Dortmunds „Nachtbeauftragter“ hat seine Arbeit aufgenommen

Was wäre eine Großstadt ohne Nachtleben?

Chris Stemann, „Firestarter“, soll ab sofort die Dinge des Nachts zum Wohle aller fügen. Foto: Volker Rost

Dortmund hat seinen ersten „Nachtbeauftragten“. Die ursprüngliche Idee stammte von der SPD, Ende letzten Jahres griffen CDU und Grüne sie in den kommunalen Gremien auf. Schwarz-Grün wollte sogar gleich einen „Nachtbürgermeister“. Nun bleibt es bei der ursprünglich angedachten Bezeichnung. Das Anspruchsniveau seiner zukünftigen Tätigkeit wird dadurch allerdings nicht geringer. Christoph Stemann – vielen, auch international, eher bekannt als „Firerstarter“, oder einfach nur „Chris“ – betreut ab sofort unter anderem die Club- und Veranstaltungsszene der Stadt. Er ist zudem Ansprechpartner für alle Freund*innen der Nacht oder jene, die stattdessen doch eher Ruhe genießen möchten. Und wird dabei auch zwischen relevanten kommunalen Akteur*innen hin und her sprechen müssen, die von Berufs wegen, wenn es dunkel wird, ebenfalls unterwegs sind.

International anerkannter DJ aus Dortmund wird „Nachtbeauftragter“ – für Dortmund

Seine offizielle Vorstellung auf der ersten Pressekonferenz nach der Sommerpause des Verwaltungsvorstandes kam gestern, 25. August, einem gekonnten Drahtseilakt gleich: Demut gepaart mit Selbstbewusstsein. ___STEADY_PAYWALL___

Da ist zweifelsfrei große Anerkennung, die der heute 50-Jährige erfährt. Und darüber weiß er durchaus Bescheid und muss sich mitnichten verstecken. Geschäftsführer von Firestarter Promotions, die Events u.a. im Dortmunder Freizeitzentrum West (FZW) oder dem domicil durchgeführt haben, Auftritte im Rahmen der Fußball-WM 2010 auf der „Super Bowl After Party 2016“ oder regelmäßige Engagements in Japan machen klar – und das ist nur eine grobe Auswahl: neben dem Lokalkolorit ist da Erfahrung, international, für den nun Erwählten.

Mit dem jüngst entwickelten Dortmunder Festival „Party Rund ums U“ hat Christoph Stemann in Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteur*innen ein neues, erfolgreiches Format etabliert. Doch da sind auch Spartenangebote: die Familiendisko, die Santa Monika am Dortmunder Hafen.

Es ist die Verbindung zum Gegenüber des Erfolgs, was ihn sympathisch macht. Einfach zu bleiben. Einfach – und Bleiben: nahe den Menschen und verlässlich. Und während der PK des Verwaltungsvorstandes fallen Worte wie „Respekt“, „Demut“, konkret umschrieben in anziehender Sprache: „Ich bin eher so’n durchschnittlicher Typ, den man ausgezeichnet hat […] Ich hab‘ in meinem Leben oft das Gefühl gehabt, ich bin der Balljunge, der eingewechselt wird und das entscheidende Tor das ein oder andere Mal schießen durfte.“

Eine Großstadt braucht ein Nachtleben nahezu wie Luft zum Atmen

Der „Nachtbeauftragte“ stellt sich im Ausweich-Rathaus, den Westfalenhallen, persönlich vor. Er spricht von einem Pfarrhaus, dem seiner Großeltern, in dem er aufwuchs. Von Verlässlichkeit und Haltung. Glaubt, wie er sagt, an Nachbarschaft, ein Miteinander. An die „konstruktive Kraft der menschlichen Natur“: was mitnichten die schlechteste Idee ist – etwa beim verstörenden Blick auf selbsternannte Krieger für exklusiv selig machende Wahrheiten, deren letztes Wort Schwäche, nämlich Gewalt ist.

„Firestarter“, Chris Stemann, möchte etwas bewegen. Die Wirtschaftsförderung Dortmund hatte im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens den überzeugten Dortmunder ausgewählt. Es treffen sich zwei Interessenlagen. Der eine findet Wurzeln – und da ist ein Fakt: Wie andere Wirtschaftszweige ist das Dortmunder Nachtleben durch Corona arg gebeutelt, ja, es ist zum Stillstand gekommen. Hilfe ist vonnöten.

In dieser Lage formuliert Oberbürgermeister Thomas Westphal ein für die Stadt eh grundsätzliches Problem, und meint damit: Wer was auf sich hält, muss liefern – sonst ist’s Schall und Rauch: Dortmund bräuchte ein attraktives Nachtleben, bedeutet er. Das muss nun befördert werden. Die auf zwei Jahre befristete Projektstelle ist Teil des auf die Pandemie reagierenden kommunalen Wirtschaftsprogramms „Neue Stärke“ – und soll betroffenen Betrieben wieder auf die Sprünge helfen.

