Dortmund war ein Knoten im weiten Netz für Handwerker auf der Walz

SERIE Nordstadt-Geschichte(n): Die „Herberge zur Heimat“ für wandernde Gesellen (Teil 1)

In die alte Herberge zur Heimat an der Kapellenstraße zog später das Arbeitsamt ein (Stadtarchiv Dortmund, Bestand 502-37)
In die alte Herberge zur Heimat an der Kapellenstraße zog später das Arbeitsamt ein (Stadtarchiv Dortmund, Bestand 502-37) Foto: Erich Grisar (1899-1955)

Von Klaus Winter

Wandernde Handwerksgesellen in ihrer traditionellen Kleidung sind heutzutage nur selten auf den Straßen zu sehen. Im 19. Jahrhundert und auch lange Zeit danach noch gehörten Handwerker auf der Walz dagegen zum Alltag. Aus den unterschiedlichsten Richtungen kommend trafen sie sich an Orten, an denen sie sich Arbeit erhofften. Das waren in erster Linie die stetig wachsenden Städte. Die Unterbringung der wandernden Handwerker dort wurde aber zu einem Problem. Denn vielfach wurden sie in Gastwirtschaften ausgenutzt und übervorteilt. Das war kein Zustand, der von Dauer sein konnte.

In Bonn wurde 1854 die erste Herberge zur Heimat eröffnet

Ein Weg, die Lage der Wandergesellen zu verbessern, bestand in der Einrichtung der „Herbergen zur Heimat“. Den Grundstein dazu legte der evangelische Theologe Johann Hinrich Wichern, der als Begründer der Inneren Mission der evangelischen Kirche gilt. Er hatte die Vorstellung von „guten, preiswerten, christlichen Gasthäusern“ für wandernde Handwerker.

Ein Schulfreund Wicherns, der Rechtswissenschaftler Prof. Clemens Theodor Perthes setzte die Idee in die Tat um. Im Jahre 1854 gründete er in Bonn die erste „Herberge zur Heimat“. Rasch wurden die Vorteile dieser Unterkunft erkannt, und hunderte weitere entstanden in der Folgezeit reichsweit.

Erste Dortmunder Herberge befand sich im evangelischen Vereinshaus

Aufruf zur Gründung einer Bauhandwerker-Gesellen-Herberge in Dortmund (Dortmunder Anzeiger, 23.02.1850)
Aufruf zur Gründung einer Bauhandwerker-Gesellen-Herberge in Dortmund (Dortmunder Anzeiger, 23.02.1850) KW

In Dortmund war 1850 auf Anregung von „Meistern und Gesellen“ bereits eine „Bauhandwerker-Gesellen-Herberge“ durch den Lehrer Dieckerhoff ins Leben gerufen worden. 1866 gründete man nun im Sinne Wicherns und Perthes‘ eine „evangelische Vereins-Herberge für durchwandernde Handwerksgesellen oder sonst ähnlich Reisende“.

Die Herberge wurde in dem neuerbauten evangelischen Vereinsheim in der Riemengasse untergebracht, die etwa dort verlief, wo heute der Platz von Amiens liegt. Die neue Herberge sollte über zwölf Betten verfügen.

Zur Finanzierung des Projekts wurden 1.000 Taler benötigt. Die Stadtobrigkeit beteiligte sich zum Teil an den Kosten. Der fehlende Betrag musste durch Sammlungen und Spenden aufgebracht werden. Man hoffte, dass sich die Herberge durch ihre Einnahmen bald selber tragen würde.

In dem Vereinsheim an der Riemengasse traf sich regelmäßig der evangelische Jünglingsverein. In den Zeitungsinseraten, mit denen zu den Treffen eingeladen wurde, wurde der Ort aber fast durchweg mit „Herberge zur Heimat“ statt mit „Evangelisches Vereinsheim“ bezeichnet.

Ein Neubau entstand 1882 an der Kapellenstraße

Die Räumlichkeiten an der Riemengasse genügten bald nicht mehr der Nachfrage. So wurde die Herberge 1882 in das eigens für diesen Zweck neu erbaute Haus Kapellenstr. 27 verlegt. Der Neubau verfügte über 28 Schlafzimmer, Wirtschaftsräume, einen geräumigen Saal und ein kleines Wirtschaftszimmer für Gäste, die nicht in der Herberge wohnten. Ein zweiter Saal stand dem evangelischen Jünglingsverein zur Verfügung. Um den Bau zu finanzieren, hatte man wie 1866 Beiträge gesammelt.

Lage der Herberge zur Heimat auf einem Stadtplan, 1900/05
Lage der Herberge zur Heimat auf einem Stadtplan, 1900/05 Klaus Winter | Nordstadtblogger

Der Betrieb in der neuen Herberge zur Heimat war von Beginn an sehr rege und betrug gegen Ende des Jahres 1882 fünfzig Mann pro Tag. Es handelte sich vorwiegend um Bauhandwerker, die sich auf Reisen befanden, weil das Winterwetter die Baustellen still gelegt hatte.

An Weihnachten des Jahres befanden sich 92 Wanderer im Haus. Der Herbergsvater ließ einen Weihnachtsbaum im großen Saal aufstellen, um den man sich versammelte und Weihnachtslieder sang. Das Herbergs-Komitee spendierte Kaffee, Kuchen und Butterbrot. Die völlig Mittellosen erhielten freies Mittag- und Abendessen.

