Interessanter Talk im DKH um das „Integrations-Paradox“: Gemeinsam auf dem Weg zum neuen „Wir in Deutschland“

Von Clemens Schröer

Der „Talk im DKH“ ist eine Diskussionsreihe mit interessanten Gästen und kontroversen Themen. Beim nächsten Termin am 21. Dezember 2018 sind der bekannte Investigativ-Journalist Hans Leyendecker und Prof. Ahmet Toprak als Gäste in Dortmund dabei. Prof. Aladin El-Maafalani will mit ihnen u.a. über Weihnachten und den evangelischen Kirchentag sprechen. Beim letzten Termin in der Nordstadt hatte er drei bekannte Kolleginnen und Kollegen geladen, die vor vollem Haus von ihrem Aufstieg „Vom Gastarbeiterkind in die deutsche Elite“ erzählten.

Arbeitende Gäste im Wirtschaftswunder in Deutschland

Über weite Strecken herrschte ein entspannt-freundlicher Ton, zu dem auch die beschwingte musikalische Hinleitung durch den Saxophonisten Wim Wollner beitrug.

Neben den Erfolgen kamen aber auch die Mühen des Aufstiegs und die Diskriminierungserfahrungen bis in die jüngste Zeit (Özil, #MeTwo und Chemnitz) nicht zu kurz. Und weil die Gäste allesamt türkische Wurzeln haben, lag ein weiterer Fokus auf der Situation von Türkeistämmigen in Deutschland und ihr ambivalentes Verhältnis zum Herkunftsland.

Serap Güler ist CDU-Politikerin und Staatssekretärin für Integration in NRW, und damit El-Maafalanis Chefin, Asli Sevindim ist Journalistin beim WDR, dem Fernsehpublikum u.a. als Moderatorin der „Aktuellen Stunde“ bekannt, Suat Yilmaz leitet seit kurzem die Landeskoordinierungsstelle der Kommunalen Integrationszentren in NRW.

Nach den Begrüßungsworten durch Stadtdirektor Stüdemann beleuchtete El-Maafalani in einem pointierten Aufriss zunächst die historischen Grundzüge der Gastarbeiterzuwanderung seit Mitte der 1950er Jahre, sodass die folgenden „Fallbeispiele“ seiner drei Mitdiskutanten besser eingeordnet werden konnten.

Hornhaut als Ikone der frühen Gastarbeiterzuwanderung

Als 1955 die ersten Arbeitsmigranten aus Italien in die Bundesrepublik kamen, erst 1961 die Türken, war das für beide Seiten eine, so El-Mafaalani, „fantastische „win-win“-Situation“. Hierzulande verschärfte sich im Wirtschaftswunder der Arbeitskräftemangel, in den Herkunftsländern herrschten Unterentwicklung und hohe Arbeitslosigkeit. 

Ohne die zusätzlichen Arbeitskräfte wäre der westdeutsche Wirtschaftsboom so nicht möglich gewesen, die Transferzahlungen der zuvor arbeits- und perspektivlosen Migranten in die Heimat deckten einen beträchtlichen Teil der dortigen Devisenerwirtschaftung und trugen zur wirtschaftlichen Entwicklung erheblich bei. 

Dass man in Deutschland von „Gastarbeitern“ und nicht mehr von „Fremdarbeitern“ sprach, war einerseits positiv, zeigte es doch, dass man sich von der völkisch-rassistischen Stigmatisierung der Nazizeit abgekehrt hatte. Zugleich aber bedeutete es, dass die Arbeitsmigranten nur als „Gäste“, also auf Zeit bleiben und dann wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren sollten. Sie waren eben auch nur als Arbeitende gelitten, dann sollten sie das Land wieder verlassen. Das verriet nicht nur ein merkwürdiges Verständnis von Gastfreundschaft. Eine Verwurzelung in Deutschland war unerwünscht, kein Integrationsbedarf.

