„Alarmierende Zahlen“ rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt

„BackUp NRW“ und die „Opferberatungsstelle Rheinland“ stellen die Jahresbilanz 2022 vor

Die Jahresbilanz 2022 zu rechts motivierten Straftaten. Grafik: „BackUp NRW

Erst kürzlich zog der Verfassungsschutz in einem Bericht Bilanz zu rechtsextremen Straftaten des vergangenen Jahres. Nun veröffentlichten auch die Opferberatungsstellen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt „BackUp NRW“ und die „Opferberatungsstelle Rheinland“ ihre Zahlen zu 2022. Diese verdeutlichen, dass die Fachberatungsstellen im Gegensatz zu den behördlichen Zahlen einen immensen Anstieg rechtsmotivierter Gewalttaten für das Jahr 2022 erfassten. 

Verfassungsschutz verzeichnet Rückgang von rechtsextremen Gewaltdelikten

Im Jahr 2022 verzeichnete der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz 3.545 Rechtsextremist:innen, von denen 1.900 Personen als gewaltorientiert eingeschätzt wurden. Sowohl die Anzahl der vom Verfassungsschutz beobachteten Rechtsextremist:innen, als auch die Anzahl gewaltaffiner Mitglieder der Szene sank im Vergleich zum Vorjahr. Die Zahl der nordrhein-westfälischen Rechtsextremist:innen lag 2021 bei 3.875, von denen 2.000 als gewaltorientiert eingestuft wurden.

Einen Zuwachs von rund zehn Prozent verzeichnete der Verfassungsschutz im Bereich der rechtsmotivierten Kriminalität. Während 2021 noch 3.135 Straftaten verzeichnet wurden, stieg die Anzahl im vergangenen Jahr auf 3.453. Rückläufig hingegen ist die Zahl der verübten Gewaltdelikte. Erfasst wurden im Jahr 2022 117 rechtsmotivierte Gewalttaten, vier Straftaten weniger als im Vorjahr. 

Innenminister Herbert Reul schätzte den insgesamt zu verzeichnenden Rückgang im April 2022 jedoch keinesfalls als „Entwarnung“ ein, denn der menschenverachtende Rechtsextremismus sei „die größte extremistische Bedrohung für unsere Demokratie.“

Opferberatungsstellen verzeichnen deutlichen Zuwachs von rechts motivierten Körperverletzungen

Die Fachberatungsstellen dokumentieren einen Anstieg rechter Angriffe. Grafik: „BackUp“ und „OBR“

Die „Opferberatungsstelle Rheinland“ (OBR) und die nordrhein-westfälische Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt „BackUp NRW“ dokumentierten einen enorm starken Anstieg rechter Übergriffe: Im Vergleich zum Jahr 2021 stieg die Anzahl rechter Angriffe um 74,2 Prozent. Während im Vorjahr 213 rechtsmotivierte Angriffe mit 339 direkt betroffener Menschen erfasst wurden, lag die Zahl im Jahr 2022 bei 371 Angriffen mit 501 betroffenen Personen. 

Für das Jahr 2021 registrierten „OBR“ und „BackUp“ insgesamt 158 Körperverletzungsdelikte, davon eine versuchte Tötung, 69 gefährliche Körperverletzungen und 88 einfache Körperverletzungen. Im Jahr 2022 stieg die erfasste Zahl auf insgesamt 205 Körperverletzungen, davon drei versuchte Tötungen/schwere Körperverletzungen, 74 gefährliche Körperverletzungen und 128 einfache Körperverletzungen. 

Um die Gewalt zu verdeutlichen nennen „BackUp“ und „OBR“ in ihrer gemeinsamen Pressemitteilung konkrete Fälle, wie den Angriff in einem Zug am 8. Oktober 2022. „Drei Fans geben im Zug rechte Parolen und Volksverhetzung von sich. Mehrere andere Fans fordern sie daraufhin auf, dies zu unterlassen. Sie werden von den drei Fans angegriffen, unter anderem mit Schlägen gegen den Kopf“, informieren die Fachberatungsstellen. 