Der Lohn für Holzspalten waren Mahlzeiten und ein Bett

Im Januar 1884 eröffnete der „Verein gegen Verarmung und Bettelei“ im Stadthaushof an der Berswordtstraße einen „Holzhof“. Durch eine Stunde Brennholzspalten vormittags konnten sich durchreisende Handwerksburschen dort ein Mittagessen in der Herberge zur Heimat verdienen. Zwei Stunden Brennholzmachen nachmittags wurde mit Abendessen, Übernachtung und Frühstück in der Herberge vergütet. Mitglieder katholischer Gesellenvereine wurden nicht zur Herberge an der Kapellenstraße, sondern zum Gesellenhaus am Eisenmarkt geschickt.

Das Holzhacken war über viele Jahre eine Möglichkeit, sich Verpflegung und ein Bett zu verdienen. Die Tagespresse veröffentlichte immer wieder, wie das Angebot angenommen wurde. So wurden im Juni 1886 64 Handwerksburschen in der Herberge verpflegt, die zuvor auf dem Holzhof gearbeitet hatten. „Im Monat vorher betrug die Zahl nur 30, ein Zeichen, daß bei den kalten Nächten im Juni der Aufenthalt bei ‚Mutter Grün‘ gerade nicht verlockend war […]“.

Herbergs-Gäste inserierten Stellengesuche

Stellengesuch eines Herbergs-Gasts (Dortmunder Zeitung, 20.06.1891)
Stellengesuch eines Herbergs-Gasts (Dortmunder Zeitung, 20.06.1891) KW

Die Presse berichtete gelegentlich, wer gerade in der Herberge wohnte. So hieß es im August 1891, dass die hohe Zahl der Herbergsgäste auf einen allgemeinen Arbeitsmangel hinwies. Es befänden sich „viele Schlosser“ unter ihnen.

Einige Gäste nutzten die Zeitungen für die Arbeitssuche: Ein älterer Metzger suchte beispielsweise eine Stellung, eventuell auch auf dem Lande, wobei es ihm weniger auf das Gehalt als gute Behandlung ankam.

Für die Weihnachtsfeiern in der Herberge erfolgten Spendenaufrufe. 1894 appellierte man an die Wohltätigkeit der Dortmunder, dem Herbergsvater milde Gaben zukommen zu lassen: abgetragene Kleidungsstücke, Schuhe, Strümpfe und Unterwäsche, Äpfel, Nüsse und Tabak.

Pastor Wiehe hatte sich um die Herberge verdient gemacht

Nachruf auf den Reinoldi-Pfarrer Wiehe (Dortmunder Zeitung, 12.05.1906)
Nachruf auf den Reinoldi-Pfarrer Wiehe (Dortmunder Zeitung, 12.05.1906) KW

Im Jahre 1900 erhielt Arnold Hempelmann die Konzession zum Betrieb der Gastwirtschaft in der Herberge zur Heimat, in der aber nach wie vor kein Branntwein ausgeschenkt werden durfte.

Im selben Jahr beantragte Pfarrer Wiehe von der Reinoldi-Gemeinde seine Emeritierung. In einer Würdigung seines Wirkens wurde erwähnt, dass auf sein Betreiben die Herberge zur Heimat in Dortmund ins Leben gerufen worden war.

Da Pastor Wiehe aber erst 1867 nach Dortmund gekommen war, kann die Gründung der Herberge nicht auf seine Initiative hin erfolgt sein. Vermutlich hatte Wiehe sich aber von Beginn seiner Amtszeit an für dieses Projekt eingesetzt.

In dem Nachruf des Presbyteriums und der Repräsentation der Reinoldi-Gemeinde nach dem Tode des Pfarrers im Mai 1906 wurde jedenfalls sein starkes Engagement u. a. für die Herberge gewürdigt.

Umbau des Hauptbahnhofs verdrängte die Herberge

Der große Bahnhofsumbau in Dortmund am Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts hatte direkte Auswirkungen auf die Herberge zur Heimat. Denn in unmittelbarer Nähe zur Herberge wurde der Straßenverkehr mittels einer Brücke über die Eisenbahnlinie geführt. Da jetzt der Hauptbahnhof höher gelegt werden sollte, mussten Dämme für die zum Bahnhof führenden Strecken aufgeworfen werden. Daraus folgte für die Situation an der Kapellenstraße, dass der Straßenverkehr künftig unter der Eisenbahn verlaufen sollte.

Die neue Eisenbahnbrücke über die tiefergelegte Kapellenstraße. Links im Hintergrund die alte Herberge zur Heimat (Dortmunder Zeitung, 12.09.1909)
Die neue Eisenbahnbrücke über die tiefergelegte Kapellenstraße. Links im Hintergrund die alte Herberge zur Heimat (Dortmunder Zeitung, 12.09.1909) KW

Das bedeutete eine massive Änderung – eine „Deformierung“ – des Geländeniveaus. Sollte die Herberge zur Heimat im Rahmen der Bauarbeiten nicht beseitigt werden, so war zumindest die Anlage einer sehr hohen Treppe zu ihrem Eingang notwendig. Angesichts dieser Probleme und um hohen Entschädigungsforderungen aus dem Wege zu gehen, kaufte die Stadt Dortmund 1907 die Herberge zur Heimat.

Im Gegenzug verkaufte die Stadt dem Herbergs-Verein ein etwa gleich großes Grundstück am Königshof, etwa hundert Meter östlich vom Nordausgang des neuen Hauptbahnhofs. Hier sollte eine neue Herberge zur Heimat entstehen. Da die Stadt an der Errichtung einer neuen Herberge durchaus interessiert war, gewährte sie dem Verein ein Darlehen in Höhe von 100.000 Mark für einen angemessenen Neubau.

Blick in die Kapellenstraße. Heute erinnert nichts mehr an den Standort der Herberge zur Heimat.
Blick in die Kapellenstraße. Heute erinnert nichts mehr an den Standort der Herberge zur Heimat. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Morgen folgt der zweite Teil aus der SERIE Nordstadt-Geschichte(n) über „Die Herberge zur Heimat“.

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