Nordstadt: Generationswechsel nach 35 Jahren – „Für mich ist GrünBau ein Stück soziale Utopie“

Die Gründer:innen gehen in Rente und ein Führungsduo übernimmt

Drei Menschen vor dem Schriftzug
Das bisherige Führungstrio von Grünbau – Angelika Wirth, Andreas Koch und Ute Lohde – hat sich in den Ruhestand verabschiedet. Foto: Dietmar Wäsche / GrünBau gGmbH

Ein Stück Nordstadt-Geschichte geht zu Ende: Nach mehr als drei Jahrzehnten treten mit Andreas Koch, der seit den frühen Jahren das Gesicht von GrünBau war, sowie Angelika „Geli“ Wirth und Ute Lohde gleich drei Mitglieder des bisherigen Führungsteams in den Ruhestand. Gemeinsam haben sie GrünBau geprägt und von einer selbstorganisierten Initiative arbeitsloser Akademiker:innen zu einem modernen sozialen Träger mit über 300 Beschäftigten entwickelt. Nun übernehmen Rosa Becker und Frank Plaß die Geschäftsführung – als Doppelspitze und bewusst eingebettet in ein breites Leitungsteam.

Entscheidungen im Team und kurze Wege haben GrünBau stark gemacht

„Allein hätten wir uns das gar nicht vorstellen können“, sagt Rosa Becker. „Die letzten zehn bis 15 Jahre ist GrünBau enorm gewachsen – das kann eine Person allein gar nicht mehr abdecken. Es war uns klar, dass wir ein Modell brauchen, bei dem Ideen gemeinsam diskutiert und Entscheidungen im Team getroffen werden.“

Betriebsleiter Frank Plaß von GrünBau Foto: Thomas Engel

Auch Frank Plaß betont: „Für uns ist es selbstverständlich, dass wir als Geschäftsführung im Tandem arbeiten. Genauso wie unser Leitungsteam insgesamt, das aus elf Menschen besteht. Diese Kultur des Miteinanders wollen wir fortführen.“

Dass Entscheidungen bei GrünBau nie an einer einzelnen Person hingen, war stets ein Markenzeichen. Ute Lohde erinnert sich: „Wir waren immer sprechfähig – auch wenn Andreas mal nicht da war, konnten Frank, Geli oder ich die Organisation vertreten. Gerade in Krisenzeiten wie während der Pandemie hat sich gezeigt, wie wichtig das ist. Wir mussten spontan Sprachmittler:innen für das Gesundheitsamt organisieren, um Familien in Quarantäne zu unterstützen. Da waren wir abends oder am Wochenende im Einsatz.“

Vom kleinen Büro mit drei Leuten zum Unternehmen mit mehr als 300 Beschäftigten

Die kurzen Wege, die enge Kommunikation und die gemeinsame Verantwortung haben GrünBau stark gemacht – und sie sollen auch in Zukunft das Leitbild prägen.

Ute Lohde verabschiedet sich von Grünbau. Foto: Helmut Sommer für Nordstadtblogger.de

Wenn die neue Doppelspitze heute von rund 300 Beschäftigten und über 50 Projekten spricht, wirkt der Anfang kaum vorstellbar: Fünf Menschen und nur ein kleines Büro: „Wir saßen alle in einem Raum, jeder kriegte alles mit“, so beschreibt Ute Lohde die Anfangsjahre.

„Eine Schublade mit Bargeld, Quittungen und Briefmarken, ein alter Apple Macintosh und eine Schreibmaschine vom Typ Gabriele – das war unsere Verwaltung“, so Lohde.

„Wir waren damals selbst arbeitslos, wie viele von uns Akademiker. Es war die Zeit der großen Stahlkrise, der Bergbau war weg, die Brauereien machten dicht“, erinnert  sich Andreas Koch. „Also haben wir uns beim Arbeitsamt selbst Arbeitsplätze beantragt – drei ABM-Stellen, dazu ein paar Jugendliche über Arbeit statt Sozialhilfe. Mit dieser Truppe haben wir die Nordstadt schöner gemacht, Hinterhöfe begrünt, Beton raus, Erde rein. Das war der Anfang.“

„Wir hatten Träume, wollten nicht in klassischen Hierarchien arbeiten“

Andreas Koch war über mehr als drei Jahrzehnte das Gesicht von GrünBau. Foto: Helmut Sommer für Nordstadtblogger.de

Die Gründer:innen kamen aus dem Milieu der Stadtplaner:innen, Sozialarbeiter:innen und Architekt:innen, die in den 1980er-Jahren Alternativen zur Industriegesellschaft suchten.

„Wir hatten Träume, wollten nicht in klassischen Hierarchien arbeiten“, sagt Koch. „Wir lebten kollektiv, oft auch prekär, aber mit dem Willen, die Stadt und unser eigenes Leben zu verändern.“ Der Ursprung war das „Bauteam Grüne Nordstadt“ beim Planerladen als Organisationseinheit.