Akribische Unterscheidung der Tatmotivationen rechter Angriffe

Die Grafik zeigt die Tatmotivationen der verzeichneten Angriffe. Grafik: „BackUp“ und „OBR“

Von den insgesamt 371 verzeichneten Fällen im Jahr 2022 waren laut „BackUp“ und „OBR“ 209 (56,3 Prozent) rassistisch motiviert. 50 Übergriffe (13,5 Prozent) richteten sich gegen politische Gegner:innen, unter anderem Journalist:innen und politische Verantwortungsträger:innen.

In 47 Fällen (12,7 Prozent) stellten die Fachberatungsstellen queerfeindliche Motive fest. Antisemitische Hintergründe ermittelten „BackUp“ und „OBR“ in 21 Fällen (5,7 Prozent). Acht Angriffe (2,2 Prozent) erfolgten aufgrund einer sozialdarwinistischen Tatmotivation, drei (0,8 Prozent) aus einem ableistischen Motiv heraus.

Angriffe auf Menschen, die keiner der Kategorien eindeutig zugeordnet werden konnten, von den Angreifer:innen jedoch als nicht-rechts gelesen wurden, beliefen sich im Jahr 2022 auf drei. Bei 28 rechten Angriffen (8,1 Prozent) konnten die Beratungsstellen keine genauere Einordnung der Tatmotivation zuordnen. 

Rassismus bleibt weiterhin häufigstes Tatmotiv rechter Angriffe 

Die Botschaft war klar - der Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus muss weitergehen. Foto: Leopold Achilles
Viele Menschen stellen sich gegen Rassismus – und können damit selbst zur Zielscheibe werden. Leopold Achilles | Nordstadtblogger

Bestehen als häufigstes Tatmotiv bleibt also der Rassismus – auch wenn der Anteil rassistisch-motivierter Angriffe schon im dritten Jahr insgesamt abnimmt. Bei näherer Betrachtung der einzelnen rassistisch-motivierten Delikte fällt vor allem auf, dass es sich häufiger um Körperverletzungen handelt als in anderen Phänomenbereichen. 

Von den 209 dokumentierten rassistisch-motivierten Angriffen handelte es sich bei 132 Fällen um Körperverletzungsdelikte. Damit machen Körperverletzungen 63,2 Prozent der verzeichneten rassistischen Angriffe aus. 

„BackUp“ und „OBR“ betonen dabei, dass Rassismus als gesamtgesellschaftlichen Phänomen keine Randständigkeit aufweise und rassistische Angriffe daher keinesfalls nur durch organisierte Rechtsextremist:innen verübt würden. Besonders betroffen von rassistischen Übergriffen seien zudem Menschen, die aufgrund sichtbarer Merkmale russifiziert würden oder sich offen gegen Rassismus positionierten. 

Antisemitische Gewalt nimmt seit 2017 kontinuierlich zu

In Bezug auf antisemitische Angriffe verzeichneten die Fachberatungsstellen im Vergleich zu den Behörden einen Zuwachs von 12 Taten im Jahr 2021 auf 21 Taten im Folgejahr. Einen besonders hohen Anteil machten mit 47,6 Prozent dabei Bedrohungs- und Nötigungsdelikte aus.

Polizeischutz vor der Synagoge - für die jüdische Gemeinde in Dortmund Alltag. Foto: Alex Völkel
Polizeischutz vor der Synagoge – für die jüdische Gemeinde in Dortmund Alltag. Foto: Alexander Völkel für die nordstadtblogger.de

Die Beratungsstellen dokumentierten auch Fälle von antisemitisch motivierten einfachen und gefährlichen Körperverletzungen, Brandstiftung und sonstigen Gewalttaten, wie beispielsweise die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat. Zudem beobachten die Beratungsstellen seit 2017 einen kontinuierlichen Anstieg antisemitisch motivierter Gewalttaten.

Magdalena Lentsch von „BackUp NRW“ sieht in den jüngsten Ereignissen eine weitere Zuspitzung der Bedrohungslage durch antisemitische Gewalttaten: „Der vereitelte rechtsterroristische Anschlag auf das Don-Bosco Gymnasium und die Realschule Borbecker Schloss in Essen, die Schüsse auf das frühere Rabbinerhaus an der alten Synagoge in Essen, der Molotow-Cocktail-Angriff auf die Hildegardis-Schule in Bochum in derselben Nacht, der geplante Brandanschlag auf die Synagoge in Dortmund – diese Fälle zeigen die mörderische Dimension rechter Ideologie. Sie zeigen eine reale Gefahr auf – und haben damit das Potential, das Sicherheitsempfinden und die Sicherheit ganzer Gruppen und Gemeinden massiv zu schädigen.“ 

Vermehrt queerfeindliche Angriffe aus Kleingruppen heraus

Die Opferberatungsstellen in NRW registrierten für das Jahr 2022 47 Fälle queerfeindlicher Gewalt. Dazu werden Angriffe gezählt, in denen Menschen „aufgrund ihrer zugeschriebenen oder tatsächlichen sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität angegriffen werden“, informiert die Fachberatungsstelle.

