Ein Teil von Deutschland: Junge Geflüchtete gestalten ihre Schule und reproduzieren Demokratie, wie sie sich versteht

Hoffnung auf eine bessere Zukunft: Internationale Klasse mit Samira El Gouchi, Klassenlehrerin. Fotos: Karsten Wickern
Hoffnung auf eine bessere Zukunft: Internationale Klasse mit Samira El Gouchi, Klassenlehrerin. Fotos: Karsten Wickern

Minderjährige Geflüchtete in Dortmund: ohne Schulabschluss, kaum Deutschkenntnisse, dazu häufig traumatisiert. Kommunale Integrationsnetzwerke versuchen, die Jugendlichen aufzufangen. So das Robert-Schuman-Berufskolleg (RSBK) mit der Internationalen Förderklasse. Dort geht es neben dem Spracherwerb vor allem um das Verständnis einer demokratischen Kultur, die vielen der jungen Frauen und Männer fremd war. Dazu gehört die Erfahrung, dass in einer Demokratie Engagement nicht verfolgt wird, sondern etwas verändern kann.

Ohne Schulabschluss, fremde Sprache, fremdes Land – junge Geflüchtete am RSBK

Die Internationale Förderklasse des RSBK am Dortmunder U – hier werden SchülerInnen aufgenommen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, ohne Schulabschluss sind und deren Deutschkenntnisse sich in einem sehr überschaubaren Rahmen bewegen.

Also in aller Regel junge Geflüchtete, die als Minderjährige vor nicht allzu langer Zeit in die Bundesrepublik migrierten, ob mit oder ohne Eltern.

Es geht in der Förderklasse des Kollegs natürlich um Integration, beruflich wie sozial. Mit einem Konzept, in dem die besonderen Voraussetzungen bedacht sind, die sich im Gepäck der Mädchen und Jungen befinden.

Denn die Rede ist von häufig traumatisierten jungen Menschen: bis dato ohne hinreichende Schuldbildung, mit nur fragmentarischen Deutschkenntnissen, die sich nach der Flucht aus ihren Herkunftsländern in einer fremden Umgebung mit einer fremden Kultur und einem politischen System wiederfinden, das ganz anders aufgebaut ist, als das, was sie bisher erfuhren.

Von besonderer Bedeutung sei vor allem der Sprachunterricht, erklärt Samira El Gouchi, Klassenlehrerin der um die 17/18 Jahre alten MigrantInnen. Denn das Erlernen einer Sprache ist nachvollziehbar das Werkzeug, die unabdingbare Voraussetzung, der Türöffner für gelingende Integration in einem fremden Land.

Die Mehrheit in dieser Klasse spricht vermutlich nicht einmal eine gemeinsame Muttersprache. Was sie alle teilen: sie wurden wider Willen hineingeworfen in eine ihnen fremde Kultur. Und aufgefangen von einem kommunalen Integrationsnetzwerk, das ihnen dabei helfen soll, einen Platz in der neuen Umgebung zu finden, oder vielleicht eine Heimat in Dortmund.

Projektidee: Demokratie erfahrbar machen durch eigene Planung der Schulumwelt

Da sind sie nun, die jungen Leute der Förderklasse, die zum Pressetermin im Foyer des RSBK etwas zeigen wollen.

Ein unüberhörbares Sprachgewirr kommt dem Besucher entgegen, Stelltafeln mit Bildern, Skizzen oder beschriftet auf Flipchart-Papier sind halbkreisförmig aufgebaut; davor zwei Tische mit verschiedenen Modellen von Teilabschnitten eines Gebäudes, das dem RSBK verdächtig ähnelt. Dazu einige Erwachsene, die vermutlich etwas mit Pädagogik zu tun haben.

Denn immerhin ist es Schule, hier orientiert auf Ausbildung hin, daher Berufskolleg. Und nach und nach erschließt sich dem Neuankömmling die Szenerie: Es geht um ein Projekt, mit dem an einem Beispiel den internationalen SchülerInnen, den Geflüchteten praktisch nahe-, mindestens aber nähergebracht werden soll, wie Demokratie in der Bundesrepublik funktioniert.

Zusammen mit dem von der Walter-Blüchert-Stiftung initiierten Programm „angekommen in deiner Stadt“, das jugendliche Flüchtlinge und ZuwanderInnen betreut und durch Bereitstellung von Bildungsangeboten deren gesellschaftliche Integration begleitet, versuchte sich das RSBK über ein Planungsprojekt als eine Integrationshilfe – mit Erfolg, wie es scheint.

