Ein Gastbeitrag von Ursula Maria Wartmann: „So viel Schnee in Neu-Ulm“

Wie die Geschichte einer Flucht in der neuen Heimat Dortmund glücklich endet

Gemeinsam mit ihren zwei Töchtern floh die 42-jährige S. vor dem Krieg in Syrien. Mittlerweile hat die kleine Familie nach mehreren anderen Stationen eine neue Heimat im Dortmunder Westen gefunden. Foto: privat

Ein Gastbeitrag von Ursula Maria Wartmann

Bevor sie 2015 nach Deutschland kam, war ihr Zuhause Salamieh. Salamieh – das ist eine kleine Stadt mitten in Syrien, ungefähr vier Autostunden von Damaskus entfernt. Dort ist sie aufgewachsen; wir nennen sie S. Ihre Kindheit war ruhig und überschaubar. Ihr Leben zunächst auch. Schule, Studium, Heirat, zwei Töchter. Dann kam der Krieg, und er kam immer näher …

Familie hat den Krieg in Syrien hautnah erlebt

S. hatte ihre Jüngste an der Brust, saß auf dem Balkon, als die Bombe unten in der Straße einschlug. Ein LKW, mit Gas beladen, explodierte. Die Druckwelle riss ihr das Kind von der Brust. „An dem Tag wusste ich, dass ich nicht bleiben würde. Ich musste mich und meine Töchter in Sicherheit bringen.“

Ihr Vater war Rektor in Salamieh, die Mutter Lehrerin an der Grundschule. Die Schwester ist heute Anwältin. Vier Brüder hat sie, alle haben studiert: Makler, Politiker, Lehrer; einer lebt in Dubai, der jüngste wie sie in Deutschland, in Hamburg. Sie ist mit den Kindern damals über die Türkei und Italien gekommen. Die Flucht hat viel Geld gekostet, es gab Rückschläge.

Sie und die Töchter, drei und sechs Jahre alt damals, wurden zurückgeflogen, haben es wieder versucht.

„Soviel wie damals habe ich nie mehr in meinem Leben geweint.“

Mutter und Töchter haben gemeinsam vieles erlebt auf ihrer langen Reise. Foto: privat

Man kennt die Geschichten aus der Presse, dem Fernsehen – sie sind nie schön, und sie hinterlassen Spuren. „Soviel wie damals habe ich nie mehr in meinem Leben geweint“, sagte S. Sie gießt Tee nach, rückt das Schälchen mit Nüssen und Konfekt zurecht.

Draußen hört man die S-Bahn quietschen. Ab und zu guckt eins der Mädchen um die Ecke. Klar, sie sind ein bisschen neugierig. Und sie sind aufgeweckt, das merkt man sofort. Im letzten Zeugnis hatten beide nur Einser und Zweier. Jetzt mal die Hände hoch: Wer von uns hatte das auch?!

Ihr Mann, erzählt S., wollte später nachkommen. Doch er kam nicht. Er könne seinen Vater nicht allein lassen, wurde eine ganze Weile aus Salamieh signalisiert; heute ist er wieder verheiratet.

Töchter haben sich schnell an ihre neue Heimat gewöhnt und glänzen in der Schule

Foto: Ursula Maria Wartmann

Sie kamen über Süddeutschland, April 2015 war das, ein kalter Winter. Eine der Stationen: ein Dorf nahe Neu-Ulm. Dort hatten sie ein Zimmer, teilten sich Küche und Bad mit ein paar anderen Familien.

„Es gab so viel Schnee in Neu-Ulm“, sagt S. und zieht noch heute fröstelnd die Schultern zusammen. „Und der Supermarkt war sehr weit entfernt …“ Dann die erlösende Nachricht: Es gibt eine Wohnung für die kleine Familie, in Dortmund, in NRW. „Ein Freund hat das damals über Facebook-Kontakte vermittelt“, sagt S. „Er lebt in Lindau am Bodensee, er ist wie ein Bruder. Wir haben heute noch Kontakt.“

Die Wohnung liegt in der Nordstadt, keine Küche, schwer zu beheizen. Trotzdem bleiben sie fast vier Jahre dort. S. besucht Sprachkurse, erreicht das B-1-Niveau. Die Kinder lernen in Kita und Schule die deutsche Sprache wie im Flug. Heute sprechen sie Hochdeutsch ohne jeden Akzent und sind begeisterte Leseratten.

Vielseitig begabte Akademikerin auf der Suche nach einer passenden Beschäftigung

Heute hat die kleine Familie eine neue Heimat im Dortmunder Westen gefunden. Foto: Ursula Maria Wartmann

Es gab ein Zwischenspiel in Essen. Dort gab es einen Mann und eine Liebe. Aber, wie das Leben oft so spielt: am Ende wurde doch nichts daraus. Dafür fand S. eine Wohnung im Dortmunder Westen: hell, warm, zentral. Ende 2019 war der Umzug. S. zeigt auf die hellen Möbel im Landhausstil: „Selbst zusammengebaut“, sagt sie stolz. Schön sieht das aus. Das kann sie also auch.