Die zweite Generation: Aus Rotation wird Einwanderung

Dazu kam, dass die Migranten nur die einfachsten, ungelernte und angelernte Tätigkeiten ausüben sollten. Als die Arbeitgeber und Verwaltungsstellen jedoch feststellten, dass sich auch Gebildetere, Anspruchsvollere, Aufstiegswilligere unter die Gastarbeiter mischten und sich hier mit der Position „ganz unten“ nicht zufrieden geben wollten, kam buchstäblich Hornhaut als Anwerbekriterium ins Spiel. 

Jetzt sollte bei den Bewerbern darauf geachtet werden, dass sie körperlich gearbeitet, also Schwielen an den Händen hatten und nicht nur „Druckstellen vom Griffelhalten“, wie aus dem Publikum ergänzt wurde.

Das lief, bis 1973 im Zuge der Ölkrise und anschwellender Arbeitslosigkeit die Bundesrepublik einen Anwerbe-Stopp verfügte. Jetzt aber trat der paradoxe Effekt ein, dass immer weniger Gastarbeiter in ihre Heimatländer zurückkehrten, eben weil sie dann nicht wiederkommen durften. 

Sie holten jetzt auch ihre Familienangehörigen nach und richteten sich auf Dauer ein. Ab diesem Momentum ging die Zahl der Zuwanderer also nicht zurück, sondern stieg beträchtlich an. Ein Effekt, den man auch am Beispiel USA-Mexiko beobachten kann.

Kein Einwanderungsland: Rückkehrprämien und Ausländerklassen

Dem unerwünschten quantitativen Effekt suchte man u.a. durch „Rückkehrprämien“ beizukommen. Den qualitativen Erfordernissen, dass aus vorübergehenden Gästen nun dauerhafte Einwanderer wurden, stellte sich die deutsche Gesellschaft lange nicht. 

Mit der realitätsverweigernden Formel „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ wurde in vielen deutschen Parlamenten noch bis Mitte der 1980er ernsthaft diskutiert und entschieden, dass die Gastarbeiterkinder getrennt von den anderen in „Ausländerklassen“ unterrichtet wurden. Bevorzugt in Hauptschulen, wo ihnen aus der Türkei geholte Lehrer eine türkische Identität mit möglichst intensivem Rückkehrwunsch Richtung Bosporus und Anatolien vermitteln sollten. 

Ein Grund für El-Mafaalani, „weshalb die Verbundenheit der Türkeistämmigen mit dem Herkunftsland ihrer Eltern und Großeltern auch heute noch größer ist, als bei vielen anderen Gruppen.“ Für die Zwischenzeit bekamen die Gastarbeiter der zweiten Generation in den Hauptschulen überwiegend einige Grundfertigkeiten vermittelt, damit es so gerade für die einfache körperliche Tätigkeiten reichte, die „die Ausländer“ fügsam, genügsam verrichten sollten.

Der unwahrscheinliche Aufstieg der drei Gastarbeiterkinder in die deutsche Elite

Umso gespannter war man nun, wie die drei Aufsteiger-„Exemplare“ des Abends wider alle Wahrscheinlichkeit sich integrieren und es in führende Positionen unserer Gesellschaft schaffen konnten – und sie nicht allein: „Rein mathematisch hat sich von der ersten zur zweiten Generation der Migranten der Abiturientenanteil um 600 Prozent erhöht, von der ersten zur dritten Generation sogar um tausend Prozent.“ Obwohl das mit Gruppen ohne Migrationshintergrund verglichen nur die Hälfte ist, wie der empirische Sozialforscher konstatiert.

Suat Yilmaz, 43, ist als einziger der drei in der Türkei geboren, kam aber schon als Kind ins Ruhrgebiet, studierte in Bochum Sozialwissenschaften, um anschließend in der Dortmunder Nordstadt als Streetworker zu arbeiten, ehe er seinen Beruf erfand und erster Talentscout, angebunden an die Fachhochschule Gelsenkirchen, wurde. 

Seit kurzem leitet er die  Landeskoordinierungsstelle der Kommunalen Integrationszentren in NRW. Die Mutter Putzfrau, der Vater Schlosser. Deshalb: wenn überhaupt Elite, dann „Elite von unten“, antwortete er auf die entsprechende Frage des Moderators. 

