„Kein Schlussstrich unter den NSU“ – Kundgebung am Jahrestag des NSU-Urteils – Forderung nach Aufklärung

Auch in Dortmund rief ein breites Bündnis zur Protestaktion „Kein Schlussstrich“ auf. Foto: Leopold Achilles
Auch in Dortmund rief ein breites Bündnis zur Protestaktion „Kein Schlussstrich“ auf. Fotos (3): Leopold Achilles

Vor einem Jahr wurde im ersten NSU-Prozess vor dem Münchener Oberlandesgericht das Urteil gesprochen. Noch immer sind viele zentrale Fragen unbeantwortet, die versprochene „vollständige Aufklärung“ scheint weiter entfernt denn je. Zum Jahrestag am Donnerstag, 11. Juli, erinnert das Dortmunder Bündnis „Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich Dortmund“ an die Opfer des rechten Terrornetzwerks und die vielen offenen Fragen.

Scharfe Kritik: „De facto hat es die versprochene vollständige Aufklärung nicht gegeben“

Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik vom NSU in seinem Kiosk an der Mallinckrodtstraße heimtückisch ermordet. Foto: Klaus Hartmann

Am 4. April 2006 wurde der Dortmunder Mehmet Kubaşık vom NSU ermordet. Zehn Morde, mindestens drei Bombenanschläge mit Dutzenden Verletzten und mehrere Banküberfälle gehen auf das Konto des rechten Terrornetzwerks.

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Jahrelang haben Betroffene und Nebenklagevertreter*innen vor einer unzureichenden Prozessführung gewarnt, doch es blieb dabei: „Zentrale Fragen sind unbeantwortet geblieben. Wie groß ist das rechte Netzwerk? Wer hat das Kerntrio unterstützt? – . Diese Fragen sind offen, auch, weil sich die Bundesanwaltschaft  nicht dafür interessierte“, sagt Marie Kemper vom Dortmunder Bündnis „Tag der Solidarität – kein Schlussstrich“.

„Für das Gericht ist das Thema mit dem Urteil vorbei, der Schlussstrich gezogen. Für uns ist es aber nicht vorbei, und wir unterstützen weiterhin die Forderung der Angehörigen nach vollständiger Aufklärung. Dazu gehört auch, endlich die Rolle von Polizei und Nachrichtendiensten offenzulegen“, so Kemper.

Warnung vor ,neuer Gefahr‘ durch Rechtsextremismus, obwohl sie für Betroffene Alltag ist

Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss NRW habe gezeigt, dass das Wissen um rechtsterroristische Strukturen, um Waffen in der Szene und um die von Neonazis ausgehenden Gefahren sehr wohl vorhanden war. „Verfassungsschutz und Polizei arbeiteten sich aber lieber daran ab, die Opfer rassistisch zu verleumden und zu Tätern zu machen“, sagt Kemper.

„De facto hat es die versprochene vollständige Aufklärung nicht gegeben. Im Gegenteil: Wir haben das Gefühl, dass vor allem Politiker*innen und Geheimdienste rein gar nichts aus dem NSU gelernt haben“, fährt Kemper fort.

„Nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke wird diffus von einer ,neuen Gefahr‘ durch Rechtsextremismus gesprochen, dabei ist diese Gefahr alltäglich für Migrant*innen, für Geflüchtete, für LGBTI-Menschen, für Linke und für diejenigen, die sich für ihre Rechte engagieren“, ärgert sich die Dortmunder Aktivistin.

Wanderausstellung und Hörstücke rücken am Donnerstag die Opfer in den Mittelpunkt

Die aktuellen Recherchen zeigen, dass das rechtsterroristische Netzwerk Combat 18, das genau wie der NSU nach dem Prinzip des ,führerlosen Widerstands‘ agiert, weiterhin Schwerpunkte in Dortmund und Kassel hat – zwei Städte, in denen der NSU mordete. „Doch einmal mehr ist die Rede vom Einzeltäter. Wir stehen solidarisch an der Seite der Betroffenen und unterstützen ihre Forderung nach vollständiger Aufklärung“, sagt Kemper.

Darum gedenkt das Bündnis am 11. Juli 2019 von 16 bis 20 Uhr an den Katharinentreppen gegenüber dem Dortmunder Hauptbahnhof der Opfer des „NSU“ und ihren Hinterbliebenen und will ihren Forderungen und Eindrücken Gehör verleihen.

„Wir wollen damit auch aufzeigen, wie groß die Lücken sind, die die de-facto-Nichtaufarbeitung des rechten Terrors für die Verletzten und Angehörigen hinterlassen haben“, sagt Marie Kemper. Eine Wanderausstellung und Hörstücke rücken die Opferperspektive ins Zentrum des Geschehens.

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Reaktionen

  1. Bündnis Dortmund gegen Rechts

    Erklärung des Bündnis Dortmund gegen Rechts zum Mordfall Lübcke: Der lange Schatten des NSU

    Man habe die rechte Szene seit 20 Jahren im Blick, so der Leiter des Verfassungsschutzes NRW Kleiner gegenüber dem WDR. Es ging um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten und die Verbindung der rechten Szene NRW (Dortmund) und Hessen (Kassel).

    Da fragen wir: ja und? Was folgte daraus?

    In diesen 20 Jahren wurden in Dortmund 5 Menschen von Nazis ermordet.

    + Im Jahr 2000 erschoss der Nazi Michael Berger drei Polizist/innen und richtete sich dann selbst. Die braune Szene bekundete Beifall und ließ auf Aufklebern wissen „drei zu eins für Dortmund. Berger ist unser Freund!“
    + 2005 erstach der Nazi Swen Kalin den Punker Thomas Schulz. Nach einer verkürzten Jugendstrafe wegen „guter Führung“ frühzeitig aus der Haft entlassen, schlug er einen türkisch stämmigen Jugendlichen krankenhausreif.
    + 2006 wurde Mehmet Kubasik vom NSU erschossen. Schoss er allein? Wie kam eine Terrorgruppe aus Thüringen auf einen Kioskbesitzer im Dortmunder Norden?

    Der Verfassungsschutz „beobachtet“ und schweigt – bis heute.

    In den 20 Jahren unter „Beobachtung“ entwickelte sich die braune Szene prächtig: neben den 5 Morden Drohungen, Überfälle, Gewalttaten gegen alle, die nicht in ihr nationalistisches Weltbild passen. Auch der Ausbau der Beziehungen zur Nazi-Szene national und international und zum verbotenen „blood and honour“ und „Combat 18“ wird von antifaschistischen Bündnissen registriert. Gegen die Nazi-Band „Oydoxie“, die mit „blood and honour“ verbandelt ist, wurde bereits 2005 von der VVN/BdA wegen ihrer volksverhetzenden und menschenverachtenden Texte Strafanzeige erstattet. Zum Prozess kam es nicht.

    Die Morde an Mehmet Kubasik und dem Kasseler Internetcafe Besitzer Halit Yosgat fallen durch zeitliche Nähe und viele unbeantwortete Fragen auf und lassen Zusammenhänge vermuten.

    2012 wurde die kriminelle Kameradschaft „Nationaler Widerstand Dortmund“ verboten und tauchte kurz danach in der von Nazi-Kumpan Christian Worch neu gegründeten Partei „Die Rechte“ wieder auf. So konnten die rassistischen Gewalttäter unter Parteienschutz ihr menschenverachtendes Treiben fortsetzen.

    Die Verbotsforderung dieser „Partei“ wurde vom Bündnis Dortmund gegen Rechts mit tausenden von Unterschriften dem damaligen Innenminister Jäger übergeben. Der bedankte sich für das zivile Engagement – aber leider könne „Die Rechte“ nicht verboten werden.

    „Küsst die Faschisten wo ihr sie trefft!“ Der bitter-ironische Text von Kurt Tucholsky aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts drängt sich auf und wir wissen, wie die Verharmlosung und Unterschätzung der Faschisten geendet hat.

    Im Mordfall Walter Lübcke gingen die „Aufklärer“ ähnlich vor wie bei der Familie Kubasik. Erst wird das Umfeld in den Blick genommen. Dann führt die gefundene DNA zu einem Nazi, der sich aber schon lange aus der rechten Szene verabschiedet habe, also ein „Einzeltäter“ ist. Auch der NSU soll ja laut Justiz und Verfassungsschutz kein Netzwerk von Unterstützern gehabt haben. Die Wahrheit ist eine andere: Der Nazi Stefan Ernst war bestens in der Naziszene in Kassel und Dortmund und auch mit combat 18 vernetzt und taucht bereits in den NSU- Akten des hessischen Untersuchungsausschusses auf. Ein Dank an die Journalisten, deren Recherche und Bildmaterial zur Wahrheitsfindung beitragen.

    Der Ruf nach dem „Starken Staat“ und dem Ausbau eines Verfassungsschutzes, der bei der Aufklärung der NSU Morde eine höchst zweifelhafte Rolle gespielt hat, ist mehr als fragwürdig.

    Ein Offenlegen der NSU-Akten, ein Ende des Verharmlosens und das Verbot aller Nazi-Organisationen ist angesagt.

    Aktion am Donnerstag, 11. Juli 2019 – Beginn unten an der Katharinentreppe/Nahe Hauptbahnhof Dortmund um 16 Uhr. Veranschlagt sind vier Stunden. Aufgebaut wird ab 15:30 h. Es wird einen Stand des Aktionsbündnisses „Kein Schlussstrich“ geben und die Ausstellung zur Keupstr.

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