„Mit einem blauen Auge davongekommen!“ – Arbeitsagentur Dortmund zur Lage auf dem Arbeitsmarkt 2020

Ein Blick auf den Arbeitsmarkt in Zeiten der Pandemie: auch dort sind die Folgen nicht zu übersehen. Foto/Graphik (7): Arbeitsagentur

Es hätte (noch) schlimmer kommen können, so die Kernaussage aus der Spitze der Dortmunder Arbeitsagentur mit Blick auf die Lage am Arbeitsmarkt 2020. Vor dem Hintergrund der Coronakrise und Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Die Pandemie hat die Lage alles andere als entspannt. Vielmehr mussten sich positive Trends in der Stadt drehen, klar: Wo Menschen wegen des Infektionsschutzes weniger analogen Kontakt haben dürfen, da kann die Wirtschaft nur leiden.

Wirtschaft lebt davon, dass Menschen zusammenkommen – sonst wird es schwierig

Jahrespressekonferenzen sind immer Stunden besonderer Wahrheiten. Es geht, anders als sonst, gewissermaßen ums Ganze. Verantwortliche Akteure staatlicher Institutionen etwa, so will es die Demokratie, stehen Rede und Antwort in ihrem speziellen Handlungszusammenhang, sie resümieren, perspektivieren.

Durch die Corona-Pandemie stieg die Arbeitslosigkeit in Dortmund 2020 um 13,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und liegt nun auf dem Niveau von 2016.

Eine nicht ganz leichte Aufgabe in diesen Tagen, reihen sich – wegen des nicht abebbenden Infektionsgeschehens – auferlegte Beschränkungen des öffentlichen Lebens quasi wie von selbst aneinander. ___STEADY_PAYWALL___

Und das nicht erst seit gestern. 2020, ein schwieriges Jahr. Für viele, beruflich, persönlich, weiß Heike Bettermann, Chefin der Agentur für Arbeit Dortmund beim Online-Meeting. Wegen der Pandemie. Nicht nur hier, im virtuellen Raum, ist sinnfällig: Wirtschaft lebt davon, dass Menschen zusammenkommen, ob in der Produktion oder Konsumption. Ist dies wegen der Infektionsgefahr nicht oder nur eingeschränkt möglich, dann wird es schwierig.

Was die vermaledeite Pandemie gebrochen hat, in den Augen der Arbeitsagentur: dass es eigentlich bergauf ging, in der Stadt. Noch vor einem Jahr peilten kommunale Arbeitsmarktpolitiker*innen eine Erwerbslosenquote im einstelligen Bereich an. „Ohne Corona wären wir auf einem guten Weg gewesen, einstellig zu werden“, urteilt die Vorsitzende der Agentur-Geschäftsführung. Stattdessen ist nun ein Anstieg von 10,1 auf 11,4 Prozent zu verzeichnen. Das Niveau von 2016, konstatiert sie nüchtern.

Verletzlichkeit des Wohlstands: Dortmunder Arbeitsmarkt reflektiert die Infektionskrise

Nach dem schmerzhaften Strukturwandel – mit seiner massenhaften Freisetzung von Arbeitskraft aus der Dortmunder Nachkriegsindustrie des Stahls, der Kohle, dem Bier und der erzwungenen Umorientierung zur Dienstleistungsgesellschaft – wäre eine einstellige Quote arbeitsloser Menschen ein beachtlicher symbolischer Erfolg gewesen.

Strukturwandel in Dortmund Quelle Wirtschaftsförderung
Strukturwandel in Dortmund. Quelle: Wirtschaftsförderung

Doch die Beschränkungen der Verkehre, des interaktiven Miteinanders von Menschen, um das Infektionsgeschehen kontrollierbarer zu machen, zollen gegenwärtig ihren unumgänglichen Tribut. Schlagartig offenbart sich die Fragilität postindustrieller Gesellschaften. Ebola? – Schlimm, aber egal, solange das gute alte Europa nicht betroffen ist.