Schon an zwei Realschulen habe er dieses Projekt zuvor durchgeführt, erklärt Dieter Staubach („angekommen in deiner Stadt“), bei der Präsentation im Foyer. Aber dieser internationale Kurs sei „richtig gut“ gewesen, so der Planer anerkennend.

Von Demokratietheorie über dunkle Geschichten zur Praxis demokratischen Handelns

Das Demokratieverständnis durch Planung zu erhöhen – diese Aufgabe gingen die SchülerInnen in drei inhaltlich aufeinanderfolgenden Schritten an: Erstens, was für Rechte und Pflichten die BürgerInnen eines demokratischen Staates haben; zweitens, und quasi als mahnendes Gegenbild aus der jüngeren deutschen Geschichte:

Was DemokratInnen nicht wollen können, nämlich eine menschenverachtende Ideologie, die des Nationalsozialismus, mit einem System des Terrors gegen alle Andersdenkenden und Menschen anderer Kulturen, bis hin zu deren industriell organisierter Vernichtung, dem Holocaust.

Drittens, und auf dieser Grundlage schließlich: Partizipation, Engagement und Gestaltung als Teil eines demokratischen Prozesses, der allen Menschen in diesem Lande offenstehen muss. Konkret durchexerziert an der Planung zur freundlichen Umgestaltung der eigenen Schule. Das wäre dann die Abteilung gewesen, die auch hätte heißen können: „Demokratie, praktisch, wo es drauf ankommt“.

Unveräußerliche Menschenrechte spiegeln sich teilweise im Grundgesetz der BRD

Ein anspruchsvolles Programm, das die jungen Flüchtlinge mit Bravour meistern. Unter der Leitfrage, was denn wohl Demokratie sei, setzen sie sich mit den wichtigsten Artikeln des Grundgesetzes auseinander.

Da ging es um Grundrechte von BürgerInnen dieser Republik, die ihnen genauso garantiert werden wie sie von ihnen als die Rechte aller zu respektieren sind.

Menschenrechte aller ErdbewohnerInnen werden diskutiert, die zumindest teilweise im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten der bundesrepublikanischen Verfassung deklariert werden.

Und die für alle gelten sollen: was aber in den Ländern, aus denen die jungen Leute hier in der internationalen Klasse stammen, offenbar nicht so war. – Viele von ihnen kannten diese Rechte aller Menschen vermutlich gar nicht, bevor sie dieses Land erreichten.

Sie beziehen sich auf Würde, die Freiheit der Persönlichkeit und ihre Entfaltung, auf das Gleichheitspostulat, das Diskriminierungsverbot, usf. Auf den Stellwänden sind Aufschriften, Erläuterungen wie ein Protokoll angebracht. Aus den Arbeitsgruppen wird reihum vorgetragen, was dort erarbeitet, plakativ verschriftlicht wurde.

Demokratie ist tolerant, weltoffen, bunt, gesprächig – an ihr teilzuhaben, sichert sie

Es klingt Stolz mit, bei den Jugendlichen, als sie vortragen, dass sie etwas geschafft haben: „Ey Alter, ging doch, oder?“ – hätten sie nach der Präsentation auch zueinander sagen können.

Sie haben vermittelt, was an den Tafeln stand, sich Mühe gegeben, sicher auch ein wenig auswendig gelernt. Doch es war insgesamt beeindruckend:

Nach nicht einmal einem Jahr in der Internationalen Klasse sprechen sie in einem Deutsch, das erstaunlich ist. Junge Menschen ohne Schulabschluss, aus Wo-auch-Immer, die gemein haben, das sie geflohen sind: vor Krieg und Elend. – Was denn wohl xenophobe EifererInnen in diesem Land und in dieser Zeit umgekehrt im „Ausland“ gelernt hätten?

Die jungen Leute, so wie sie sprechen, bemühen sich, haben etwas verstanden, erfahren, dass Demokratie ihre Meinungsvielfalt sichert, sie so überhaupt entstehen kann. Dass kein Mensch, weil er so denkt, wie er denkt, deshalb ausgegrenzt oder unterdrückt werden darf.

Und erst recht nicht, weil eine Person eine andere Hautfarbe, ein anderes Geschlecht oder eine andere sexuelle Orientierung hat. Oder weil sie aus einer anderen Kultur kommt, eine andere Sprache spricht, an etwas anders glaubt.

Demokratie ist tolerant, weltoffen, bunt, gesprächig; sie kann nur existieren, indem sie gelebt wird, die Menschen sich einbringen: ohne Angst, deshalb von dunklen Mächten zur Rechenschaft gezogen zu werden, vor denen sie in dieses Land geflohen sind.