Serap Güler, mit 38 die Jüngste, Vater ebenfalls Bergmann, Mutter lange Haus- dann Putzfrau, hat, nach einer Ausbildung zur Hotelfachfrau in Dortmund, Kommunikations- und Sprachwissenschaften in Essen studiert und ist dann parallel zu einer Beschäftigung in der Ministerialbürokratie politisch rasant durchgestartet. 

Seit 2011 sitzt sie für die CDU im Landtag, ist das einzige Mitglied mit Migrationshintergrund im CDU-Bundesvorstand und seit der letzten Landtagswahl Staatssekretärin im NRW-Integrationsministerium. Auch sie lehnt den Begriff Elite im Sinne von elitär ab. 

Asli Sevindim, 45, Vater Bergmann, Mutter Putzfrau, hat in Duisburg Politikwissenschaft studiert und dann eine sehr erfolgreiche Journalistenkarriere beim WDR gestartet. Zur Elite möchte auch sie nicht so einfach gezählt werden, sie sieht sich lieber als „glückliches Mitglied einer sehr diversen Gesellschaft.“

Stolz der Kinder auf die Lebensleistung der ersten Gastarbeitergeneration

Asli Sevindim zollt lieber ihren Eltern, die sich in einfachsten Verhältnissen hart arbeitend durchkämpften und ihren Kindern den Aufstieg ermöglichten, Respekt und Dankbarkeit, gerade den starken Frauen, die ein imponierendes Rollenvorbild gaben. Dafür erntete sie lauten Beifall. 

Auch Güler ist deshalb wahnsinnig stolz auf ihre Eltern: „Ich würde mir das nicht zutrauen, trotz Studium: Mit 38 meine Koffer zu packen, in ein Land, dessen Sprache ich nicht spreche, dessen Kultur ich nicht kenne, wo ich niemanden kenne und dort mir ein neues Leben aufzubauen.“  

Dem schloss sich wiederum Sevindims Kritik an den oft empathielosen Deutschen an: „Und von solchen Menschen, die man nach Hornhaut ausgewählt hatte,  erwartet man dann Jahrzehnte später, dass sie Goethe und Schiller zitieren und perfekt Deutsch sprechen? Das ist doch echt ein Scherz! Und dann sagt man noch, das reicht noch nicht, das müsste alles schneller gehen und so schafft man das nicht. Das ist doch totaler Wahnsinn!“

So rührend und ergreifend dieser Dank an die türkischen Eltern war, so beschämend empfanden viele im Publikum das undankbare Verhalten der Mehrheitsgesellschaft der ersten Gastarbeitergeneration gegenüber. Hier gelte es Abbitte zu leisten und Respekt zu zollen.

Stand der Integration der Türkischstämmigen in die heutige deutsche Gesellschaft

Dies führte zum nächsten Thema, wie es denn um die Integration der Türkischstämmigen in die heutige deutsche Gesellschaft und um die Identifikation mit ihr stehe. 

Suat Yilmaz, Autor des Buchs „Die Aufstiegslüge“ meinte, die Aufstiegschancen hätten sich für die dritte Generation etwas verschlechtert, doch dies sei nicht auf die Herkunft der Ausgebremsten zurückzuführen, sondern auf die Armut, ihre soziale Lage, was er hart kritisierte. 

Asli Sevindim sah Barrieren in Vorurteilen gegenüber Migranten, die den Blick auf den individuellen Menschen, seine Vorzüge und Kompetenzen verstellten. Der Moderator fasste hier nach, unter Verweis auf jüngste Debatten um Özil und #MeTwo. 

Kontroverse Diskussionen um das Integrationsparadox

Serap Güler erlebte solche Diskriminierungen (Herkunft, Hautfarbe, Religion) erst, als sie prominent ins Licht der Öffentlichkeit trat. Dies bestätige El-Maafalanis These aus seinem aktuellen Bestseller „Das Integrationsparadox“, dass mit zunehmendem Aufstieg der Migranten ihr Konkurrenzdruck auf die Etablierten aus der Mehrheitsgesellschaft steige, materiell, aber auch kulturell-wertemäßig. 