Erfahrungen bei Begegnungen in Zwischenwelten: „Ich küsse Dein Herz, Bro!“

Teil des Programms ist der neue „Nachtbeauftrage“. Seit 1997 sei er, Christoph Stemann, im Dortmunder Nachtleben aktiv. Anfangs in der ehemaligen „Live Station“ des HBF. Der Vater einer neunjährigen Tochter ist breit aufgestellt: Spielte beispielsweise später unter dem Label „Firerstarter“ im (alten) FZW Rammstein ohne Umstände. Wo damals diese Truppe noch wegen des Zusammenschnitts einiger von Leni Riefenstahl gedrehten Aufnahmen in ihrem Repertoire unter einem voreiligen Neo-Faschismus-Verdacht stand.

Merkliche Zweifel gab es deshalb in der Stadt und anderswo nie. Sondern da ist Anerkennung, für Offenheit, Kreativität, Neugier – die sich übersetzt hat in eine Anstellung des seit jeher eigentlich Selbstständigen. In diesem Monat hat er angefangen.

Kürzlich war da jemand, erzählt er. Der nachts ans Dortmunder U pinkelt. Freilich keine erfreuliche Ausgangslage für eine erste Begegnung. Doch sie endet gegenüber dem neuen Nachtbeauftragten letztendlich mit einem, in der Poesie der Jugend, erzählt Chris von seinen ersten Erfahrungen: „Ich küsse Dein Herz, Bro!“

OB Thomas Westphal muss während der PK bei solchen Worten eher schmunzeln denn neidisch dreinschauen. Er schluckt die weltlichen Folgen – anhebend mit der Würde seines Amtes wie dessen Entfremdung von der Lebenswirklichkeit – gleichsam als Kollateralschaden hinunter: Ihn habe noch keiner so angesprochen, schade eigentlich. Hätte wohl auch was mit seiner Funktion zu tun, mutmaßt er. Immerhin repräsentiert er ebenso das Ordnungsamt, das in solchen Situationen klare Worte pflichtgemäß bereithält – und analog Zwangsmaßnahmen auf entsprechende Verstöße. So richtig kuschelig kann’s dann nicht wirklich werden.

Sicherheitspolitik der schwarz-gelben NRW-Landesregierung für Dortmunds Oberbürgermeister nicht unfragwürdig

Doch Friede, Sicherheit – sie sind vor aller Prosperität in der Stadt als ihre conditio sine qua non oberstes Gebot. Wie dies nun allerdings en detail zu bewerkstelligen sei, da scheiden sich offenbar mächtige Geister. So sagt Thomas Westphal mit merklichem Bezug auf die in Düsseldorf residierende schwarz-gelbe Law and order-Riege und mit ausdrücklichem Hinweis auf Erfahrungen beim vergangenen Sommerrundgang, der auch an verschiedenen Shisha-Bars vorüberführte:

„Was mir ganz, ganz wichtig ist, wenn wir über Nachtleben reden, wir nicht das traditionelle Nachtleben, was wir so kennen, ausschließlich meinen. Sondern das ist auch ein Nachtleben. Und ich habe in den vergangenen Monaten schon das Gefühl bekommen, dass viele junge Menschen, die sich da aufhalten, durch verschiedene Aktionen, auch durch Razzien in der Frage von falscher Bekämpfung von Drogenkriminalität, wie ich finde, sich diskriminiert fühlen, sich gar nicht gesehen fühlen oder in die falsche Ecke geschoben fühlen. Und das dürfen wir gar nicht zulassen. Weil, wir wollen sie nicht weg haben, wir wollen sie in die Mitte holen.“

Das sei vielleicht sogar die größte Aufgabe, gewichtet der OB. Also ist auch dies ein zentraler Punkt auf der Agenda des neuen „Nachtbeauftragten“. Hier genauer zu schauen. – Der neue Mitarbeiter bleibt wieder bescheiden: „Was weiß ich schon vom Nachtleben?“ Das sei eben auch „Fischen im Trüben“, so Christoph Stemann. Warum was funktioniere oder auch nicht. „Ich weiß es nicht.“ Da gäbe es keine Formel. Zuhören, mit allen, die im Nachtleben aktiv sind, Ideen sammeln, so eben: Offenheit, zu lernen. Corona sei eben auch eine Chance, neue Sachen anzuschieben.

Herausforderungen zuhauf: damit das Leben in der Stadt pulsiere und wachse

Doch Chance durch jene Krise hin oder her. Da ist zunächst erst einmal diese Krise, die es zu bewältigen gilt. Die Sommerdiagnose von Westphal – zur Stimmung in der Branche des Nachtlebens: Sie traue „der Sache noch nicht richtig.“ Konkret: Wie viel Risiko gehen wir bei weiteren Anstellungen ein? Wenn eine vierte Pandemiewelle käme und eventuell trotz fortschreitender Durchimpfung erneute – politisch festgelegte – Restriktionen dräuten? Der Verkehr mit den Gästen ausbliebe?

