Beengt-ärmliche Wohnverhältnisse, fehlender Zugang zu Gütern der Grundversorgung, soziale Exklusion, täglicher Überlebenskampf, Bildungsmangel, Opfer von althergebrachten Vorurteilen und Stereotypisierungen, Fatalismus in der Community – die soziale Lage der Roma vor allem in Südosteuropa muss immer noch als umfassende Deprivilegierung beschrieben werden. Auch in Rumänien ist die ursprünglich aus Indien stammende Ethnie weiter in vielfältigen Teufelskreisen der Armut gefangen. Trotz wohlgemeinter Programme, auch von der EU, ist die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse ein außerordentlich zähes Unterfangen. Der Sozialwissenschaftler Florin Moisă hat im DKH über Hintergründe und Perspektiven berichtet.
Dietrich-Keuning-Haus ist für die Dortmunder Roma-Community zu einem Zuhause geworden
Seinerzeit, 2014 beim ersten Djelem-Djelem-Festival, war er schon einmal als Referent in Dortmund: Dr. Florin Moisă, derzeit Geschäftsführender Präsident des Ressourcenzentrums für Roma-Communities. Das Schöne an der Sache sei, freut sich Levent Arslan, seit diesem Sommer frischgebackener Direktor des Dietrich-Keuning-Haus (DKH), dass die örtlichen Roma mittlerweile im DKH ein Zuhause gefunden hätten – mit Kulturveranstaltungen aller Art.
Das sind neben der Beteiligung an Djelem-Djelem vor allem Tanz- und Bildungsangebote speziell für Kinder und Jugendliche der Roma, einschließlich zu schulischen Fragen, in Zusammenarbeit mit dem Romano Than – dem 2016 gegründeten Haus der europäischen Roma e.V.
Eingeladen hatte ihn diesmal das Interkulturelle Zentrum (IKUZ) der AWO, gemeinsam mit dem DKH, dem Jugendamt der Stadt Dortmund und dem Romano Than. Das Thema überrascht wenig: „Challenges and opportunities for the future of Roma”. Gemeint sind mit den Herausforderungen und Chancen speziell die Roma in Rumänien, so wie Florin Moisă einer ist.
Roma: solange die Geschichte reicht – keine bekannten Bestrebungen nach einem eigenen Staat
Die Maxime von Florin Moisă: Wer im Sinne dieser Roma handeln will, muss verstehen, d.h. ihre soziale Lage analysieren. Die ist durchaus ambivalent: Denn es ist immerhin über 25 Jahre her, als nach dem Sturz des Diktators Nicolae Ceaușescu sich vieles in dem Land zu verändern begann, nicht zuletzt durch den Beitritt in die EU 2007.
Seither bemühte sich die Politik; Finanzmittel, insbesondere auch aus der EU wurden bereitgestellt, es gab Bildungsangebote, Inklusionsbemühungen. Zugleich ist bis heute die Lebenssituation der Roma charakterisiert von Diskriminierungen, Vorurteilen, Exklusion, Armut und Migration.
Die Roma hatten nie einen eigenen Staat; eine politische Bewegung aus ihrer Mitte mit diesem Ziel ist nicht überliefert, zumal es kaum eigene Schriftquellen gibt. Diesen Umstand allerdings aus einer vorgeblichen Nichtsesshaftigkeit zu erklären, ist insofern problematisch, als das Bild des stets wandernden „Zigeuners“ eher Klischees bedient, denn historisch haltbar ist.
Der Anteil nomadischer Roma war schon immer geringer, als vor allem im deutschsprachigen Raum von verbreiteten Stereotypen insinuiert wurde. Vielfach ließen sich Roma-Gruppen als Gewerbetreibende oder Händler dort nieder, wo sie vergleichsweise unbehelligt vor Verfolgung waren.