Konflikt und Streit seien die Folge. Das sei erstmal nichts Schlechtes, nur bediene man sich dabei eben leider auch unfairer Mittel und Methoden. Die heutigen Migrantenkinder fühlten sich dann oft dadurch gelähmt, dass sie eigentlich sehr aufgeschlossen für die Integration in die deutsche Gesellschaft seien, aber wieder in die vorteilsbehafteten Herkunftsklischees zurückgestoßen und ausgegrenzt würden. Doch andererseits gebe es heute vielfältige Unterstützungsnetzwerke, die ihnen zu Aufstiegschancen verhelfen würden, sofern man sich um ihre Hilfe bemühe.

Debatte ums Deutschsein

Für Asli Sevindim und die beiden stellte sich die Frage ums Deutschsein lange nicht. Es war klar, dass man Ausländer, Türke/Türkin war. Für die Eltern sowieso, auch wenn man nicht mehr auf gepackten Koffern saß, aber auch für die „biodeutsche Mehrheitsgesellschaft“. Diese Frage hatte deshalb in jungen Jahren etwas Aufgepropftes. 

Von Wahl- und Zufallsdeutschen – Anerkennung als Streitpunkt

Sevindim konnte sich leichter zu ihrer Heimatstadt Duisburg bekennen oder zum Kohlenpott. Das hatte, anders als das Nationale, nichts Exkludierendes, was übrigens auch in heutigen Zeiten helfen könne. Auch Yilmaz schlingerte hier lange. 2006 hielt er im Fußball zu Deutschland, doch als er im Bochumer Bermuda-Dreieck während eines Spiels bei einem deutschen Treffer hochsprang und mitjubelte, beschied man ihn, sich wieder hinzusetzen, weil seine Nationalmannschaft ja gar nicht mitspiele. 

Im Hammer Gericht kommentierte man, als sich der Jurastudent dort um einen Praktikumsplatz bewarb: „Endlich mal ein Yilmaz hier, der nicht auf der Anklagebank sitzt.“ Heute sieht er sich zuerst als Mensch, dann als ethnischer Türke, der auch stolz ist auf die türkische Kultur. 

Doch ist er ebenso stolz auf seinen deutschen Pass, 2015 hat er sich einbürgern lassen, weil er und seine Eltern „diesem Land alles zu verdanken haben“. Damit sei er deutscher als mancher, der in Chemnitz „besorgt durch die Gegend läuft“ und völkisch-rassistische Parolen gröhlt. Denn dies sei ein bewusstes Bekenntnis, eine Wahl, anders als das Deutschsein aus dem Zufall der Herkunft und Geburt, wie Professor Uslucan vom Essener Institut für Türkeistudien und Integrationsforschung unterscheidet. 

Aneignung Deutschlands im gemeinsamen Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit

Diesen schmerzhaften Aneigungsprozess hatte auch Asli Sevendim in den 90ern erlebt. Eigentlich sehr aufgeschlossen entwickelte sie wegen der rassistischen Ausschreitungen und Morde in den frühen 90ern eine riesige, verzweifelte Wut, ehe sie in Protest und Gegenwehr mit hunderten Gleichgesinnten, Migranten wie Biodeutschen, die konstruktive Kraft fand umzuschalten.

„Danach die Kurve zu kriegen und zu sagen, jetzt müssen wir die Gefühle beiseite legen und jetzt müssen wir arbeiten, Strategien entwickeln. Dann war das für mich eine Zeit, in der ich mich ganz klar und bewusst mit den Themen auseinandergesetzt habe. Rassismus war natürlich auch ein Thema. Und dann eignest du dir dieses Land an,  sagst, ich bin hier zuhause, ich will hier was, ich geb was zurück, lebst ein munteres Leben vor dich hin.“ 

Die türkeistämmige Duisburgerin wurde also Deutsche im alltagskulturellen und verfassungspatriotischen Sinn, lange bevor die deutsche Staatsbürgerschaft hinzukam. Eine Deutsche, auf die unser Land stolz sein kann! 

