Abschlussveranstaltung des diesjährigen Programms „Marhaba 103“ bei „Machbarschaft Borsig11“ in der Oesterholzstraße

Die letzte Nordstadt-Session in diesem Jahr im Chancen-Café 103. Fotos: Guido Meincke.
Die letzte Nordstadt-Session in diesem Jahr im Chancen-Café 103. Foto: Guido Meincke.

Die Nordstadt-Session von Borsig11 heißt immer wieder gern NachbarInnen willkommen. Auf der „Kleinen Bühne 103“ im Chancen-Café 103 am Borsigplatz. Sein Dezember-Event war zugleich die Finissage des Programms „Marhaba 103“, mit dem in diesem Jahr wieder Interkulturalität satt im Herzen der Dortmunder Nordstadt auf vielen verschiedenen Ebenen gelebt wurde. Und es soll auch in Zukunft weiter gehen.

Jahresabschluss-Session „Marhaba“ in einer „öffentlichen Wohnstätte“

Das „Chancen-Café 103″ in der Oesterholzstr. am Borsigplatz

Einer der letzten Termine in diesem Jahr. Der Mensch von der Presse begibt sich neugierig in die Nähe des Borsigplatzes, eine sogenannte „Nordstadt-Session“ soll hier irgendwo stattfinden. Was immer das sein mag.

Es ist gerade Wintersonnenwende und an einem Nachmittag wie diesem schon fast dunkel. Doch das kleine Café in der Oesterholzstraße 103, an der Ecke zur Robertstraße, ist im Inneren hell erleuchtet, wirkt für den Besucher, der da aus der Kälte kommt, freundlich und warm.

Über dem Eingang hängt eine Tafel, auf der mit großen roten Ziffern die Zahl „103“ aufgetragen wurde. Und darunter weist ein kleiner Schriftzug eine „Public Residence“ aus. Also offenbar so etwas wie eine öffentliche Wohnstätte. – Aha.

„Was soll das denn sein, wie soll das funktionieren?“, fragt sich der interessierte Neuankömmling natürlich sofort. Und erinnert sich daran, dass die angekündigte Session in dem Café die Abschlussveranstaltung eines Programms mit der Bezeichnung „Marhaba 103“ sein soll. Und daran, dass gesagt wurde, „Marhaba“ hieße auf Arabisch in etwa „Hallo!“.

Ad-hoc Eindrücke aus einem kleinen Café im Herzen des Dortmunder Nordens

Irgendwo in der Nähe des Buffets. Foto: Guido Meincke.
Irgendwo in der Nähe des Buffets. Foto: Guido Meincke.

Drinnen: ein farbenfroh geordnetes Durcheinander. Menschen aller Hautfarben, Frauen, Kinder, Männer, vereinzelt, in Gruppen. Sie stehen irgendwo rum, sitzen auf den überall verteilten Stühlen, einem Sofa oder bewegen sich betriebsam durch das kleine Café. Plauschen miteinander oder beobachten das Treiben nur schweigend.

Linker Hand eine kleine Bühne mit dem Portraitbild eines traurig dreinschauenden jungen Mädchens mit grünem Kopftuch, angebracht auf einer Staffelei; daneben ein kleiner Schreibtisch, eine Musikanlage. Davor am großen Fenster Garderoben und Regale mit säuberlich gefalteten Bekleidungsstücken.

Im rechten Teil des Raumes eine Art Theke, es duftet nach Essen. Dahinter wird offenbar etwas gekocht. Am Ende auf dem großen Tisch vor dem Tresen stehen schon einige Töpfe und Pfannen, über ihn verteilt Kerzen und Tannenzweige. Um den Tisch herum sitzen hauptsächlich Erwachsene, trinken aus großen Tassen Tee oder Café, oder irgendeine Brause.

Es wirkt alles sehr friedlich und unaufgeregt, trotz des – zumindest auf den ersten Blick – recht unübersichtlichen Geschehens. Und irgendwie in einer besonderen Art und Weise auch festlich, weihnachtlich. Aber anders, als gewohnt, und womit die Weihnachtszeit in unseren Breitengraden für gewöhnlich assoziiert wird: nicht weiß, nicht weihrauchgetränkt oder andächtig, sondern bunt und mit einem Stimmengewirr, als müsste irgendwo der Turm zu Babel stehen nach dem Erscheinen des Heiligen Geistes.

Das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt Europas 2010 als Stein des Anstoßes

Machbarschaft Borsig 11, Labor für kulturelle, soziale und ökonomische Praktiken am Borsigplatz
Machbarschaft Borsig 11, Labor für kulturelle, soziale und ökonomische Praktiken am Borsigplatz. Der Vorstand des Vereins: Guido Meincke und Volker Pohlüke, v. l.

Guido Meincke kommt schnell auf den offensichtlich etwas verunsichert wirkenden Gast zu, der da noch herumdruckst, nicht so recht weiß, wohin. Begrüßt ihn mit einem verständnisvollen Lächeln und erklärt nach und nach die Hintergründe dieser rätselhaften wie bunten Mischung aus allseitiger Geschäftigkeit, Geselligkeit und entspanntem Einfach-nur-da-Sein und ihren vielen fließenden Übergangen.

Sie seien Kinder der Kulturhauptstadt im Jahre 2010 gewesen, so das Vorstandsmitglied des 2012 gegründeten Vereins „Machbarschaft Borsig11“. Damals war erstmalig einer ganzen Region, dem Ruhrgebiet, der ehrwürdige Titel „Kulturhauptstadt Europas“ verliehen worden.

Aber im Anschluss an dieses denkwürdige Jahr, als die Euphorie ein wenig zu verfliegen begann und mit ihr selbstverständlich auch ein beträchtlicher Teil der Fördergelder, habe sich die Frage aufgetan, wie es weiter gehen könne. Im Sinne dessen, was in dieser Zeit und insbesondere aus künstlerischer Perspektive angestoßen wurde.

Die „Machbarschaft Borsig11“ als Labor kultureller, ökonomischer und sozialer Praktiken

Das Projekt Public Residence der Machbarschaft Borsig11 - hat begonnen.
Das Projekt Public Residence der Machbarschaft Borsig11.

In der Nachfolge des RUHR.2010-Projekts „2-3 Straßen“ und über einige Umwege wurde mit Gründung von „Machbarschaft Borsig11“ schließlich versucht, Inhalte der damaligen Konzeption des Künstlers Jochen Gerz rund um den Borsigplatz weiter zu realisieren, aber vor allem auch mit zahlreichen neuen Ideen zu variieren und interaktiv mit den BewohnerInnen zu erweitern.

Ziel dabei ist im Grundsatz: dass Eigendynamiken und Multiplikator-Effekte entstehen, d.h. die AnwohnerInnen selbst und eigeninitiativ in ihrem Stadtteil aktiv werden. Mit Phantasie und eigenverantwortlich neue lokale Projekte auf die Beine stellen, die bei aller Verschiedenheit allesamt eins gemeinsam haben: ein friedliches, tolerant-weltoffenes und solidarisches Miteinander aller vor Ort, in der „Machbarschaft“ lebenden Menschen unabhängig von ihrer ethnischen oder sozialen Herkunft, ihren sexuellen, religiösen, kulturellen oder sonstigen Orientierungen.

Eine „Machbarschaft“ also – als ein Bündnis von Menschen, die gemeinsam ihren Wohnraum zum Wohle aller gestalten können und wollen. Aber wieso gerade „Borsig11“? – Das habe wohl hauptsächlich zwei Gründe, erläutert Guido Meincke: Einmal einfach wegen des Gründungsjahres 2011 und weil es damals 11 Gründungsmitglieder des Vereins gegeben hätte. Wie bei einer Fußballmannschaft, vergleicht er lächelnd.

Kreativität und Phantasie in das Zentrum der Stadt bringen

Logo Borsig11Eine Fußballmannschaft hält zusammen – soweit trägt die Analogie. Aber dann kommt etwas Entscheidendes hinzu, ein Postulat, eine Frage: „Kreativität ins Zentrum“ bringen, wie könne dies bewerkstelligt werden? Denn: „Kreativität ist der Motor, um Gesellschaft zu erzeugen“, formuliert er das basale Paradigma der vom Verein getragenen, besser: angestoßenen Stadtteilarbeit rund um den Borsigplatz.

Daher beinhaltet das Programm einen Perspektivwechsel beim Kunst- und Kulturschaffen. Es solle keine Ausstellung erzeugt werden, wo andere einfach nur etwas betrachten: „Wir versuchen, das umzudrehen,“ bringt er die ambitionierte Projektidee auf den Punkt. Das sei allerdings manchmal ein wenig nervenaufreibend, weil es immer Leute gäbe, die nur ihren eigenen Kopf durchsetzen wollten, ergänzt er. Aber alternativlos.

Wie sieht das nun konkret aus? Während des Info-Gesprächs mit Guido Meincke um die Hintergründe der Veranstaltung inmitten des Gewurstels im „Chancen-Cafe 103“ – so heißt dieser Ort – begegnen einem immer wieder die unterschiedlichsten Menschen, sympathisch, offen, auskunftsfreudig. Hier erhält der neugierige Besucher einen ersten Eindruck, welche Ausdrucksformen der postulierte Perspektivwechsel annehmen kann.

Menschen, die das Chancen-Café für sich und andere nutzen

Sultan Khairandish, Maler aus Afghanistan bei der Nordstadt-Session. Photo: Guido Meincke.
Sultan Khairandish, Maler aus Afghanistan bei der Nordstadt-Session. Photo: Guido Meincke.

Da ist Rosalie, eine Frau mittleren Alters, „die den Laden in Ordnung hält“, lobt Meincke anerkennend; und Rosalie nickt zustimmend, nicht ohne Stolz, deutet aber auch ein paar kleine Probleme an, die es gerade gäbe. Was das genau bedeutet, bleibt irgendwie unklar, ist aber für den Neuling insofern informativ, als schlagartig die Vermutung bestätigt wird, dass hinter dem Gewirr aus Menschen, Stimmen und Aktivitäten eine wundersam ordnende Hand stecken muss. Die es nicht immer leicht hat.

Da ist Sultan Khairandish, Künstler und Maler aus Afghanistan, und mit seiner Familie Ende 2015 vor den Taliban nach Deutschland geflohen. Zwölf Bilder hat der 47-jährige, dessen Deutschkenntnisse sich mittlerweile auf B1-Niveau bewegen, hierzulande bereits gemalt und unter anderem im Rahmen des Projektes „OffeneNordstadtAteliers“ zugänglich gemacht. Im September konnte er beispielsweise für zwei Wochen die „Galerie 103“ im Chancen-Café – das ist besagte kleine Bühne dort – mit Unterstützung des Förderfonds Interkultur-Ruhr als Atelier und Ausstellungsraum nutzen.

Das Bild auf der Staffelei von dem jungen Mädchen mit den traurig-dunklen Augen stammt auch aus seiner Werkstatt. Es ist noch nicht fertig, sagt der Künstler. Sichtlich stolz stellt er seine 9-jährige Tochter vor, die daran mitgemalt hat, als er kürzlich in einer Buchhandlung in Dortmund-Mengede und vor laufendem Publikumsverkehr mit der Arbeit nach einer Photovorlage begann. – Auf die Frage nach den so traurigen Augen antwortet er entwaffnend schlicht, dies sei wegen des Krieges bei allen Kindern in Afghanistan der Fall.

Die Strahlkraft des Chancen-Cafés reicht über den Borsigplatz hinaus

Leckereien aus Angola. Foto: Guido Meincke.
Leckereien aus Angola. Foto: Guido Meincke.