Ohne historische Heimat, diskriminiert, verfolgt: ein Leben am Rand von Gesellschaften
In Europa bilden sie, so Florin Moisă, eine einzigartige Minderheit, ohne historische Heimat. Marginalisiert, verfolgt und vertrieben; gleichsam ein Leben aus dem Koffer, wie es der palästinensische Dichter Maḥmūd Darwīš einmal formulierte.
Auch die Basken beispielsweise hatten nie einen eigenen Staat, mindestens aber ein relativ fest umrissenes Siedlungsgebiet. Roma dagegen leben über ganz Europa verstreut, schwerpunktmäßig im Balkanbereich.
Fast solange Europa auf seine Geschichte mit den dort lebenden Roma zurückschauen kann, wurde „das wandernde Volk“ diskriminiert und verfolgt, lebte am Rand von Gesellschaften.
Kulminationspunkt der Verfolgung war der deutsche Faschismus mit seiner menschenverachtenden, aller Vernunft widerstreitenden Ideologie und der systematischen Vernichtung von Roma.
Angaben zur Anzahl der Opfer während des zweiten Weltkriegs im nationalsozialistisch besetzten Europa und den mit dem NS verbündeten Staaten unter den Roma schwanken. Sie dürfte sich auf mindestens eine halbe Million Menschen belaufen.
In der Gegenwart leben nach Angaben des Europarates von 2011 10 bis 12 Millionen Roma in Europa, schwerpunktmäßig – relativ zur Restbevölkerung – in Rumänien, Bulgarien und Tschechien.
Ursprünge der Roma liegen im Verborgenen und sind nur über Sprachverwandtschaften rekonstruierbar
Die Ursprünge der Roma sind weitgehend über Sprachverwandtschaften rekonstruierbar; d.h.: archäologische Funde beispielsweise oder andere Hinweise aus historischen Quellen sind spärlich.
Ihre Sprache, das Romani (dt.: Romanes), entstammt demnach dem „indoeuropäischen“ (dt. häufig: „indogermanischen“) Sprachkreis: gebildet durch Gemeinsamkeiten vieler Sprachen von Indien bis Europa.
Entdeckt wurde der Zusammenhang in der Linguistik des 19. Jahrhunderts. Die daraus abgeleitete Annahme einer indoeuropäischen Ursprache ließ zugleich Spekulationen über ein mythisches Urvolk aufkommen, das nach dem altpersischen „aryā“ in der völkischen Bewegung Deutschlands, später bei den Nazis zu den blond-blauäugigen „Ariern“ deformiert wurde.
Aus dem kleinasiatischen Raum – wo diese hypothetische „Ursprache“ bzw. die „Urheimat“ verortet wurde, heute in etwa durch Flächen des Irans, Anatoliens, der Ukraine u.a. gebildet – gab es grob bis zum Jahr 1.200 vor der christlichen Zeitrechnung offenbar große Migrationsbewegungen Richtung West wie Ost.
Wegen Ähnlichkeit von Romanes und Sanskrit: Ursprünge der Roma vermutlich auf indischem Subkontinent
Die westliche Welle, das waren nacheinander die späteren Kelten, Germanen und Slawen, die auf ein relativ dünnbesiedeltes Europa stießen. Die östliche Bewegung tauchte in dieser Zeit in Nordindien über die Gelehrtensprache „Sanskrit“ mit ihren (wegen der frappierenden Ähnlichkeiten zum Altgriechischen und Lateinischen) indoeuropäischen Sprachwurzeln auf. Das Romanes ist mit dem Sanskrit eng verwandt.
Die heutige Linguistik verortet die Herkunft der Roma irgendwo auf dem indischen Subkontinent; viel genaueres lässt sich seriös nicht sagen. Von dort ging es für die rätselhafte Ethnie offenbar nach Nordwesten Richtung Europa. Wann, oder ob nur über eine Nordroute oder zusätzlich durch den arabischen Raum: all dies liegt weitgehend im Dunkeln.