Andreas Koch in einem Video von 1990.

„Die haben für uns ABM beantragt und waren unsere Arbeitgeber. Landschaftsingenieur Michael Stober, Raumplaner Franz Stengert und Sozialarbeiter Andreas Koch waren die ersten drei. Geli Wirth kam kurz danach hinzu. Sie war Bürokauffrau und hat später Arbeitspsychologie berufsbegleitend studiert. „Das passte gut dazu.“

Die ersten Projekte waren ebenso handfest wie symbolisch. Mit Schaufeln und Spaten rückten die jungen Akademiker:innen Betonflächen zu Leibe, um Platz für Grün zu schaffen. 

„Ich habe mal eine Woche lang Gehölzschnitt am Nordmarkt gemacht und konnte hinterher den Arm nicht mehr heben oder den furchtbaren Lkw steuern“, erinnert sich Ute Lohde lachend. „Aber es war eine andere Art des Kontakts mit den Jugendlichen – wir standen gemeinsam mit ihnen auf der Baustelle.“

Herbert Grönemeyer, alte Hoesch-Mauern und eine Menge Mut

Apropos Lkw: Manches wirkt heute fast wie aus einer anderen Welt. „Unser erster Lkw kam durch ein Benefizkonzert von Herbert Grönemeyer zustande“, erzählt Koch. „Er hat im Parkstadion ein Solikonzert gegen Jugendarbeitslosigkeit gegeben und uns 10.000 Mark gespendet. Damit konnten wir bei einer Versteigerung der Autobahnmeisterei einen gebrauchten Lkw kaufen. Plötzlich waren wir mobil.“

Selbstverwaltetes Wohnen und Arbeiten waren zentrale Themen für die Initiator:innen.

Die Spuren dieser Anfangsjahre sind bis heute sichtbar. „Wer genau hinsieht, erkennt an der großen Hoesch-Mauer beim entstehenden Karlsquartier und an der Mauer bei Hornbach noch unser Grün sprießen“, sagt Koch. „Da haben wir in den 80ern die Pflanzlöcher selbst mit dem Presslufthammer in die Brandmauer geschlagen.“

Mut war ein ständiger Begleiter: „Wir sind oft in Felder gegangen, ohne genau zu wissen, was auf uns zukommt“, erzählt Lohde. „Als wir die erste Wohngruppe für Jugendliche eingerichtet haben, hatten wir kaum Ahnung von erzieherischen Hilfen. Aber wir haben uns das Wissen erarbeitet, Strukturen aufgebaut – und uns vor allem getraut.“

Von der Hofbegrünung zum professionellen Träger für Bildung, Jugendhilfe und Integration

Was mit Hinterhofprojekten begann, entwickelte sich rasch weiter: 1994 kamen Jugendhilfe-Projekte hinzu, später die Arbeitsmarktintegration, Bildung, Qualifizierung, Wohnen und Quartiersarbeit. „Wir wollten immer mehr Felder zusammenbringen – Arbeit, Wohnen, Bildung. Dieser Anspruch prägt uns bis heute“, sagt Koch.

Selbstverwaltetes Wohnen und Arbeiten waren zentrale Themen für die Initiator:innen.

Angelika Wirth beschreibt, wie sich ihr eigenes Arbeitsfeld erweiterte: „Ich habe als Bürokauffrau in der Lohnbuchhaltung angefangen, später Arbeits- und Organisationspsychologie studiert und große EU-Projekte abgewickelt.“

Ab 2013 habe ich die kaufmännische Leitung übernommen. Es war immer eine offene, bunte und kreative Arbeit – mit viel Mitspracherecht und klarer Orientierung gegen Rechts“, so Wirth.

Seit 2010 ist die Stiftung Soziale Stadt alleinige Gesellschafterin von GrünBau – ein Schritt, der Unabhängigkeit und Gemeinnützigkeit festigte. 2012 folgte die AZAV-Zertifizierung, die die Professionalität des Trägers unterstrich.

Finanzielle Engpässe und steigende Anforderungen belasten die Gegenwart

Heute ist GrünBau in sechs Betriebsteile gegliedert. Doch die Größe bringt auch neue Probleme. „Es ist gar nicht mehr so einfach, für alle Projekte gleichermaßen sprechfähig zu sein“, sagt Rosa Becker. „Unsere Aufgabe ist, den Überblick zu behalten. Bei sehr speziellen Fragen müssen wir auf die Expertise der Bereichsleitungen zurückgreifen.“

Rosa Becker ist Teil des neues Führungs-Duos. Foto: Helmut Sommer für Nordstadtblogger.de

Die größte Herausforderung bleibt die Finanzierung. „Wir bekommen Projektmittel für die operative Arbeit, aber kaum Geld für Strukturen“, erklärt Ute Lohde. „Mit 300 Mitarbeitenden brauchen wir professionelles Qualitätsmanagement, Datenschutz, Verwaltung. Diese Regiekosten sind in Fördermitteln fast nie enthalten.“

Auch Andreas Koch warnt: „Wenn der Staat seiner Aufgabe nicht gerecht wird, riskieren wir abgehängte Stadtviertel. Soziale Arbeit ist kein Luxus, sondern Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft. Mit einem Prozent Vermögenssteuer ließen sich Milliarden generieren – aber politisch fehlt der Wille.“

Projektitis, Innovationskraft und das Ringen um Stabilität

Ein weiteres Problem ist die Kurzfristigkeit vieler Förderprogramme. „Oft laufen Projekte nur zwei, drei Jahre, manchmal fünf. Danach beginnt alles von vorn: neue Anträge, neue Strukturen. Wir nennen das Projektitis“, sagt Lohde.