Plötzlich erscheint eine Bekannte im Café, Frau G.M. Sie ist Mieterin in der notorischen Problemimmobilie an der Feldherrn- Ecke Gneisenaustsraße, nahe der Schützenstraße im Dortmunder Norden. In dessen Umfeld voller sozialer Spannungen können schon mal schnell die Fäuste fliegen, wie beim letzten vom Dortmunder Mieterverein an dem Haus organisierten Pressetermin (wir berichteten). – Erstaunlich, dass Frau G.M. nun hier ist. Denn von ihrer Wohnung bis zum Borsigplatz ist es beileibe kein Katzensprung. Das zeugt deutlich von einer über den Stadtteil hinausgehenden Strahlkraft des Chancen-Cafés.

Frau G.M. erzählt verärgert, ja wütend von Schikanen seitens der Hausverwaltung gegen sie, seit den Ereignissen im Herbst, und von deren merkwürdigem Gebaren bei der Vermietung von Wohnraum an Flüchtlinge. Schnell ist ein Termin vereinbart, um dort in naher Zukunft mal genauer drauf zu schauen. Denn ein öffentliches Interesse zur Aufklärung drängt sich hier zwangsläufig auf – gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Skandale um Eigentümergesellschaften in Dortmund, in deren Regularien das Wörtchen „Mieterwohl“ vermutlich nur unter der Rubrik „Fremdwörter“ zu finden ist.

Dann aber gute Nachrichten: Währenddessen kann es nämlich für hungrige Leiber richtig was auf die Gabel geben: ein angolanisches Buffet ist angerichtet. Wahlweise vegan oder mit was zusätzlich drin. Was genau – egal: denn es schmeckt köstlich und bekommt dem europäischen Magen – auch mit ordentlichem Nachschlag – aufs Beste.

„Marhaba 103“: Nach dem Projekt ist selbstverständlich vor dem Projekt

Sebastiao Sala präsentiert die interkulturelle Kollektion. Foto: Guido Meincke.
Sebastiao Sala präsentiert die interkulturelle Kollektion. Foto: Guido Meincke.

Der eigentliche Star des Abends aber ist: Sebastiao Sala. Er ist Koordinator und Sprecher einer ganzen Reihe von Initiativen mit vielen HelferInnen, die unter dem Projektnamen „Marhaba 103“ seit 2016 im Chancen-Café ihre lokale Basis haben. AnwohnerInnern, die sich ehrenamtlich und häufig tagtäglich dafür einsetzen, dass sich die Menschen rund um den Borsigplatz untereinander vernetzen und sich in den neu entstehenden sozialen Strukturen gegenseitig helfen.

„Marhaba 103“ ist ein interkulturelles Programm der Borsigplatz-Aktivisten, das seinerzeit bei InterKultur Ruhr beantragt wurde, dessen Finanzierung aber Ende dieses Jahres abläuft. Nun sollten die AkteurInnen „den Laden für eigene Sachen nutzen“ – bricht Guido Meincke die „Borsig11“-Konzeption als hoffnungsfrohe Erwartung auf das runter, was nun nach der Programmlogik ansteht: dass sich aus dem nun auslaufenden Projekt Eigendynamiken entwickeln, mit denen seine kreative Fortsetzung gesichert ist. Wie auch immer die aussehen mag, bleibt der Phantasie der Beteiligten überlassen.

Und, was bisher erreicht wurde, kann sich allemal sehen lassen: „Marhaba 103“ reicht von einer mobilen Beratung für neue MitbewohnerInnen im Stadtteil, über gemeinsames Kochen und der „Schneiderei 103“ bis zu Ausstellungen und Konzerten – beispielsweise den anfangs erwähnten „Sessions“ auf der „Kleinen Bühne 103“ in dem Café.

Ehrenamtliches Engagement für MigranntInnen über viele Jahre

Nach afghanischem Vorbild wurde dieses Kleid geschneidert. Foto: Guido Meincke.
Nach afghanischem Vorbild wurde dieses Kleid geschneidert. Foto: Guido Meincke.