Sie kann auch gut kochen, und sie kocht leidenschaftlich gerne. Mulochia soll es heute geben. Spinat mit Hack, Knoblauch und Zitrone, dazu Reis. Ihre Dessert-Kreationen sind sagenhaft; wer davon gekostet hat, wird das nicht mehr vergessen. Aber all das bringt sie beruflich ja nicht weiter.

Sie hat in Syrien Arabistik studiert (vergleichbar: ein Germanistik-Studium hierzulande) und als Lehrerin gearbeitet; die Papiere der Universität Homs belegen, dass der Abschluss dem Bachelor vergleichbar ist. Eine Bescheinigung des Kultusministeriums liegt ebenfalls vor, die bestätigt, dass der Abschluss in Syrien „einem deutschen Hochschulabschluss auf Bachelor-Ebene“ entspricht. Doch das hat bisher nicht viel genutzt. S. ist Akademikerin, 42 Jahre alt, und ratlos, was beruflich werden soll.

„ Deutschland hat mir und meinen Kindern eine große Umarmung gegeben.“

Pinky ist ein weiteres Familienmitglied. Foto: privat

Natürlich steht sie schon lange in engem Kontakt mit dem Jobcenter, bewirbt sich auch auf Eigeninitiative. Erfolgreich war das noch nicht, und dann ist sie ja alleinerziehend, ohnehin ein schwerer „Job“, was auf dem Arbeitsmarkt die Möglichkeiten weiter einschränkt. Sie lacht. „Ich bin Mama, Papa, Oma und Opa in einem. Und manchmal auch ich selbst.“

Und doch ist sie glücklich, in Deutschland zu sein. „Hier“, findet sie, „geht man respektvoll miteinander um. Es ist eine Demokratie, und man hält sich an die Gesetze. Deutschland hat mir und meinen Kindern eine große Umarmung gegeben. Wir fühlen uns hier wohl und sicher.“ Was sie manchmal schwierig findet, ist die Bürokratie. Andererseits:

„Das hat auch einen Vorteil. In Deutschland habe ich Geduld gelernt.“ Überhaupt, sagt sie und zündet nachdenklich das Gas für frisches Teewasser an, „bringt doch jeder Tag neue Erfahrungen, durch die ich lernen und reifen kann.“ Sie mustert nachdenklich Pinky, den kleinen Fisch, der in einem Aquarium seine Bahnen zieht.

„Unsere Kultur setzt viele Grenzen, besonders für Frauen.“

Die jüngste Tochter hat das Schachspielen für sich entdeckt und schon Erfolge erzielt. Foto: l. privat, r. Ursula Maria Wartmann

„Jedenfalls finde ich mich heute besser als vor einem Jahr oder vor fünf Jahren.“ Was sie auch gut findet, ist die Rolle der Frau in der westlichen Welt. „Hier begegnen sich Männer und Frauen auf Augenhöhe. Man lässt auch andere Meinungen gelten. Unsere Kultur setzt viele Grenzen, besonders für Frauen.“ Bei dem Thema sind auch die beiden Mädchen sofort dabei.

„Toll ist das, hier frei leben zu können, zum Beispiel ohne Kleiderordnung“, sagt die Große. Sie spielt gerne Klavier, hat schon Medaillen im Ringen und Laufen geholt und will einmal Ärztin werden. Sie findet außerdem gut, dass Erwachsene auch Kindern zuhören, sie ernst nehmen. Und dass es „so viele nette Leute aus so vielen verschiedenen Ländern gibt.“

Und ihre Schwester ergänzt. „Ich finde gut, dass der Krieg hier schon lange vorbei ist. Und dass es in der Schule keine schlimmen Strafen gibt. Am nettesten finde ich hier die Polizei, weil sie alle beschützt.“ Die Jüngste ist ein Ass im Schachspielen, lernte ebenfalls gerade Klavier und spielt super gerne Fußball. Natürlich will sie immer zu den Netten gehören – und deshalb will sie einmal Polizistin werden.

Auch eine weitere Ausbildung schließt S. für sich nicht aus

Pinky, der hübsche kleine Fisch, schaut derweil dem Treiben draußen zu. Wenn demnächst – vielleicht! – ein Kätzchen zu der kleinen Familie zieht, ist er zumindest hinter Glas … Und dann zeigt S. auf die stattliche Topfpflanze, die meterhoch an Wand und Decke wuchert.

„Die gehört auch zur Familie. Als wir ankamen“, sie lächelt liebevoll, „war sie sooo klein. Ein Baby. Und dann ist sie hier in Deutschland mit uns gewachsen und mit uns aufgeblüht.“

Sie schenkt noch einmal Tee nach, greift zu den Walnüssen. Lächelt versonnen. „Das wäre“, sagt sie, „einfach das Allerschönste: eine Arbeit, die irgendwie mit dem zu tun hat, was ich gelernt habe. Lehrerassistenz zum Beispiel, das wäre großartig. Oder irgendetwas mit Sozialpädagogik …“

Letztendlich ist sie zu vielem bereit. Würde sie auch noch einmal eine Ausbildung machen? „Ja“, sagt sie, „natürlich. Wenn man mir die Möglichkeit dazu gibt: gerne!“

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