Es gibt ein Deutschland – wahnhaft selbstverliebt und brutal gegen alles Fremde

Dass dies auch in diesem Land nicht immer selbstverständlich war, darüber handelt der zweite Teil des Projektes, den die Jugendlichen präsentieren. – Es geht hinein in die neuere deutsche Geschichte, vom ersten Weltkrieg bis zum Ende der Nazi-Diktatur.

Eine junge Frau trägt vor, wie sich die Nazi-Ideologie zusammensetzt: Rassentheorie, Antisemitismus, Volksgemeinschaft und so fort – das ganze Elend; eine andere berichtet vom Aufstieg der Nazis, von ihrem Wirken in der Demokratie zur NS-Diktatur bis zum Zusammenbruch des Wahns, ein Volk könnte die Welt beherrschen.

Vom 25-Punkte Programm, der Wirtschaftskrise, der Machtergreifung ist auf der Tafel zu lesen; von der Gleichschaltung über die Vernichtung von Menschen jüdischen Glaubens bis zum Tod Hitlers. – Sie haben sehr viel gelernt in diesem unterrichtsbegleitenden Integrationsprojekt, einmal wöchentlich für einige Stunden.

Wer in diesem Land außer Geschichtswissenschaftlern kennt eigentlich das Sykes-Picot-Abkommen oder die Balfour-Deklaration, die beide eine enorme Bedeutung für das Verständnis dessen haben, was heute über den Nahen und Mittleren Osten auf unseren Bildschirmen erscheint?

Demokratie heißt Partizipation – die Jugendlichen planen ihre Umwelt am RSBK

In der letzten Phase wird das Projekt praktisch; es soll etwas geplant werden. Denn Demokratie kann nicht nur anstrengend sein, weil sie eigenständiges Denken und Handeln verlangt. Und zwar nicht so sehr, wenn es darum geht, den für mich besten Handyvertrag abzuschließen.

Es geht vielmehr um Gestaltungsansprüche der eigenen Lebenswirklichkeit im solidarischen Umgang mit anderen Menschen und um unsere Umwelt, in der wir gemeinsam leben.

Demokratie fordert daher nicht nur dazu auf, sich einzumischen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Die Freiheit, die sie ermöglicht, zu verteidigen. Gegen solche Leute, die meinen, sie hätten immer recht, und für die Menschenrechte nur solange zählen, wie sie selbst von ihnen Gebrauch machen können.

Sondern Demokratie bedeutet darüber hinaus, sich einzubringen mit eigenen Ideen, mitzuwirken, gemeinsam etwas zu gestalten, auf dass in den Räumen einer geteilten Lebenswelt alle ihren legitimen Platz finden mögen, um sich frei zu entfalten. Und, wo wäre das für die SchülerInnen der Internationalen Förderklasse, wenn nicht in ihrer eigenen Schule!

Das Konzept für das RSBK: Sport – Grün – Chillen – aber nach deutscher Planerart

Ergo haben sie sich gemeinsam mit Planungsspezialist Dieter Staubach überlegt, was da denn getan werden könnte: Was an ihrem Kolleg verändert werden müsste, um die Zeit in der Penne angenehmer zu gestalten.

Für sich, für alle, die sich dort werktags über so viele Stunden aufhalten. Dort, wo vieles so schwierig ist, der ganze Unterricht, lernen, pünktlich, verlässlich sein.

Da braucht‘s hier und da einen Ausgleich. Zum Beispiel die Möglichkeit, den Kopf durch Sport frei zu bekommen. Oder durch ein wenig Grün zwischen den Backsteinwänden des Hauses. Oder einfach nur mal Chillen zu können, wäre auch nicht schlecht. – Gesagt, getan, möchte man meinen: gemeinsam Ideen sammeln, loslegen, auf‘s Papier bringen, wie es in etwa aussehen soll.

Aber, wir bewegen uns im Bereich der Gesellschaftskunde: Deutschland kennenzulernen, ist angesagt. Und einer der wunderbarsten wie skurrilsten Phänomenkomplexe kann in diesem Land umschrieben werden mit: Planung/Organisation. Daher muss selbstverständlich auch das Planen selbst planmäßig wie organisatorisch durchdacht erlernt werden.

Deshalb lautete die thematisch eigentliche Einführung in das Projektziel: erst einmal zu wissen, wie denn überhaupt geplant werden kann, was dafür erforderlich ist. Konkret haben sich die SchülerInnen im Vorfeld mit Stadtbaugeschichte und der Darstellungsgeschichte von Stadtplanung befasst, Skizzen zu früheren Wohnhäusern angefertigt.