Plakate wie dieses machten beim CSD auf den kurz zuvor verstorbenen Malte C. aufmerksam.
Plakate wie dieses machten beim CSD auf den kurz zuvor verstorbenen Malte C. aufmerksam. Paulina Bermúdez | Nordstadtblogger

Auffallend ist in Bezug auf LQBTQIA+ feindliche Angriffe, dass diese in 21 der 47 erfassten Fällen durch zwei oder mehrere Täter:innen verübt wurden. Die meisten Angriffe erfolgten zudem im öffentlichen Raum auf Personen, die durch Regenbogenfahnen ihre Zugehörigkeit oder Solidarität mit queeren Menschen ausdrückten oder sich an queeren Orten aufhielten.

Besonders hervorheben möchten die Beratungsstellen den Tod von Malte C., der im Rahmen des CSD in Münster transfeindlich angegriffen wurde und in Folge seiner Verletzungen kurze Zeit später im Krankenhaus verstarb. In der Tatsache, dass es sich bei den Täter:innen häufig um junge Menschen handelte, sehen die Beratungsstellen ein Indiz dafür, „wie weit feindliche Einstellungen gegenüber Menschen, die geschlechter- und Sexualitätsnormen der Dominanzgesellschaft in Frage stellen, verbreitet sind.“

Ein weiterer konkreter Fall zeige zudem, wie „lückenhaft die (An-) Erkennung LGBTQIA+ feindlicher Tatmotivationen im Rahmen polizeilicher Ermittlung und juristischer Prozesse“ sei. Die Fachberatungsstellen schildern den Fall wie folgt: „ Am 25. März wird eine jugendliche trans* Frau auf einem Friedhof in Herne von einem 12-jährigen und zwei 13-jährigen Jungen massiv angegriffen und lebensgefährlich verletzt. Die Angegriffene wird erst am nächsten Morgen durch einen Spaziergänger gefunden, der die Rettungskräfte alarmiert.“ Problematisch sei diesbezüglich, dass die Polizei die Transfrau zunächst misgenderte, ihr also ein falsches Geschlecht zuschrieb, und den Angriff als „eskalierten Streit“ deklarierte. 

Situation in Dortmund gleichbleibend: 26 rechts motivierte Angriffe im Jahr 2022

Auch in Dortmund endete rechte Gewalt in der Vergangenheit bereits tödlich. Foto: Leopold Achilles

„BackUp NRW“ dokumentierte in Dortmund im Jahr 2022 26 Angriffe rassistischen, antisemitischen und rechten Ursprungs. Darunter fallen Gewalt-, Bedrohungs- und Nötigungsdelikte. Damit ist Dortmund der nordrhein-westfälische Ballungsraum rechter Angriffe. Die Zahl der Gewaltdelikte ist gleichbleibend und belief sich im Jahr 2021 und im Jahr 2022 auf 16 Fälle.

Im vergangenen Jahr erfasste die Fachberatungsstelle vier queerfeindliche Angriffe, einen antisemitisch motivierten Angriff, fünf Angriffe gegen politische Gegner:innen, zwölf rassistische Angriffe, von denen sechs antimuslimischen Ursprungs und zwei antiziganistischen Ursprungs waren, einen Angriff gegen wohnungslose Menschen und drei Angriffe, die unter die Kategorie „Sonstige Motive“ fallen.

Zum laufenden Jahr kann die Fachberatungsstelle derzeit noch keine Auskunft geben. Sie teilte auf Anfrage jedoch mit, dass sie die aktuelle Entwicklung in der Stadt und dessen neue Ausprägungen rechter Gewalt sehr aufmerksam beobachte und alle betroffenen Menschen sich jederzeit gerne an „BackUp“ wenden können.

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