So konnte bislang allen BesucherInnen des Chancen-Cafés von Montags bis Freitags ab 14 Uhr etwa eine kostenfreie warme Mahlzeit angeboten werden. Und was zuvor in der Schneiderei geduldig zusammengenäht wurde, wird jetzt auf den wenigen Quadratmetern im Chancen-Café den BesucherInnen vorgeführt: Stoffe aus Angola, verbunden mit europäischen Stilelementen. Echt interkulturell, wie Sebastiao Sala mit einem Augenzwinkern versichert. Da passt es ins Bild, dass das einzige nach afghanischer Tradition und mit besonders vielen Mühen geschneiderte Kleid von einer blonden Dame vorgeführt wird, die ziemlich sicher nordischen Ursprungs ist.

Apropos Sebastiao Sala: Seit 1993 sei er in Deutschland, habe fünf Kinder, gibt er mit breiter Brust zu Protokoll. Und so ziemlich von Anfang an sei er beratend und begleitend tätig gewesen. Für solche Menschen, die sich im Gesetzesdschungel des Einwanderungslandes, seiner Amtssprache und ein paar anderen kleinen Finessen nicht so gut auskennten. – Absolut nachvollziehbar, aber bemerkenswert für jemanden, dessen Muttermilch ein paar Kulturspezialitäten wie deutsches Ordnungsdenken und Pünktlichkeit nicht zwingend beinhaltete.

Sein Büro, das ist der kleine Schreibtisch auf der „Kleinen Bühne 103“. Montag bis Mittwoch von 10 bis 14 Uhr. Weitgehend ehrenamtlich. Telefonische oder persönliche Beratung. Hilfe bei Ämtergängen oder bei der Wohnungssuche. Letzteres sei am schwierigsten, so der freiwillige Street-Worker vom Borsigplatz. Und wüsste er mal nicht mehr weiter, könnte er die Hilfesuchenden immer noch an andere Institutionen weiterleiten, wie an die Diakonie oder Caritas.

„Das Haus ist ein positiver Ort für die Menschen, die hier sind“

Veranstaltungen Borsig 11. Givebox
Givebox zum Tauschen. Foto: Guido Meincke

Da war eine marokkanische Frau, berichtet Sebastiao Sala, nun an der kleinen Bühne sitzend, während hinter uns der afghanische Künstler, Sultan Khairandish, sein Handwerkszeug auspackt. Um mit Ölfarben das Bild mit dem traurigen Mädchen aus Afghanistan weiter zu vervollständigen. Die Marokkanerin habe eine Stelle in Unna in Aussicht gehabt, erzählt Sala, konnte aber eigenständig keine Bewerbungen schreiben. – Nun hat sie die Stelle.

Das Haus sei ein positiver Ort für die Menschen, die hier sind, stellt er knapp fest. Er weiß, dass das Projekt ausläuft. „He‘ll continue, anyway“, so der feste Eindruck. Dann eben wieder vollständig ehrenamtlich, wie größtenteils durch sein persönliches Engagement eigentlich schon immer. Auch die anderen Teilprojekte von „Marhaba 103“ liefen mittlerweile gleichsam eigenständig, betont Sala. Etwa das Kleidungsprojekt oder das Kochen. Er koordiniere lediglich. Und wird weiter jene begleiten und beraten, die seine Hilfe benötigen.

Das Projekt „mit den Kleidern“ ist übrigens auch schon älter, und es geht auch nicht nur um Kleider. Die „Givebox“ wurde von „Borsig11“ ins Leben gerufen und basiert auf dem einfachen Gedanken, dass es Menschen geben mag, die etwas brauchen, was ein anderer hat, und umgekehrt. Also tauschen sie kostenfrei und ohne Ansehung des handelsüblichen Wertes hinter dem jeweils Getauschten. Möglich im Chancen-Café seit 2012. Wodurch sich die anderen Gebrauchsgegenstände neben der Kleidung in den dortigen Regalen nun endlich auch erklären.

Das Chancen-Café sucht nach Mitteln, um Kreativität und Phantasie im Quartier weiter zu fördern

Foto: Guido Meincke.
Foto: Guido Meincke.