Serap Güler war für solche Reflexionen damals noch zu jung. Sie empfand aber auch den tiefen mentalen Bruch, den insbesondere der neonazistische Mordanschlag in Solingen, dem im Mai 1993 mehrere türkische Mitbürger zum Opfer fielen, auslöste.

Die rassistische Herausforderung durch Sarrazin und seine Claqueure

Asli Sevindim sah die Integration in den Nullerjahren auf einem guten Weg. Doch dann kam 2010 Sarrazin. Natürlich erboste sie der zynische Rassismus des Autors aus vulgärbiologistischen und -kulturalistischen Versatzstücken. Mehr aber noch der Beifall, den er für seine kruden Thesen auch aus der Mitte der Gesellschaft erhielt. 

Zwanzig Jahre erfolgreiche Integrationsarbeit unzähliger Engagierter, der fulminante Bildungsaufstieg vieler Migrantenkinder – alles umsonst? Aber wieder wandelte Sevindim den „furchtbaren Schock“, die Demütigung konstruktiv um und kehrte stärker und selbstbewusster zurück. 

Sie lehnte es anders als noch ein paar Jahre zuvor ab, ihre türkischen Kulturanteile nach und nach abzulegen und nur auf rationalen Interessenabgleich auf weltbürgerlich-humanistischer Grundlage zu setzen. Denn die Vorbehalte ließen sich auf dieser Ebene allein offensichtlich nicht überwinden. 

Migrantische Lebensleistungen contra „Deutschland ist kein Einwanderungsland“

Jetzt wollte sie „das Gefühl haben, von der Mehrheitsgesellschaft auch mit ihren türkischen Wurzeln angenommen zu werden“ und damit sichtbarer und akzeptierter Teil eines neuen gemeinsamen deutschen Wir zu werden. Was man eben unter Integration versteht. 

Und, hier schließt sich der Kreis, dazu gehört auch Interesse an der Lebensgeschichte der türkischen Gastarbeiter, Respekt für ihre ungeheure Lebensleistung unter erschwerten Bedingungen, Dankbarkeit, dass sie beim Wiederaufbau halfen; Scham über die Weigerung zu sehen, dass man „Arbeitskräfte holte, aber Menschen kamen“, über Hornhaut und Ausländer-Klassen, Solingen und Sarrazin, über „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ und „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“. 

Serap Güler nahm vor acht Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft an. Bereits hochengagiert im Wahlkampf für die CDU wollte sie endlich selbst mitwählen. Nur – am 20. April, vom Amtsschimmel als Einbürgerungstermin vorgeschlagen, wollte sie dann doch nicht Deutsche werden. 

Mehr um die 25% mit Migrationshintergrund kümmern, statt um 13% AfD-Wähler

Zu den aktuellen rechtsextremen Aufmärschen erzählte sie, dass ihre Eltern, 70 km entfernt von Chemnitz in Kur, jetzt das erste Mal seit Solingen wieder Angst vor fremdenfeindlichen Übergriffen hatten. Die Klinik wollten sie nicht  verlassen. Und Tochter Serap konnte ihnen nicht Mut machen. 

Die Staatssekretärin forderte die demokratischen Parteien deshalb auf, nicht mehr den 13% rechten AfD-Wählern so viel Aufmerksamkeit zu schenken, um sie zurückzuholen und ihnen dabei nach dem Munde zu reden. „Sie sollen sich lieber den 25% der Menschen in diesem Land, die eine Migrationsgeschichte haben, zuwenden. – Wenn es wieder so weit ist in diesem Land, dass Menschen Angst haben auf die Straße zu gehen, dann stimmt etwas nicht.“

Das letzte große Thema war dann das Verhältnis der drei und vieler anderer Bürger mit türkischer Migrationsgeschichte zur Türkei.