Jedenfalls tauchen Roma als Ethnie irgendwann in Europa auf und verbreiten sich peu à peu als drei Subethnien: Sinti vorwiegend in Mitteleuropa (die „Manouches“ in Frankreich), Calé in Spanien und vor allem als „Roma“ im engeren Sinne (mit einer Fülle an Selbstbezeichnungen) hauptsächlich in Südosteuropa.
Dort sind sie als Population seit dem 14., in Deutschland seit dem 15. Jahrhundert nachweisbar. 1498 werden die „Zeigeiner“ auf dem Reichstag zu Freiburg aus deutschen Gebieten verwiesen und für vogelfrei erklärt – neben Diskriminierung wird über Jahrhunderte die – mehr oder weniger intensive – Verfolgung von Roma zur Normalität.
Roma bilden mitnichten eine homogene Gruppe, sondern unterscheiden sich teilweise erheblich
Nie war, nirgendwo ist Romanes/Romani Amtssprache. Die Sprache der Roma ist nicht standardisiert, eine normierte Schriftform gibt es nicht, sondern sie wird in sozialen Kleingruppen, Familien, Nachbarschaften tradiert.
Angehörige der Ethnie sind nicht nur über Europa, sondern mittlerweile auf der ganzen Welt verteilt. Sie können daher keine homogene Großgruppe bilden und sind, wie nicht anders zu erwarten, in sehr unterschiedlichem Maße gesellschaftlich assimiliert.
Die Spannbreite reiche, so Florin Moisă, von Roma, deren Lebensweise vollständig ihrer kulturellen Traditionen entspricht, die selbst ein uneinheitliches Bild abgeben, bis hin zu solchen „ehemaligen“ Roma, die sich komplett in die Mehrheitsgesellschaft integriert hätten, sich selbst nicht mehr als Roma identifizierten und von der sozialen Umwelt auch nicht mehr als solche angesehen würden.
Was an diesem wenig überraschenden Umstand für Florin Moisă wichtig ist: Die Vielfalt unter den Roma habe Konsequenzen auf der Handlungsebene, denn daraus ergäben sich zielgruppenspezifische Herangehensweisen bei der Bereitstellung von Unterstützungsangeboten, um Benachteiligungen aufzubrechen.
Einem Roma-Student etwa, der die eigene Sprache nicht mehr spräche, sich aber noch für einen Roma hielte, könne beispielsweise geholfen werden, indem ihm der Zugang zu einem Nebenjob erleichtert würde, weil er unter Umständen aus dem Unterstützungssystem der eigenen Community herausgefallen sei. – Alphabetisierungskurse braucht er jedenfalls nicht.
Viele Roma bekennen als Emigrationsmotiv: der Armut im eigenen Lande entkommen
Das sieht nicht überall so aus, im Gegenteil – und es betrifft vor allem viele Menschen. Zur Lage im heutigen Rumänien ist für Florin Moisă klar: trotz Demokratisierung seit dem Sturz des Ceaușescu-Regimes, trotz EU und gut gemeinten Hilfsprogrammen sind Roma dort die deprivilegierteste Minderheit: sozial weitgehend ausgeschlossen, dadurch an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
Zwei Drittel lebten dort in Armut, die Hälfte in großer Armut, fasst der Sozialarbeiter und Roma-Aktivist zusammen. – Augenfällig wird die prekäre soziale Lage der Roma schon dann, wenn sie mit anderen Rumänen nach ihren Motiven für Emigration befragt werden: bei 40 Prozent von ihnen ist es „Armut“, verglichen mit 12 Prozent beim Rest ihrer rumänischen Landleute. Geht es dagegen um das Motiv, eine Arbeit zu finden, dreht sich die Antwortrichtung um: 20 vs. 42,5 Prozent geben dies als Migrationsgrund an.
Das eigentlich Schlagende daran aber ist das Bekenntnis relativ vieler Roma zu ihrer Armut: denn bei solchen Befragungen gibt es stets eine Tendenz zur Präferenz von Antworten nach sozialer Erwünschtheit, der gegenüber das Armutsmotiv ziemlich randständig wirkt – wer möchte schon eingestehen, dass er/sie arm ist? Die Suche nach einem Job als Motiv für Emigration nimmt sich da deutlich besser aus.
Geburtenrate bei den Roma ist extrem hoch – ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wächst
Bei näherer Betrachtung einer Fülle von weiteren Indikatoren, mit denen die soziale Lage der Roma in dem Balkanstaat am Schwarzen Meer verständlich gemacht werden kann, ist der Rückgriff auf psychologisch beschreibbare Mechanismen überflüssig; sie sprechen schlicht für sich.
Vorab ist da allerdings die demographische Struktur: seit 1966, als in Rumänien mit dem Dekret 770 Abtreibung und Verhütung verboten wurden, steigt der Roma-Populationsanteil wegen der sehr hohen Geburtenraten stark an. Heute sind 47 Prozent der registrierten Roma maximal 19 Jahre alt, ein Drittel ist jünger als 14. Das muss nicht per se schlecht sein.
Florin Moisă sieht in der großen Anzahl ihrer Kinder, auch mit Blick auf ihren Status in Ländern oder Städten wie Dortmund, in die sie migriert sind, nicht notwendig Konfliktstoff: es sei letztendlich eine Frage der Wahrnehmung, ob hier die Schwierigkeiten betont würden – mit der Konsequenz, zu versuchen, sich der Familien zu entledigen – oder dies als eine Chance durch Integration, auch auf den Arbeitsmarkt begriffen würde.
Auf die Perspektive komme es eben an, so Moisă, und in Abhängigkeit davon: ob gegebenenfalls Lösungen gefunden werden könnten.
Zwischen sozialer Exklusion und traditionellem Lebensstil: gefangen im Teufelskreis der Armut
Die dunkle Seite der Kinderfreuden: Die Lebenserwartung eines Roma-Kindes ist um 16 Jahre geringer gegenüber dem Rest der rumänischen StaatsbürgerInnen: während dort 7 Prozent ein Alter von 75 Jahren und mehr erreichen, macht diese Gruppe Hochbetagter bei den Roma gerade ein Prozent aus. Die Altersverteilung relativ zu Nicht-Roma-Communities ist daher stärker mittig.
Offiziell leben in Rumänien mit seinen 20 Millionen EinwohnerInnen etwa drei Prozent Roma; faktisch dürfte sich ihre Zahl auf ungefähr eine Million belaufen – genauso viele wie BürgerInnen ungarischer Herkunft. Die Hauptproblematik ihrer Lage lässt sich Florin Moisă zufolge mit einigen wenigen Sätzen kennzeichnen: Diskriminierung und soziale Exklusion bei Pflege eines traditionell abweichenden Lebensstils in der Marginalität und dem Gefangensein in einem fortgesetzten Armutszirkel.
Letzterer wird bezeichnet durch ein niedriges Bildungsniveau, Arbeitslosigkeit, höhere Kriminalitätsraten (für kleinere Delikte), eine schlechte Gesundheitsversorgung, ärmliche Wohnverhältnisse, wenig Zusammenhalt in der Gemeinschaft.
Lebens- und Wohnverhältnisse – Disparität beim Zugang zu Gütern der Grundversorgung
Welche Güter der Grundversorgung auch betrachtet werden: der durchschnittliche Zugang von Roma-Angehörigen ist im Verhältnis zu Nicht-Roma erheblich schlechter. Ob bei Elektrizität, fließendem Wasser oder Warmwasser, Gas, Heizung, Toiletten im Haus mit oder ohne Wasserspülung.
Die Disparität der gemittelten Lebensverhältnisse anhand ethnischer Linien wird dort besonders deutlich, wo Nachbarschaften danach verglichen werden, wem Zugangsmöglichkeiten zu Grundversorgungsgütern versperrt sind. Dies gilt auch für das Nichtvorhandensein von Elektrogroßgeräten wie Waschmaschine, Kühlschrank oder Fernseher und Anbindungen der Haushalte ans Internet.
Bei den Wohnverhältnissen im Hinblick auf die Dichte der Belegung pro Quadratmeter sieht es ähnlich aus. So leben im Durchschnitt bei den Roma knapp fünf Personen in einem Haushalt, bei den Nicht-Roma sind es nicht einmal drei; beim Anteil der Kinder daran ist das Verhältnis 1,74 zu 0,44.
Einen Raum müssen sich in Roma-Familien im Mittel 3,57 Personen teilen, bei den Nicht-Roma sind es nur anderthalb.
Traditionelle Erwerbszweige sind der Konkurrenz industrieller Fertigprodukte nicht mehr gewachsen
Das Leben in beengten Wohnsituationen, überdurchschnittlich häufiges Fehlen von basalen Gütern der Versorgung, einschließlich der medizinischen gehen einher mit relativer Desintegration vom ersten Arbeitsmarkt.
Einerseits versiegen althergebrachte Einkommensquellen durch übermächtige Konkurrenz. Wenn ein Rom Goldschmuck auf einem kleinen Tisch, bedeckt mit einem schäbigen Tuch ausgelegt hat, stehen seine Verkaufschancen im Verhältnis zum Juwelier nebenan mit seiner Schaufensterdekoration schlecht.
In anderen Erwerbsbereichen sind es industrielle Fertigprodukte, mit denen traditionelle Handwerksarbeiten nicht mehr mithalten können. Seit jeher sind Roma beispielsweise sehr gute Metallarbeiter. Die Kalderaš, traditionell Kesselhersteller, häufig spezialisiert als Kupferschmiede, bieten handgefertigtes Geschirr am Straßenrand an: Töpfe, Kannen, Becher. Aber, so Florin Moisă, niemand kaufe mehr etwas bei den Roma.
Dabei wurde es mit tausenden von Hammerschlägen auf das Material gefertigt, bis es zur gewünschten individuellen Form gebracht worden ist. Das alles geschieht über Jahre ohne Hörschutz, wie Florin erzählt, weshalb es bei solchen Handwerkern eine Tendenz zur Taubheit gäbe.
Auf dem Arbeitsmarkt resultiert das Einkommen meist aus prekären Beschäftigungsverhältnissen
Auch Tätigkeiten wie das Knüpfen von Vorhängen oder Teppichen scheinen wenig zukunftsträchtig zu sein. Viele Roma haben davon gelebt, so überlebt. Wenn solche Waren nun massenhaft in Fabriken billig hergestellt werden, kommt diese Erwerbsmöglichkeit in einem beträchtlichen Umfang zum Erliegen.
Andererseits besteht dadurch ein traditionell desintegratives Verhältnis zum gewöhnlichen Arbeitsmarkt. Nur knapp 23 Prozent aller Roma sind dort aktiv (gegenüber 42 Prozent im Durchschnitt Rumäniens).
Während fünf Prozent der Nicht-Roma länger als zwei Jahre arbeitslos sind, betrifft dies bei den Roma 50 Prozent. Genauso verhält es sich beim Anteil prekärer Arbeitsverhältnisse wie informellen Verabredungen gegenüber einer vertraglich gesicherten Anstellung.
Im Endeffekt gibt es so eine Tendenz, die Florin Moisă mit den Worten beschreibt: „The poor are becoming poorer“. Ein Zirkel der Armut, auf dem sich ein weiterer Teufelskreis dreht.
Durch ihre unsichere Stellung auf dem Arbeitsmarkt verfestigen sich Vorurteile und Stereotype zum Arbeitsverhalten der Roma: dass sie arbeitsscheu etc. seien.
So etwas sei immer am leichtesten, bemerkt Florin Moisă. Und hält dagegen, auch mit Blick nach Dortmund: „Schaff‘ adäquate Bedingungen für sie, dann werden sie auch arbeiten.“
Zwangsverheiratungen: wenn Kinder Kinder kriegen, sind die Chancen auf eine Ausbildung dahin
Die Folge der Randstellung in der Wirtschaft bedeutet auch soziale Exklusion: der tendenzielle Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe. Die Forderung liegt auf der Hand: arbeitsmarktpolitische Programme, um diesen Zirkel zu durchbrechen. Aber: hier läge nur eine Stellschraube in einem komplexen Gefüge. Das strategisch bedeutsamste Handlungsfeld ist der Bildungssektor.
Bereits gut 32 Prozent der Roma-Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren haben schon ein Kind im Verhältnis zu vier Prozent bei den Nicht-Roma. Die Folgen, wenn Kinder Kinder zeugen, sind klar: der Abschluss einer Ausbildung wird unter diesen Voraussetzungen nahe unmöglich. Mit anderen Worten, pointiert: die eine Generation von Analphabeten produziert die nächste, usf. – der nächste Teufelskreis.
Aber: Die Benachteiligung von Mädchen durch Zwangsverheiratung in jungen Jahren bei den Roma selbst spiegelt sich zwar in Zahlen zur Grundbildung: 24 gegenüber 20 Prozent bei den Jungen haben keinerlei Schule besucht.
Lernen in einer Großfamilie auf engstem Raum: denkbar schlechte Voraussetzungen für eine Ausbildung
Bekommen Mädchen hingegen eine Chance, sind sie erfolgreicher. Je weiter es beim Abschlussniveau nach oben geht, kommt es zu einem geschlechtsspezifisch ausgeglichenen Verhältnis, bis sich an der Spitze, bei den Universitätsabschlüssen, relativ zu ihrer Kohorte mehr junge Frauen (Romnija) als Männer (Rom) befinden.
Dennoch: Das Ausbildungsniveau bleibt weit hinter dem der Nicht-Roma in Rumänien zurück.
Auch die beschriebenen Wohnverhältnisse spielen für den Abschluss einer Ausbildung selbstverständlich eine große Rolle: wenn viele Personen auf engem Raum leben, wird es schwierig, wenn nicht fast unmöglich, ein solches Ziel zu erreichen.
Erschwerend wäre das Nomadentum, ergänzt Florin Moisă. Doch so lebten in Rumänien nur noch ein Prozent aller Roma. Dessen unerwünschte Folgen: ziehen sie – vor allem im Frühjahr und Sommer – durchs Land, gehen die Kinder natürlich nicht zur Schule.
Doch es hat sich auch etwas getan: Besuchten 1998 noch 28 Prozent aller Roma keine Schule, waren es 2012 „nur“ noch 22 Prozent; allerdings: im Verhältnis zu lediglich 2,2 Prozent bei den Nicht-Roma. Das zeigt an, wie verkrustet die Verhältnisse sind, wie weit der Weg ist.
Was zu guter Letzt hinzukommt – es wäre naiv, es zu unterschlagen: traditionelle Handlungsgewohnheiten und Einstellungssysteme in den Roma-Gemeinschaften laufen dem Aufbrechen dieser Situation teilweise entgegen.
Fatale Mischung aus umfassender Deprivilegierung mit teils quietistisch-fatalistischen Mentalitäten
Infolge der sozialen Lage von Roma – wie den beengt-ärmlichen Wohnverhältnissen („muddy conditions“), damit verbunden einem Mangel an Privatsphäre, der sozialen Exklusion und dem täglichen Überlebenskampf mit Gelegenheitsarbeiten bei chronischem Geldmangel, einer unterdurchschnittlichen Ausbildung, et cetera – das alles habe psychische wie behaviorale Folgewirkungen.
Florin Moisă nennt Alkoholismus, häusliche Gewalt, Kleinkriminalität, Hoffnungslosigkeit. Hinzukommt eine gleichsam fatalistische Tradition: „Wir leben jetzt, morgen sehen wir weiter“. Gewonnenes Einkommen würde dann sofort wieder umgesetzt oder damit Schulden bezahlt – zuvor häufig entstanden aus kleineren, sich aufsummierenden Beträgen, um am Ende des Tages nicht hungrig einzuschlafen.
Pauperismus wie er im Buche steht. Da gäbe es dann erst gar keine Diskussion darüber, ob Kinder zur Schule gehen sollten, sagt Florin Moisă. Und wohl auch nicht, ob ein Mädchen bereits in jungen Jahren verheiratet würde. Stattdessen fielen ggf. Sätze wie: „Es ist gut, wie wir sind“, „Wir leben unsere Tradition“.
Unter solchen Voraussetzungen dann etwa auf Familienplanung angesprochen, sei von vielen Roma oftmals die Antwort zu hören: „Was sollen wir planen? – Die Kinder kommen von Gott!“ Kinder, die dann beispielsweise von ihren Eltern angehalten würden, Müll zu sammeln – sie hätten nie wirklich eine Chance.
Selbstbestimmungsrecht und Paternalismus: die schwierige Frage nach rechtem Handeln für Rechte
Nun ist das (individuelle) Selbstbestimmungsrecht ein hohes Gut, ein Menschenrecht, darin die Freiheit des Humanum scheint. Jener gönnerhafte Paternalismus ist daher vollständig verfehlt, welcher sich anmaßt, im vorgeblichen Sinne der Roma für sie zu entscheiden, was vor dem Hintergrund zivilisatorischer Imperative im Europa des 21. Jahrhunderts von ihrer Kulturtradition bewahrenswert ist, was nicht.
Doch es gibt aus den über Jahrhunderte aus den Sozialbezügen der Roma untereinander entstandene Verhaltensgewohnheiten, die es heute in eben diesem Europa erschweren, dass sie ihre eigenen Rechte wahrnehmen und ihre Interessen verfolgen können. Florin Moisă umschreibt ein Beispiel.
Roma, sofern sie sich nur im rumänischen Binnenland bewegen, besitzen traditionell keine Personalausweise oder Dokumente über Eigentum von Land oder einem Haus. Denn innerhalb der Community sind derartige Belege einfach überflüssig. Ein jeder weiß, wer wer ist und wer was besitzt. In Konsequenz können sie deshalb aber gegebenenfalls auch keine Ansprüche auf diesen ihren Besitz geltend machen, sind also vulnerabel gegenüber dem Unrecht.
Fortschritte in Rumänien: Einführung einer Quotenreglung für Roma in Teilen des Bildungssektors
Was also tun? Dies verändere sich gerade in Rumänien, bemerkt Florin Moisă, indem staatlicherseits entsprechende Papiere ausgestellt würden. Auf europäischer Ebene gäbe es einen ganzen Maßnahmenkatalog, um die Lage der Roma zu verbessern. Woran es hapere? Häufig an der richtigen Umsetzung, den geeigneten Mitteln dafür.
Gleichwohl gäbe es Fortschritte, entgegnet Florin Moisă auf den enttäuschten Kommentar einer Zuhörerin, die bemängelt, es seien in dem Vortrag über eine Beschreibung der schwierigen Soziallage der Roma hinaus, die ihr bereits zuvor bekannt gewesen wäre, keinerlei Lösungen präsentiert worden.
Die seitens der rumänischen Regierung noch mit dem geringsten Aufwand realisierbaren Maßnahmen bezögen sich auf den Bildungssektor. So seien an den Gymnasien jetzt zwei Plätze für Roma reserviert, es gäbe spezielle Stipendien, um ein Hochschulstudium zu absolvieren – immerhin ein Fortschritt. Im Bereich der Gesundheitsversorgung sei ein „Gesundheitsmediator“ eingeführt worden.
Für eine Politik der kleinen Schritte in Rumänien: alternativlos, wenn mit Hartnäckigkeit betrieben
„Das sind alles kleine Dinge“, sagt Florin Moisă, die darauf abzielten, den fatalen, multidimensionalen Armutszirkel zu durchbrechen. Es wurde deutlich: dafür braucht es viel Geduld. Schwierig seien Lösungen zum Beispiel im Bereich Wohnen, denn hier träfen Initiativen auf die Privatwirtschaft.
Auch was Jobs betrifft, ist es kompliziert: das finge schon damit an, dass Roma häufig deshalb nicht eingestellt würden, weil sie schlicht die dafür benötigten Papiere nicht hätten. – Die Dinge hängen zusammen, bilden ein komplexes Geflecht, in dem es so etwas wie einen Gordischen Knoten nicht gibt, gar nicht geben kann.
Speziellen Handlungsbedarf sieht er auf lokaler Ebene: gerade dort, wo seine Leute konkrete Unterstützung benötigten, hätten sie keine Stimme, könnten daher ihre Interessen nicht artikulieren. Wieder: der Schlüssel ist Bildung – ein Strategieprojekt, das nicht ohne eine erfolgreiche Bekämpfung der Armut zu bewältigen sein wird.
Die eigene Identität mit der mutigen Bereitschaft wahren, sie/sich zu entwickeln
Dazu gehört gleichermaßen, eigene, über viele Jahrhunderte liebgewonnene, in nicht seltenen Fällen aber auch als Schutz vor Verfolgung aufgebaute Gewohnheiten an neuralgischen Punkten zu hinterfragen – um dennoch bzw. gerade deshalb identitätswahrend überleben zu können.
„Am schwierigsten ist es, Mentalitäten zu verändern; das braucht viele Generationen“, ist Florin Moisă – frei nach Lenin – betont realistisch (dort hieß es: „Die Macht der Gewohnheit von Millionen und Abermillionen ist die fürchterlichste Macht.“) – um den langen, aber alternativlosen Weg der Roma wohl wissend. Aber mit langen Wegen, siehe Indien, haben sie ja Erfahrung.
„Wir haben hier und da Lösungen gefunden, aber es braucht seine Zeit“, schließt Florin Moisă – bis sie spürbare Wirkung zeigen. Und warnt vor falschen Erwartungen: „Wunderlösungen habe ich nicht.“ Als positives Beispiel nennt er Spanien: dort habe man über 20 Jahre in die Gitano-Community investiert – „and its better now!“
Weitere Informationen:
- Chronologie des Völkermordes an Sinti und Roma, hier:
- Bundeszentrale für politische Bildung. Dossier: Sinti und Roma in Europa, hier:
- European Roma Rights Centre, hier:
Mehr zum Thema bei nordstadtblogger.de:
Podiumsdiskussion: Alltagsdiskriminierung von Sinti und Roma – wie dem begegnen?
Reaktionen
Marie
wenn die Romas und Sinties in Rumänien „gefangen in Armut“ sind – warum setzen sie so viele Kinder in die Welt, wenn sie sich diese nicht leisten können? Mit Erziehung geben die sich auch nicht viel Mühe. Kinder sind bekanntlich auch in westlichen Ländern ein Armutsfaktor – und die arme Länder – wie z. b. Afrika u. a. haben selbst nicht genug zum essen und gebären ein Kind nach dem anderem – finden Sie das verantwortlich? Und argumentieren Sie nicht mit der Pille – wenn ich kein Geld für Pille habe, kann ich kein unkontrollierten kein Sex haben , dessen Folge dann die Kleinsten und Wehrlosesten tragen können, nicht wahr? Mitleid mit Menschen, die selbst ihre Armut verursachen und dann hierher kommen zu betteln, hält sich bei mir in Grenzen. Wenn wir alle so unverantwortlich handeln würden – wo kämen wir hin? Der Staat soll die arme Menschen unterstützen – egal ob Romas oder andere – aber ausnutzen und für dumm halten muss sich ja keiner lassen. Solange die nicht anfangen vernünftig zu denken und handeln – kann auch der Staat nicht viel ausrichten. Wie wäre es erst mit Aufklärung – wenn es bei denen nicht von allein funktioniert?