Corona zeigt, wie der gedachte Cordon sanitaire des Wohlstands urplötzlich einzubrechen vermag. Die Gefahr springt gewissermaßen aus Afrika über unsere Flachbildschirme direkt ins eigene Wohnzimmer. Wie wollte da der Arbeitsmarkt einen Hort der Glückseligen bilden? Er fällt gleichermaßen mit ins Pandemieloch restringierten Lebens, unabweisbar an den einschlägigen Kennziffern. So wie sie gestern, 13. Januar, in Dortmund von der Leitung der örtlichen Arbeitsagentur im virtuellen Raum kommuniziert wurden.

Langzeitarbeitslosigkeit in Dortmund: um 16,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen

Eines der größten Sorgenkinder, nicht nur in Dortmund, sondern überall dort, wo althergebrachte Strukturen grundlegend umgewälzt werden, ist die Langzeitarbeitslosigkeit.

Die Langzeitarbeitslosigkeit in Dortmund stieg mit 16,2 Prozent stärker als die Arbeitslosigkeit insgesamt (13,6 Prozent).

Sie bezeichnet als kühle Ziffer eben auch jene, die dem erzwungenen Wandel nicht schnell genug folgen können. Weil Bildung, Ausbildung, Anpassungsfähigkeit fehlen. Oder weil manche Menschen ihm einfach nicht folgen wollen.

Statistisch gesehen, ist die Rede von jenen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind. Sie beziehen entweder (und hauptsächlich) ALG II oder das auf 15 Monate verlängerte Arbeitslosengeld. „Für uns eines der wichtigsten Themen“, sagt Jobcenter-Chefin Dr. Regine Schmalhorst. Es geht darum, den Menschen wieder eine Perspektive zu vermitteln.

Die Zahlen nehmen sich zunächst nüchtern aus: knapp 14.434 Menschen – das sind 2.015 oder 16,2 Prozent mehr als im Vorjahr – waren im gleitenden Jahresdurchschnitt 2020 in Dortmund langzeitarbeitslos, davon 13.197 (+15,4 Prozent) in der Grundsicherung (Hartz IV nach SGB II). Doch dahinter verbirgt sich schlicht, wer zu den Verlierer*innen der Pandemie gehört.

Fehlende Ausbildung – Langzeitarbeitslosigkeit – Corona: ein unentrinnbarer Teufelskreis – ?

Ein differenzierterer Blick offenbart: es sind jene Menschen, die vergleichsweise gering qualifiziert sind und ihren Lebensunterhalt durch Hilfstätigkeiten verdienen müssen. Knapp 65 Prozent der insgesamt rund 36.000 Arbeitslosen – also fast zwei Drittel – haben keine abgeschlossene Berufsausbildung.

Von den rund 36.000 Arbeitslosen sind knapp zwei Drittel ohne abgeschlossene Berufsausbildung.

Gerade an diesem Punkt gibt es Handlungsbedarf: Es fehle (noch) an Integrationsmöglichkeiten auf der Helferebene, bedauert die Geschäftsführerin des Jobcenters. Und ohne Ausbildung stehen die Chancen schlecht, was sich gerade heute zeigt. Deutlich würde der Effekt der Coronakrise besonders bei der (damit verbundenen) Langzeitarbeitslosigkeit:

„Immer mehr Menschen rutschen in die Langzeitarbeitslosigkeit, u.a. weil sie während des Bezugs von Arbeitslosengeld keine neue Beschäftigung aufnehmen konnten und auch weil saisonale Beschäftigungsmöglichkeiten auf Helferniveau, beispielsweise im Weihnachtsgeschäft im Einzelhandel oder der Gastronomie, weggefallen sind. So lag der Zuwachs an Langzeitarbeitslosen im Jobcenter im Dezember 2020 bei etwa 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat.“

Jugendarbeitslosigkeit: Folgen der Pandemie sind auch bei jungen Menschen spürbar

Bei den Jugendlichen stieg die Arbeitslosigkeit 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 20,7 Prozent und liegt jetzt auf dem Niveau von 2016.

Bei jungen Menschen mag das Infektionsgeschehen zwar physiologisch weniger symptomatisch vonstatten gehen, auf dem Arbeitsmarkt hingegen wirken seine Folgen unvermindert. Die Beschränkungen aus guten Gründen der Prophylaxe betreffen Jugendliche gleichermaßen.