Das Problem hoher Erdogan-Zustimmung unter Deutsch-Türken

Asli Sevindim warnte davor, die Diskussionen um die Etablierung der Erdogan-Diktatur zu emotional zu führen. Stattdessen solle man sich stärker rational auf die unterschiedlichen Interessenlagen konzentrieren und einen Modus vivendi suchen. So fänden sich in der großen Verwandtschaft hier oder in der Türkei praktisch alle politischen Positionen wieder und man müsse im Gespräch bleiben. 

Wie Serap Güler und Suat Yilmaz möchte sie sich ihr Verhältnis zur Türkei durch niemanden vorschreiben lassen. Jedenfalls müsse das Verhältnis zum derzeitigen Regime unterschieden werden von dem zum Land Türkei, seiner Kultur und seinen Menschen.

Doch wenn Migranten und Alteingesessene ein neues Wir für Deutschland finden wollen, tut sich ein Problem aber auch im integrationsbereiten linksliberalen Lager auf. Es irritiert die hohe Zustimmung, die Erdogan und seine AKP-Herrschaft in der Community der deutschtürkischen Migranten finden.

Deshalb versuchten Asli Sevindim und Serap Güler hier aufzuklären: Als die Eltern als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, haben sich nicht nur die Deutschen nicht wirklich um sie gekümmert, auch den kemalistischen Eliten in der Türkei waren sie herzlich egal. 

Erdogans Sirenengesang erst nach Sarrazin und Aufdeckung der NSU-Morde erhört

Erdogan dagegen gab ihnen 2008 in Köln das Gefühl, dass er in ihnen Brüder und Schwestern sah und sie unter seinem Schutz stünden. Er leistete das, worin die deutsche Mehrheitsgesellschaft bis heute versagt: Anerkennung für die Lebensleistung der türkischen Gastarbeiter, ein Willkommen in unserer Einwanderungsgesellschaft. 

Und dann erlebten sie, dass unter Erdogan auch ihre daheimgebliebenen Verwandten endlich „aus dem Schatten traten“. Es gab gewaltige Sozial- und Infrastrukturprogramme und auch die Wirtschaft florierte lange in der Türkei. Es entstand eine sozial abgesicherte neue Mittelschicht. 

Serap Güler ergänzte, dass die Türken auch vor Erdogan überwiegend autoritäre Verformungen der Demokratie, dazu mehrere Militärdiktaturen kennengelernt hätten. Weshalb sie Erdogans zunehmende Allmachtsallüren nicht so exzeptionell empfänden.

Aladin El-Mafaalani relativierte, dass soziologische Studien den Umschwung der deutschtürkischen Migranten weg von ihrer starken Verbundenheit zu Deutschland und hin zur Türkei nicht auf die Sirenengesänge Erdogans in Köln 2008 datierten. Es waren Sarrazin und die Aufdeckung der NSU-Morde in 2010/2011, zumal hier auch These, diese Morde könnten von deutschen staatlichen Stellen vielleicht gar gewollt gewesen sein, Anklang fand.

Doppelte Staatsbürgerschaft, Erdogans langer Arm und konkrete Hilfsprojekte

Jörg Stüdemann

Die anschließende Diskussion mit dem Publikum zeigte, dass die drei Diskutanten und Moderator El-Mafaalani mit ihren Einschätzungen den richtigen Ton getroffen hatten. Es ging noch um die doppelte Staatsbürgerschaft – immerhin kann man hier wählen. 

Eine Erdogan-Kritikerin beklagte, dass sie und ihre politischen Freunde vom deutsch-türkischen Erdogan-Lager zunehmend angefeindet und von den deutschen Stellen nicht ausreichend geschützt würden.

Stadtdirektor Stüdemann fragte, was denn die drei deutschtürkischen Aufsteiger aus ihren wichtigen neuen Positionen heraus nun konkret für die Migranten unternehmen würden. Sie verwiesen auf einige Projekte und das dichte Hilfsnetzwerk, doch eigentlich war dafür an diesem Abend nicht mehr die Zeit. 

Vielleicht einmal bei einem der nächsten Talks im DKH, mit Praktikern vor Ort? 

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