vor allem auf, dass die Werbeinserate der 1880er und 1890er regelmäßig mit dem Namen des Tanzlehrers Gärtner versehen waren. Er leitete die Tanzkurse, organisierte aber auch Ballveranstaltungen oder den „Preis-Maskenball an Fastnachtsmontag mit Prämierung“ 1899.

Anzeige der Synagogengemeinde Dortmund (Dortmunder Zeitung, 30.08.1893)
Anzeige der Synagogengemeinde Dortmund (Dortmunder Zeitung, 30.08.1893)

Außerhalb der Geschäftsstunden der Getreidebörse gab es weitere Veranstaltungen, die nicht dem Vergnügen dienten. Zu ihnen gehörten beispielsweise die Impftermine für (Schul-) Kinder.

Jüdische Gemeinde nutzte Börsensaal als zusätzliche Betstätte

Ab 1893 – zu dem Zeitpunkt gab es die große Synagoge am Hiltropwall noch nicht – wurde sogar ein Teil der Feierlichkeiten zum jüdischen Neujahrsfest in den Börsensaal verlagert. Der Gemeindevorstand befürchtete anlässlich des hohen Feiertags eine Überfüllung der Synagoge.

Deshalb war zur Entlastung „ein Betlokal im städtischen Börsensaale“ eingerichtet worden. „Daselbst findet an den hohen Festen ein geregelter Gottesdienst mit Predigt statt, zu dem der Zutritt Jedem freisteht.“

Trauriger Schlussakt: Börse war Sammellager bei Deportationen

Rund vierzig Jahre später spielte der Börsensaal in der Geschichte der jüdischen Gemeinde Dortmunds nochmals eine wichtige, aber schreckliche Rolle: Hier wurden im Juli 1942 jüdische Familien aus dem ganzen Regierungsbezirk Arnsberg versammelt.

Es handelte sich um den Beginn einer Deportation. Von ihr betroffen waren mehr als 300 Personen, die zumeist in den 1870er und 1880er Jahren geboren worden waren. Sie saßen und lagen nun mit ihrem wenigen Gepäck bis zum Beginn des Transports auf dem Boden des Saals. Dem Fußmarsch von der „Börse“ zum Südbahnhof folgte der Abtransport mit der Eisenbahn. Ziel war das Ghetto Theresienstadt. Nur wenige überlebten.

Gedenktafel an der Musikschule
Gedenktafel an der Musikschule in der Steinstraße. Fotos: Klaus Winter

Nur eine Gedenktafel ist von der „Börse“ in der Nordstadt geblieben

Für die „Börse“ waren die Deportationen die letzten „Großveranstaltungen“. 1943 wurde das Gebäude bei einem Bombenangriff völlig zerstört. Die Ruine stand noch lange Zeit, ein Wiederaufbau erfolgte aber nicht.

Auch den Viehmarkt und die Viehmarktstraße gibt es heute nicht mehr. Die auf dem Standort der „Börse“ erbaute städtische Musikschule hat heute die Anschrift Steinstraße 35. An ihrer westlichen Hausecke erinnert eine Gedenktafel an die Transporte nach Theresienstadt.

An der Stelle der kriegszerstörten Börse entstand die Musikschule.
An der Stelle der kriegszerstörten Börse – gegenüber der Steinwache – entstand die Musikschule.
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