
In Nordrhein-Westfalen wurden 2024 insgesamt 526 Fälle rechter, rassistischer, antisemitischer und menschenfeindlicher Gewalt dokumentiert – so viele wie noch nie. Die Beratungsstellen OBR und BackUp sprechen von einer enthemmten Eskalation und kritisieren die große Diskrepanz zur offiziellen Statistik. Für viele Betroffene hat die Gewalt tiefgreifende persönliche Folgen.
Enthemmung und Eskalation rechter Gewalt
Im Jahr 2024 registrierten die Opferberatung Rheinland (OBR) und die Betroffenenberatung BackUp in NRW 526 Angriffe mit 728 direkt Betroffenen – ein Anstieg um rund 48 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Fabian Reeker, Projektleiter der OBR, spricht von einem „erschreckenden Höchststand rechter Gewalttaten in NRW“. Die Gewalt sei brutaler geworden, das zeige sich auch in der erhöhten Nachfrage nach Beratung.

Die Beratungsstellen dokumentierten 265 Körperverletzungen, 12 Brandstiftungen und acht Todesopfer – so viele wie nie zuvor. „Tötungsdelikte sind Ausdruck einer maximalen Eskalation – sie machen deutlich, dass rechte Gewalt in NRW lebensbedrohlich ist“, erklärt Sabrina Hosono von der OBR. Auch gegen Musliminnen, Schwarze Menschen, jüdische Personen und politische Gegnerinnen habe die Gewalt deutlich zugenommen.
„Wir beobachten seit Jahren, dass antisemitische Gewalt in ihrer Häufung wie auch in ihrer Enthemmung zunimmt – und dabei längst nicht mehr nur Randphänomen ist“, sagt Katherina Savchenka von der OBR. Gewalt gegen LSBTIQ+-Personen bleibt auf hohem Niveau, ebenso wie gezielte Übergriffe auf wohnungslose Menschen. „Insbesondere bei Taten gegen Wohnungslose ist eine enthemmte Gewalt zu beobachten, die oftmals unaufgeklärt bleibt. Menschen wurden beispielsweise während des Schlafens brutal attackiert und angezündet“, so Thomas Billstein von BackUp.
Regionale Schwerpunkte und öffentliche Räume
Besonders viele Angriffe ereigneten sich im Rheinland, insbesondere in städtischen Gebieten. Laut den Beratungsstellen konzentrieren sich die Taten dort, wo gesellschaftliche Vielfalt auf fest verankerte Ausgrenzung trifft. Öffentliche Räume wie Straßen, Bahnen oder Demonstrationen waren 2024 wieder häufiger Tatorte.

„Es ist besorgniserregend, dass Köln auch bei Gewalt gegen LSBTIQ+ Personen den landesweiten Höchstwert markiert – sowohl absolut als auch anteilig“, warnt Hannah Richardy von der OBR. Rechte Täter*innen wollen laut ihr nicht nur verletzen, sondern gezielt Unsicherheit erzeugen. Die Angriffe haben demnach auch symbolischen Charakter und schüchtern ganze Communities ein.
Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl rechter Gewalttaten im Rheinland um über 70 Prozent gestiegen. In mehr als der Hälfte aller erfassten Orte haben sich die Vorfälle mindestens verdoppelt.„Diese Dynamik ist erschütternd – sie zeigt, dass rechte Gewalt längst kein Randphänomen ist. Sie ist Alltag“, erklärt Asal Kosari von der OBR. Viele Betroffene berichten zudem, dass sie in der Öffentlichkeit keine Hilfe von Umstehenden erhielten – das verschärfe das Gefühl von Ohnmacht und Unsicherheit.
Offizielle Statistik bildet Ausmaß nicht ab
Zwischen den Zahlen der Beratungsstellen und den offiziellen Angaben klafft eine große Lücke. Während die Opferberatungen 526 Angriffe zählten, dokumentierte der Verfassungsschutz NRW im selben Zeitraum nur 154 rechte Gewalttaten und 83 Bedrohungen. Die Abweichung ist seit Jahren bekannt – und bleibt problematisch.

„Wenn immer wieder selbst angezeigte Gewalttaten, in denen eindeutige Hinweise auf ein rechtes Tatmotiv vorliegen, keinen Eingang in die PMK-rechts Statistik finden, dann ist das nicht nur ein Erfassungsdefizit, sondern eine systematische Verschleierung des tatsächlichen Ausmaßes rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“, sagt Fabian Reeker (OBR).
Die Beratungsstellen kritisieren, dass viele Angriffe nicht als politisch motiviert anerkannt werden. Dies erschwert nicht nur die Sichtbarkeit des Problems, sondern auch politische und gesellschaftliche Gegenmaßnahmen. Die Diskrepanz untergräbt zudem das Vertrauen der Betroffenen in staatliche Institutionen und deren Problembewusstsein.
Dauerhafte Unsicherheit und politische Forderungen
Viele Betroffene ziehen sich zurück, meiden öffentliche Räume oder denken sogar darüber nach, Deutschland zu verlassen. „Ratsuchende, die von Rassismus betroffen sind, berichteten uns vermehrt, dass sie ernsthaft darüber nachdenken, Deutschland zu verlassen. Ausschlaggebend ist dabei nicht allein die offen rassistische Rhetorik der AfD, sondern vor allem, dass diese zunehmend von anderen Parteien übernommen und gesellschaftlich normalisiert wird““, sagt Nils J. von BackUp.

„Auch in NRW mehren sich Zustimmungswerte für extrem rechte Positionen“, ergänzt Sabrina Hosono von der OBR. Die Gewalt sei nicht nur Folge rechter Hetze, sondern auch eines gesellschaftlichen Klimas, in dem menschenfeindliche Rhetorik zunehmend normalisiert werde. Für Betroffene bedeute das existenzielle Bedrohung und ein dauerhaftes Unsicherheitsgefühl.
Die Beratungsstellen fordern mehr politische Unterstützung und eine verlässliche Finanzierung ihrer Arbeit. „NRW muss spezialisierte Opferberatungsstellen verlässlich und dauerhaft finanzieren“, so Fabian Reeker abschließend. Auch zivilgesellschaftliche Anlaufstellen müssten gestärkt werden – als dauerhafte Verpflichtung, nicht nur in Form kurzfristiger Projektförderung.