Nach und nach füllt sich das kleine Café. Mit Präsentation der selbstgenähten interkulturellen Kollektion und dem angolanischen Buffet geht es langsam auf die mit Spannung erwartete Nordstadt-Session zu. Die Finissage von „Marhaba 103“ naht. Aber wirklich betrübt scheint niemand der Anwesenden zu sein. Was hier entstanden ist, kann nicht einfach verschwinden, so der Eindruck. Zumindest, solange das Engagement der zahlreichen, ungenannten HelferInnen erhalten bleibt.

Mittlerweile ist auch Gerd, der „Wunderheiler“ eingetroffen, wie er von vielen respektvoll genannt wird. Selbst nicht bei bester Gesundheit, kümmert sich der überall in der Nordstadt bekannte Musiker mit Klängen wie Peace&Harmony um die seelischen Seiten des Schmerzes. Er selbst betrachtet sich freilich nicht als Wunderheiler. Vielmehr versucht er, klangtherapeutisch den inneren Glauben der Hilfesuchenden zu stärken und damit die eigenen Selbstheilungskräfte zu aktivieren – wie er einmal in einem Interview erklärte (hier).

Im nächsten Jahr würde die Nordstadt-Session vielleicht vom Landesmusikrat NRW gefördert, hofft Guido Meincke, der den Verein Borsig11 seinerzeit gemeinsam mit Volker Pohlüke gründete. Spürbar sind Finanzierungssorgen, während er spricht. Die Miete für das Café könne zu einem Teil noch aus dem Chancen-Fond aufgebracht werden – also aus dem Gemeinschaftsprojekt „Public Residence: Die Chance“ mit der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft (Näheres zum Projekt: hier).

„Machbarschaft Borsig11“ – bereits mehrfach ausgezeichnet

Foto: Guido Meincke.
Foto: Guido Meincke.

Leider schrumpfte dieser Topf langsam, aber sicher dahin. Und die Möglichkeiten, Teile der Mietkosten aus anderen Projekten zu decken, seien ebenfalls recht überschaubar, erklärt Meincke. Die AktivistInnen im Chancen-Café haben jedenfalls bereits reagiert und eine Initiative gegründet, die Unterschriften sammelt für „103 muss bleiben“. Die Liste liegt im Café aus.

Neben der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft wurde/wird die Initiative „Machbarschaft Borsig11“ bei der Durchführung verschiedener Projekte (ein Überblick: hier) auch von anderen Institutionen gefördert: von BVB-Stiftung „Leuchte auf“, der Vivawest-Stiftung, dem „european centre for creative economy“ (ecce), dem Regionalverband Ruhr (RVR), von Interkultur Ruhr, vom Bund und Land NRW sowie der Stadt Dortmund.

Nachdem das Konzept „Public Residence: Die Chance“ bereits 2013 den faktor kunst-Preis zur Förderung kultureller Teilhabe gewonnen hatte, wurde ihm 2016 ein N.I.C.E.-Award verliehen – der Preis des Netzwerks für Innovationen in Kultur und Kreativität in Europa. Ausgezeichnet wurde das Projekt unter den „beispielhaften Modellen zur Bewältigung drängender gesellschaftlicher Fragen“.

Und auch die letzte Nordstadt-Session im Chancen-Café war ein voller Erfolg. Da waren sich alle BesucherInnen einig. Für das kommende Jahr plane man, mehr Sessions zu machen, sagt Sebastiao Sala. Es käme dann auch über den Musik-Stammtisch zu einer Zusammenarbeit mit dem Domizil.

Übrigens: Nach neusten Informationen steht jetzt fest, dass im kommenden Jahr die Marhaba-Projekte zumindest teilweise fortgesetzt beziehungsweise sogar erweitert werden: Einmal im Monat wird es eine Nordstadt-Session geben und jeweils Donnerstags World Music Jam. Die interkulturelle Kollektion der Schneiderei 103 wird ebenfalls weiterentwickelt.

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