Da liegt die Vorort-Berufsberatung in den Schulen auf Eis, fällt der analoge Unterricht aus, was häufig genug der Fall war. Es fehlen Überbrückungsmöglichkeiten, verunsicherte Unternehmen zögern, Auszubildende einzustellen, bedeutet Agentur-Chefin Bettermann.

3.309 Jugendliche, 568 mehr als ein Jahr zuvor, sind in Dortmund augenblicklich noch ohne Job. Immerhin: Zwischen August und Dezember 2020 konnten 700 junge Leute ihre Arbeitslosigkeit beenden. Auch, weil die Kammern, was den Beginn einer Ausbildung angeht, pragmatisch agierten.

Corona lässt Arbeitskräftenachfrage sinken – ebenso wie den aktuellen Stellenbestand

Corona lässt die Arbeitskräftenachfrage sinken.

Bei den Zugängen zu Arbeitsstellen ist die Tendenz gegenüber den Vorjahren fallend: gerade einmal 11.973 waren es 2020. Vom aktuellen Stellenbestand von 4.789, so Bettermann, seien 60 Prozent an Fachkräfte gerichtet, nur 25 Prozent an Helfer*innen. Ein symptomatisches Verhältnis. Expertise ist eben gefragt.

Rückgänge seien unter anderem im Einzelhandel wie der Gastronomie zu verzeichnen gewesen. Einen „Amazon-Effekt“, also ein Mehr an Arbeit durch Versandhandel und Zulieferdienste, gab es den? – Ja, den habe es zwar gegeben, aber der habe dies nicht auffangen können. – Im Reinigungs- und Sicherheitsbereich, da sei die Nachfrage größer, ergänzt Regine Schmalhorst. Wegen der Pandemie. Aber zu wenig, um die Ausfälle zu kompensieren.

Nach den Hochjahren 2016 – 2019 sank der Stellenbestand im abgelaufenen Jahr.

Die Pandemie wirkt gewissermaßen als Moderatorvariable, so der Eindruck, die kaum aus dem Arbeitsmarktgeschehen herauszurechnen ist. Es gibt quasi keine mit den üblichen Einflussfaktoren fassbare Entwicklungstendenz mehr, weil überall eine Qualität an Ausnahmezustand herrscht, die durch gängige Analyseraster zur Lagebeurteilung fällt und deshalb wenig Prognosesicherheit für die Zukunft verheißt.

Sicher ist: „Der Lockdown wird das Arbeitsmarktgeschehen weiter beeinflussen“, sagt die Agentur-Chefin mit wenig begründungslastiger Plausibilität. Genauso wie, dass ein weiterer Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen sein wird. Ebenso rechnen sie bei der Arbeitsagentur mit einer Insolvenzwelle. Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis seitens der Bundesregierung der Insolvenzaufschub, welcher derzeit bis Januar 2021 gilt, aufgehoben werden wird.

Bislang allerdings sei man in Dortmund mit einem blauen Auge davongekommen, so Bettermann. Und hofft, dass sich dies 2021 fortsetzt. „Wir haben bisher viel Glück gehabt“, ergänzt Schmalhorst. Weiß aber: „Es wird was auf uns zukommen.“

Was die Pandemie mit den vereinsamenden Menschen macht? – Was eigentlich?

Eine ganz andere Perspektive auf die Folgen des Pandemiegeschehens für den Arbeitsmarkt – jenseits der trockenen Zahlen – eröffnet die Jobcenter-Chefin: „Was macht das mit den Menschen?“ Also die Vereinzelung, die Einsamkeit. Vor allem bei den AGH’s sei dies merklich gewesen. Nicht mehr wahrgenommen zu werden, das Fehlen einer Tagesstruktur. „Wir haben stark versucht, in Kontakt zu bleiben.“

Dafür mussten neue Wege gefunden werden, wie das Coaching am Telefon. Längere Beratungsgespräche, bis zu einer Stunde, das wäre nicht immer leicht gewesen, sekundiert die Kollegin von der Arbeitsagentur. Besser sei es ab September, Oktober geworden. Doch es gibt auch jetzt noch den persönlichen Kontakt, immer unter Einhaltung der Corona-Schutzregeln, versteht sich.

 

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