Ein Pool konkreter Sorgen. Zu denen die von Anwohner*innen an neuralgischen Punkten gehören, zum Beispiel, wenn es wie jüngst um das Dortmunder U oder woanders lauter wird. Auch durch Kunst- oder Kulturschaffende, die auf ihre Stimme in der Gesellschaft insistieren – und ihr Publikum brauchen wie es sie. Wie viele junge Menschen, die da sind, die suchen. Nach Sinn, Identität, einem Leben für sich.

Zusammen mit anderen – und das heißt durch Öffentlichkeit, wo sie sich begegnen, miteinander entwickeln, sich frei binden können, ohne sich beständig die oberklugen Lebensweisheiten der Alten anhören zu müssen. Sie alle suchen den Schutz, die Leidenschaft der Nacht, dort, wo Geheimnisse beschützt werden, damit Leben wachse. – Eine für DJ Chris Stemann, der bislang so viele Menschen mitgerissen hat, angemessene Herausforderung.

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Reaktionen

  1. Detlef Brzostek

    Alles gut und schön, aber bei allem wortreichem, nahezu philosophischem Ober und Unterbau des Nachtbeauftragten, eine kurze Frage: Wie, wann und wo ist er denn ansprechbar. Oder ist er gleich hinter der städtischen “ Kontaktschutzmauer‘ verschwunden, die die Mitarbeiter vor Belästigungen durch Bürger sicher abschirmt?

  2. Musikstammtisch diskutiert mit dem neuen Nachtbeauftragten (PM)

    Der Musikstammtisch des Kulturbüros lädt ein: Beim nächsten Treffen am Dienstag, 14. Dezember, 19 Uhr im domicil (Hansastr. 7-11) ist der Nachtbeauftragte Chris Stemann zu Gast.

    Seit August ist er im Amt, das viele Facetten hat: Der Nachbeauftragte unterstützt die Veranstaltungsszene, ist Ansprechpartner für Club- und Konzertveranstalter*innen und agiert interdisziplinär im sogenannten Segment „Nach Acht“. Was bedeutet dies genau, wie liefen die ersten Monate im Amt – und wie geht es weiter? Im Gespräch mit Moderator Didi Stahlschmidt informiert Stemann über seine Arbeit.

    Live auf der Bühne steht an diesem Abend Martin Lixenfeld. Der Gitarrist und Sänger/Songweiter steht für Pop mit Americana, Country- und Gospel-Einflüssen (www.martinlixthesinger.com).

    Außerdem bietet der Abend Neues über Förderprogramme und Preise für Musiker*innen sowie die Möglichkeit, eigene Themen und Projekte vorzustellen. Der Eintritt ist frei. Es gelten die 2G-Regeln.
    http://www.facebook.com/musikstammtischdortmund
    Der Musikstammtisch ist ein Format des Kulturbüros Dortmund in Kooperation mit dem domicil.

  3. Nachtleben an Möllerbrücke und Dortmunder U: GRÜNE und CDU begrüßen Einführung von Dortmund Guides (PM)

    Auf Initiative der Fraktionen von GRÜNEN und CDU hat der Rat in seiner Sitzung am 17. Dezember 2020 beschlossen, einen Nachtbeauftragten zu installieren, um den Ausbau der Club- und Musikszene zu unterstützen und mögliche Konflikte zu befrieden. Die Arbeit des Nachtbeauftragten trägt nun erste Erfolge, die diesen Sommer bereits greifen sollen: Für das informelle Nachtleben an der Möllerbrücke, im Westpark und am Dortmunder U werden sogenannte „Dortmund Guides“ eingeführt.

    Die Idee: Ähnlich wie in Amsterdam mit „Local Crews“ oder in Wien mit „Awareness-Teams“ bekommt Dortmund eigene „Guides“ zur Ansprache von Menschen auf öffentlichen Plätzen. Die Dortmund Guides sollen aus einem Team von etwa 30 jungen Menschen bestehen und voraussichtlich ab April als Pilotprojekt an den Start gehen.

    Benjamin Beckmann (GRÜNE) und Uwe Wallrabe (CDU), beide Mitglieder im Ausschuss für öffentliche Ordnung, hierzu gemeinsam:

    „Als GRÜNE und CDU werden wir das Pilotprojekt positiv begleiten. Unsere grün-schwarze Initiative für einen Nachtbeauftragten zeigt hier erste Erfolge. Wir erhoffen uns mit den „Dortmund Guides“ einen spürbaren Beitrag zur Befriedung des öffentlichen Raums. Gerade an der Möllerbrücke kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Lärmbelästigungen. Durch die „Dortmund Guides“ erhoffen wir uns – vor allem in den Sommer-Monaten – eine deutlich spürbare Entspannung der Lage vor Ort für die AnwohnerInnen.“

    Uwe Wallrabe (CDU) weiter: „Und vielleicht schafft es Dortmund so, eine längst vergessene Partyszene, die sich seinerzeit auf dem Gelände der jetzigen Thier-Galerie und am Ostwall befand, wieder aufleben zu lassen.“

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