Dann ging es an die Bestandsaufnahme der baulichen Gegebenheiten an der eigenen Schule. In drei Gruppen wurde unter den genannten Leitthemen – Sport, Grün, Chillen – ein Ideenkonzept entwickelt: was sich in dieser Hinsicht an ihrer Schule verändern könnte. Und sie fertigten jeweils Modelle an, um die anvisierte Umgestaltung plastisch darzustellen. Für die westliche, die mittlere und die östliche Pausenhofterrasse. – Puh.

Was die jungen Flüchtlinge in so kurzer Zeit geschafft haben, ist aller Achtung wert

Diesen weiten Weg sind junge Menschen – etwa aus dem Bombenhagel Syriens – bis zu den Organisations- und Planungsspezialitäten einer ihnen so fremden Kultur gegangen. Das ist aller Achtung, aller Anerkennung wert. Und, wie so häufig, um dies zu ermessen, ist ein Perspektivwechsel hilfreich.

Das Zauberwort lautet hier: Selbstanwendung – diesen Weg der SchülerInnen aus der internationalen Förderklasse anzuwenden auf sich selbst. Auf das eigene Denken und Fühlen, den eigenen Horizont, die eigene Kultur. Beispielsweise, sich fiktiv als geflüchteter Deutscher nach Damaskus zu beamen.

Dort in Unkenntnis der Sprache, des Landes, seiner Kultur und Geschichte wie der Gepflogenheiten im Kleinen und gerade mal als Postpubertierender inmitten all des Fremden zu erlernen, wie auf einem orientalischen Sūq Gemüse zu verkaufen und nebenbei das Geschäft vor den Behörden zu führen ist. Während ein paar Meter weiter geschächtet wird und in Deutschland zeitgleich Bomben auf die Köpfe der eigenen Familie fallen.

Die Weise, wie es sich konkret gestaltet, unter solchen Kulturschockbedingungen bei schwierigsten individuellen Voraussetzungen zu leben und zudem noch etwas leisten zu müssen, mag je nach Gedankenexperiment variieren. Der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Allein, es ist ein Brett. Ergo: Hut ab vor der Leistung dieser SchülerInnen.

Scheitert Umsetzung der Ideen an fehlender finanzieller Unterstützung seitens der Stadt?

Einen Wunsch haben wohl alle, die hier versammelt sind: dass etwas von dem, was die jungen Leute nach und nach konzeptuell erarbeitet haben, auch umgesetzt werden könne – es, mit anderen Worten, nicht an den Kosten scheitert, wie die stellvertretende Schulleiterin Maria Esta Calvillo-Gonzàlez ein wenig befürchtet.

Vielleicht wäre das Bildungsbüro der Stadt Dortmund hier ein Ansprechpartner? Oder zur Verortung das Dienstleistungszentrum Bildung?

An diesen Stellen gibt es bekanntlich offene Ohren für Initiativen, die sich um die Bildung von benachteiligten Jugendlichen bekümmern. Vielleicht ist zwischen zwei Haushaltsposten ja noch der ein oder andere Euro übrig. Zumal es aus pädagogischer Sicht vermutlich ziemlich unbefriedigend wäre, blieben die Ergebnisse des Projektes lediglich Blaupausen.

Denn Demokratie lehren, bedeutet auch, die individuelle Erfahrung zu vermitteln, dass durch Engagement etwas bewegt werden kann – dass sich etwas zum Guten nach dem Willen und der Gestaltungskraft von BürgerInnen verändert. Sonst werden es leicht Worthülsen, die da an der Tafel stehen.

Scheiterte dies an den relativ bescheidenen finanziellen Mitteln, die hier unterstützend für einen solchen Effekt nötig wären, liegt nahe: es schmälerte die Glaubwürdigkeit jener demokratischen Ansprüche, die den jungen Flüchtlingen zuvor nahegebracht wurden. Stichwort: Perspektivwechsel.

Weitere Informationen:

  • Internationale Förderklasse am RSBK, hier:
  • Das Robert-Schuman-Berufskolleg (Emil-Moog-Platz 15, 44137 Dortmund), hier:
  • „angekommen in deiner Stadt“ (Dortmund), hier:
  • Website des Regionalen Bildungsbüros der Stadt Dortmund, hier:
  • Dienstleistungszentrum Bildung im Fachbereich Schule, hier:

 

 

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