GrünBau hat ihre eigene Gärtnerei GrünFrau  zwischen Hörde und Schüren. Eine von vielen erfolgreichen Ideen und Projekten. Foto: Thomas Engel

„Und währenddessen steigen die Anforderungen – etwa bei Abrechnungen. Dafür brauchen wir hochqualifiziertes Personal, das auf dem freien Markt viel besser bezahlt würde“, so die Projektexpertin.

Trotzdem gilt GrünBau als besonders innovativ: „Wir sind nah an den Bedarfen der Menschen in der Nordstadt, gehen dorthin, wo andere nicht investieren. Das macht uns zu einem wichtigen Träger für Dortmund“, betont Rosa Becker.

Werte und die Haltung gegen Rechts als wichtige Gründe für neue Mitarbeitende

Foto: Helmut Sommer für Nordstadtblogger.de

GrünBau bleibt offenbar ein attraktiver Arbeitgeber. Nicht weil das Unternehmen am besten bezahlt, sondern weil Haltung und Werte eine große Rolle spielen: „In Bewerbungsgesprächen hören wir oft, dass unsere klare Position gegen Rechts ausschlaggebend ist. Das zieht Menschen an, die sich mit unseren Zielen identifizieren“, sagt Becker.

„Viele kommen über Mund-zu-Mund-Propaganda. Natürlich ist es bitter, dass sie bei anderen Trägern oder im öffentlichen Dienst für gleiche Arbeit teils deutlich mehr verdienen“, ergänzt Ute Lohde. „Wir würden gern nach TVöD (Tarifvertrag öffentlicher Dienst) bezahlen, sind aber noch nicht so weit. Trotzdem spüren wir, dass unsere Werte viele Menschen überzeugen.“

„Auch in schwierigen Zeiten kann man Träume in die Realität bringen“

Für die scheidenden Führungskräfte ist es ein emotionaler Moment. „GrünBau ist für mich ein Stück soziale Utopie“, sagt Lohde. „Nicht alles hat funktioniert, aber vieles sehr wohl.“

Ute Lohde, Andreas Koch und Rosa Becker im Interview mit Nordstadtblogger. Foto: Helmut Sommer für Nordstadtblogger.de

Andreas Koch blickt dankbar zurück: „Wir können stolz darauf sein, was wir in 35 Jahren geschaffen haben. Aus drei ABM-Stellen ist ein Unternehmen mit 300 Beschäftigten geworden. Das zeigt: Auch in schwierigen Zeiten kann man Träume in die Realität bringen.“

Und wie geht es weiter? Koch will künftig die Stiftung Soziale Stadt weiter begleiten, reisen, beraten – und „endlich mehr Sport machen“. Lohde möchte sich stärker politisch in der Nordstadt engagieren. Angelika Wirth freut sich auf persönliche Freiräume, wird aber ebenfalls ihre Expertise in die Stadt einbringen.

Ein Leitungsteam, das Verantwortung teilt und nah an den Menschen bleibt

Für die neue Doppelspitze beginnt die Arbeit in herausfordernden Zeiten: „Wir befinden uns mitten in einem Change-Prozess“, sagt Rosa Becker. „Unsere sechs Betriebsteile machen es möglich, nah an den Zielgruppen zu bleiben – aber wir müssen die interne Kommunikation immer wieder neu sichern.“

Frank Plaß formuliert es so: „GrünBau war für mich immer dynamisch und bodenständig zugleich. Wir wollen diese Mischung bewahren – als Brücke und Motor im Quartier.“

Eines steht fest: Auch in Zukunft will GrünBau nah an den Menschen sein, mit Mut, Innovationskraft und einem klaren Bekenntnis zu Demokratie und Vielfalt. Denn aus der Idee, arbeitslosen Menschen in der Nordstadt eine Perspektive zu geben, ist längst ein unverzichtbarer sozialer Akteur für ganz Dortmund geworden.


Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!

Unterstütze uns auf Steady

 Mehr auf dazu auf Nordstadtblogger:

Das gemeinnützige Viertelwerk als erfolgreicher Lösungsansatz bei Problemimmobilien

Soziale Stadterneuerung seit 1990: „GrünBau“ erhält Preisgeld des Europäischen Bürgerrechtspreises der Sinti und Roma 

Reaktion schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert